Innovation | Interview

„VR ist Anarchie“ (13. Dezember 2018)

Gayatri Parameswaran und Felix Gaedtke sind Journalisten und Filmproduzenten, die schon an vielen Orten der Welt gedreht haben. Das Besondere: Sie haben sich darauf spezialisiert, Geschichten mithilfe von Virtual Reality und 360-Grad-Videos erlebbar zu machen, um so eine Art konstruktiven Journalismus voranzutreiben. Im Message-Interview sprechen die beiden über Dreharbeiten im Irak, die Herausforderungen und Möglichkeiten von VR und den konstruktiven Ansatz ihrer Arbeit.

 

Parameswaran und Gaedtke empfangen uns im Studio ihrer Produktionsfirma NowHereMedia in Berlin – zwei Räume voller Kameras, Computer und Kabel in einem alten Industriegebäude an der Grenze zwischen Alt-Treptow und Neukölln. In ihrem aktuellen Werk „Home after War“ haben sie das vom Krieg gezeichnete Haus ihres irakischen Protagonisten Ahmaied Hamad Khalaf virtuell aufwändig nachgebaut. Der mit einer VR-Brille ausgestattete Zuschauer kann im Haus herumlaufen oder sich mithilfe eines Controllers an andere Orte im Haus teleportieren, um Ecken und aus Fenstern schauen, aufs Dach steigen und der Familie beim Essen Gesellschaft leisten. Die real wirkende Umgebung lenkt nur anfangs von der Geschichte ab, die der Protagonist erzählt. Ahmaieds Geschichte handelt von Zerstörung, Angst und Trauer, aber auch von Familie und Hoffnung.

Gayatri Parameswaran und Felix Gaedtke wollen mit ihrer Arbeit Bewusstsein und Empathie wecken. Foto: von Eisenhart Rothe

Message: Was erwartet den Zuschauer, wenn er „Home after War“ sieht?

Felix Gaedtke: Der Zuschauer hat die Möglichkeit, nach Falludscha zu kommen, dort unseren Protagonisten zu treffen und seine Geschichte zu erfahren.

Gayatri Parameswaran: Besonders dabei ist die Präsenz im Haus unseres Protagonisten. Wir haben Fotogrammetrie – eine Messmethode, um die räumliche Lage oder die dreidimensionale Form eines Objekts zu bestimmen – benutzt bei diesem Film. Dadurch kann man sich in einem virtuellen Raum bewegen. Das gibt den Zuschauern die Möglichkeit, wirklich dort zu sein. Das ist etwas Besonderes, denn der Irak und Falludscha sind keine Orte, die man häufig besucht.

Wie genau kam es zu der Idee?

Gaedtke: Das Ganze ist Teil des Programms „Oculus VR for good“. Oculus, eines der führenden Technologieunternehmen in Sachen VR, hat Filmemacher und NGOs zusammengebracht. Wir wurden mit dem GICHD gepaart, dem Geneva International Center for Humanitarian Demining. Die machen Policy Work, also inhaltliche, politische Arbeit, zu Minenräumung. Wir haben dann recherchiert und es standen verschiedene Länder und Geschichten zur Debatte. Es gibt viele Länder, die Probleme mit Minen haben, etwa Kambodscha oder Kolumbien. Eine neue Qualität stellen aber die Sprengfallen in Häusern und Wohngebieten dar, die der IS im Irak und in Syrien eingesetzt hat. Der IS wurde aus vielen Gebieten vertrieben, die Fallen blieben aber.

Parameswaran: Wir haben auch mit vielen Minenexperten gesprochen, die das, was sie jetzt im Irak und in Syrien erleben, diesen massenhaften und vor allem chaotischen Gebrauch von IEDs (Anm. d. Red.: improvised explosive device), also selbstgebastelten Sprengvorrichtungen, noch nie woanders gesehen haben.

Wie muss man sich die Planung und die Umsetzung vorstellen? Es ist ja wahrscheinlich auch für euch gefährlich gewesen, in diese Region zu fahren.

Parameswaran: Auf jeden Fall. Wir hatten von Anfang an eine lokale Produzentin. Sie hat uns ständig begleitet. Wir hatten schon im Vorfeld Kontakt zu ihr, sie hat uns viele Ratschläge gegeben. In einem Kriegsgebiet ist es sehr wichtig, jemanden vor Ort zu haben, dem du hundertfünfzigprozentig vertrauen kannst.

Gaedtke: Wir haben beide Hostile Environment Trainings und First Aid Trainings absolviert, schon für andere Projekte. Und man macht vorher auch immer Risikoanalysen, wo man sich genau überlegt: Wohin kann man gehen? Was sind die möglichen Gefahren? Wie bewegen wir uns am besten da? Wie viel Zeit braucht man einen bestimmten Ort? In Syrien haben wir zum Beispiel ganz anders gearbeitet. Dort probiert man immer die Zeit, die man an einem Ort ist, zu minimieren, weil du damit das Entführungsrisiko senkst. Bei diesem Projekt ging das nicht, weil wir jeden Tag im gleichen Haus gearbeitet haben.

Habt ihr euch manchmal unsicher gefühlt?

Parameswaran: Wir hatten einen Militärkonvoi, der uns immer begleitet hat. Abends haben die immer Druck gemacht, bei Sonnenuntergang wollten sie zurückfahren. Weil es noch IS-Schläferzellen in Falludscha gibt, es ist noch nicht ganz sicher. Wir haben immer ein bisschen verhandelt, zehn Minuten noch, zwanzig Minuten noch (lacht).

Also wart ihr so drin im Projekt, dass das Militär mehr Angst hatte als ihr?

Gaedtke: Naja, die haben das mehr im Blick. (lacht)

Parameswaran: Eine weitere Gefahr waren die Sprengfallen selber. Man durfte nur den Spuren der vorfahrenden Autos folgen. Zwischen den Spuren hat man die Auslöserplatten der Minen gesehen.

Gaedtke: Was ich persönlich am schwierigsten fand war aber gar nicht unbedingt die Gefahr an sich, sondern die Hoffnung, die Leute in einen setzen, wenn du Interviews mit ihnen führst. Wir haben viele Leute getroffen, die selbst Opfer sind oder Angehörige verloren haben. Für die ist es ein großes Ventil, mal mit jemandem zu sprechen. Weil da nie jemand gekommen ist und sich um die gekümmert hat, sei es vom Staat oder von den Medien. Deshalb projizieren sie wahnsinnig viel Hoffnung in deinen Besuch. Das ist eine Verantwortung, der man so direkt gar nicht gerecht werden kann, weil so eine Geschichte ja nicht zwangsläufig was für die eine Familie direkt bewirkt, sondern die Hoffnung auf Veränderung eher etwas Abstraktes ist.

Was muss man beachten, wenn man eine Geschichte in Virtual Reality erzählt? Was ist der Unterschied zum normalen Dokumentarfilm?

Parameswaran: Es gibt zum Beispiel eine Explosion in „Home after War“. Für mich war es eine schwierige Frage, wie man die zeigen sollte. Wir haben lange überlegt und uns schließlich dazu entschieden, sie nicht direkt zu zeigen. Erstens, weil das sehr stark auf Menschen wirken kann, die die Brille aufhaben und den Film sehen. Zweitens könnte das sehr schnell geschmacklos wirken, weil wir so ein ernstes Thema behandeln. Ich glaube, dass es gerade bei Virtual Reality eine wichtige Frage ist, wie viel man dem Publikum zumuten kann. Meine Regel ist: Weniger ist mehr, nur um sicherzugehen. Als Storyteller verlangt man schon viel von seinem Publikum: Sie müssen eine Brille aufsetzen und einen Controller benutzen, sich in eine fremde Situation begeben. Sie darüber hinaus noch gewaltsamen Szenen auszusetzen, das wäre zu viel für mich. An dieser Stelle muss man als Journalistin eine ethische Linie ziehen. Wir haben uns so entschieden, aber jeder Journalist oder Storyteller hat das Recht, diese Grenze für sich selbst zu ziehen. Denn manche könnten sehr gute Gründe dafür haben, ihr Publikum sehr unbequemen Situationen auszusetzen.

Felix Gaedtke ist deutscher Filmproduzent, Fotograf und Multimedia-Journalist. Als freier Journalist und Dokumentarfilmer hat Gaedtke unter anderem bereits für Al Jazeera English, Deutsche Welle und das ZDF gearbeitet. Der Fokus seiner Arbeit liegt auf sozialen, politischen und kuluturellen Aspekten. Gaedtke ist Mitgründer des Berliner VR-Produktionsstudios NowHere Media und ist spezialisiert auf das immersive und virtuelle Storytelling mittels Dokumentarfilm, Fotografie und Journalismus. Foto: Gaedtke

Gaedtke: Pauschal ist es gar nicht so einfach, was VR Storytelling vom klassischen Dokumentarfilm unterscheidet. Erst mal kommt es darauf an, was für eine Technik man verwendet. Wir haben ja Fotogrammetrie und 360-Grad-Videos benutzt. Bei beiden ist es wichtig, dass man die Räumlichkeiten immer mitdenkt, weil der Raum Teil der Geschichte ist. Man muss auch auf eine gewisse Art und Weise Kontrolle abgeben. In einem Dokumentarfilm schneide ich Bild an Bild, Frame an Frame, ich bin Gott. Ich entscheide, was du siehst. Wenn man es zugespitzt sagen will: Filmemachen ist Faschismus , VR ist Anarchie. Beim einen bestimme ich alles, beim anderen kann ich gar nicht viel bestimmen, sondern gebe Leuten einen Raum und schaue dann, wie sie damit umgehen. Wir hatten sicher fünfzig Leute zum Testen hier und haben immer wieder gemerkt, dass irgendetwas nicht so funktioniert, wie wir uns das gedacht haben. Außerdem ist das Publikum völlig unterschiedlich. Junge Leute, die schon mal Computerspiele gespielt haben, können ganz anders damit umgehen als zum Beispiel mein Vater, der völlig verwirrt ist und nicht weiß, was er da macht. Darauf muss man sich auch einstellen. Das coole an VR ist die Möglichkeit, non-lineare Geschichten zu erzählen und dass die Leute selber ihre Geschichte bauen.

Welche Möglichkeiten bieten sich dem Publikum da bei „Home after War“?

Gaedtke: Ich finde es sehr spannend, dass Leute immer Sachen im Haus finden, die für jeden individuell etwas anderes bedeuten. Wenn mir jemand sagt: „Hey, diese komische Mikrowelle ist genau die gleiche, die meine Oma in der Küche hat“, dann hat er eine krasse Beziehung zu der Geschichte und zu dem Ort wegen so eines eigentlich unwichtigen Details.

Ihr habt die besondere Gefahr von expliziten Darstellungen angesprochen. Kann man also in VR weniger zeigen als in einem normalen Film?

Parameswaran: Es ist schwierig, das so generell zu sagen. Wenn man das erste Mal VR erlebt, hat das etwas Überwältigendes. Es gibt Forschung dazu, dass in VR Erlebtes im Gehirn wirklich als Erlebnis abgespeichert wird, nicht als Erinnerung. Man nimmt es also ganz anders wahr als einen Film. Das darf man als Storyteller nicht vergessen, man muss sensibel sein. Gleichzeitig gibt es aber keine festen Regeln. Wir sind in einer Phase, in der sich das Medium erst noch formt. Vielleicht würde man diese Frage in fünf oder zehn Jahren ganz anders beantworten, weil das Publikum sich an VR gewöhnt hat. Das erste Mal, als Menschen in einem Kino saßen und auf der Leinwand einen Zug auf sich zufahren sahen, haben sie panisch das Kino verlassen, weil es auf sie so realistisch wirkte.

Ihr gebt euren Projekten das Label „Constructive Virtual Reality“. Was bedeutet konstruktiver Journalismus für euch?

Gaedtke: Ganz grundsätzlich: Dass es problematisch ist, wenn man die Welt nur als etwas Negatives empfindet. Dieser „negative news bias“, dieses Gefühl, dass wir alle den Kopf in den Sand stecken können, bringt uns nicht weiter. Ich bin überzeugt davon, dass es helfen kann, wenn man Lösungsansätze oder auch Hoffnung zeigt. Ob „Home after War“ jetzt so super konstruktiv ist, sei mal dahingestellt. Aber am Ende haben wir ein Zitat von unserem Protagonisten, wo man sieht, dass er Hoffnung hat für die Welt und was er sich wünscht. Und da habe ich immer das Gefühl, wenn jemand noch Hoffnung hat, der zwei Söhne verloren hat, der wirklich kein einfaches Leben hat, wer sind dann wir, keine Hoffnung zu haben? Aktuell arbeiten wir an einem Projekt zu Kinderarmut. Eine Protagonistin kommt aus einer schwierigen Familie, die Eltern sind drogenabhängig, sie ist immer wieder zwischen Vater und Mutter hin und her umgezogen, zig Jugendämter sind involviert. Aber sie ist in einem Kinderzirkus, der ihr wahnsinnig viel gibt. Und es ist so schön zu sehen, dass man so eine Geschichte erzählen und sagen kann: Es ist nicht nur alles schlimm, sondern sie ist auch positiv, lacht, hat eine gute Zeit und findet ihren Weg. Das soll nicht heißen, dass man nicht beschreibt, was für ein Riesenproblem sie hat.

Bei eurem Vortrag auf der diesjährigen re:publica in Berlin habt ihr gesagt, dass es euch wichtig ist, Bewusstsein und Empathie zu wecken, aber auch betont, dass konstruktiver Journalismus für euch auf keinen Fall aktive Fürsprache für eine Sache bedeutet. Wie schmal ist der Grat zwischen diesen beiden Dingen?

Parameswaran: Ich glaube es geht darum, die ganze Realität im Blick zu behalten. Nur weil man eine

Gayatri Parameswaran ist VR- und 360-Grad-Film Produzentin sowie freie Journalistin aus Indien, lebt aktuell aber in Berlin. Unter anderem arbeitete sie bereits für Al Jazeera Englisch, Radio Netherlands Worldwide oder The Carvan. Parameswarans Arbeit fokussiert sich auf den Erhalt und den Einsatz für Menschenrechte. Die freie Journalistin konzentriert sich dabei auf Geschichten aus Ländern, über die keine regelmäßige Berichterstattung stattfindet. So beispielsweise Hexenjagdt in Indien oder die Transgender Community in Nicaragua. Parameswaran ist Mitgründerin des Berliner VR-Studios NowHere Media. Foto: Gaedtke

mögliche Lösung aufzeigt, propagiert man noch kein Produkt oder eine bestimmte Art und Weise, etwas zu tun. Es geht darum, das ganze Bild zu zeichnen. Nehmen wir unser aktuelles Projekt als Beispiel: Alles hat mit der Statistik angefangen, dass jedes dritte Kind in Berlin auf Hartz IV angewiesen ist. Das ist schockierend. Da können wir ansetzen und zeigen, wie schlimm es ist. Gleichzeitig stößt man bei der Recherche aber auch auf viele Initiativen, die tolle Sachen machen, um den Kindern zu helfen. Wenn man also nur darüber spricht, dass jedes dritte Kind arm ist, aber die Hilfe verschweigt, die ihnen geboten wird, dann spricht man nicht über die ganze Wahrheit.

Gaedtke: Um den Bogen zu VR zu schließen: Wir leben alle in unserer eigenen Realität. Jeder von uns hat seine Wahrnehmung von der Umgebung. Aber wenn wir es schaffen, da ein bisschen mehr Austausch hinzubekommen, dass man sich ein bisschen mehr in eine andere Realität reinfühlen kann, kann das meiner Meinung nach sehr viel bringen.

Ihr habt euer aktuelles Projekt zu Kinderarmut in Berlin schon kurz angeschnitten. Wie wollt ihr diese Geschichte erzählen?

Parameswaran: Wir haben hauptsächlich mit 360-Grad-Videos gearbeitet, wollen aber eine Interaktivität innerhalb des 360-Grad-Storytellings erschaffen. Es wird also keine passive Erfahrung, wie es die meisten 360-Grad-Videos bisher sind. Ich freue mich sehr darauf, in der Testphase herauszufinden, was funktioniert, wie man das Publikum involvieren kann, indem jeder seine eigenen Erzählstränge wählt.

Glaubt ihr, dass VR-Geschichten für den Journalismus immer wichtiger werden?

Gaedtke: Ja, ich glaube schon. Das Problem ist, dass es noch nicht genug VR-Devices gibt und dass die ganzen Brillen, die es schon gibt, eigentlich scheiße sind. Niemand hat wirklich Lust, die zu benutzen. Aber es ist nur eine Frage der Zeit, bis es da quasi das iPhone der VR-Brillen gibt. Außerdem glaube ich, dass VR in der öffentlichen Wahrnehmung oft etwas ist, wo es darum geht, aus der Realität in eine Fantasiewelt zu entfliehen. Aber dass man das eben auch nutzen kann, um Realitäten zu teilen und zu erfahren, was andere Realitäten für die eigene bedeuten können, wird noch zu wenig gesehen.

Die Fragen stellten Tim van Olphen und Yannick von Eisenhart Rothe

Interview | Recherche

„Steile Lernkurve“ (10. Juli 2018)

Jörg Schmitt, Koordinator Investigativ beim Nachrichtenmagazin Der Spiegel, erklärt im Interview, warum das Magazin erst im vergangenen Jahr ein eigenes Investigativ-Team aufbaute, was grenzüberschreitende Recherche mit der Globalisierung zu tun hat und warum die Zeit der einsamen Wölfe im Recherche-Journalismus vorbei ist. Schmitt war zu Gast an der Universität Hamburg im Rechercheseminar von Message-Mitherausgeber Volker Lilienthal.

 

Der Spiegel ist seit vielen Jahren für seine investigativen Recherchen und Enthüllungen bekannt. Doch erst im September des vergangenen Jahres hat sich das Magazin dazu entschieden, ein eigenes Investigativ-Team aufzubauen. Warum fiel die Entscheidung erst so spät?
Schmitt: Die Frage, ob Der Spiegel ein Investigativ-Team braucht, haben wir in unserem Haus immer wieder diskutiert und zwar nicht nur unter der jetzigen Chefredaktion, sondern auch unter der Chefredaktion von Georg Mascolo und Stefan Aust. Dagegen sprach lange Zeit, dass sich das Magazin als Inbegriff der investigativen Recherche versteht und wir die investigative Recherche quasi in unserer DNA tragen. Die Kollegen sollten über alle Ressorts hinweg investigativ arbeiten und es bestand die Sorge, dass durch die Gründung eines Investigativ-Teams diese intensive Recherche zurückgefahren würde.

Jörg Schmitt arbeitet seit mehr als 15 Jahren beim Nachrichtenmagazin Der Spiegel und gehört zu den erfahrensten Rechercheuren in Deutschland. Der gebürtige Marburger studierte Journalistik, Wirtschaftspolitik und Jura in München. Nach Stationen beim stern und dem Manager Magazin kam er 2003 zum Spiegel, wo er mittlerweile als „Koordinator Investigativ“ arbeitet. Seine Spezialgebiete sind Wirtschaftskriminalität und Korruption. Schmitt enthüllte zahlreiche Affären im Bereich Industrie, Finanzen, Rüstung, Politik und im Sport. Dafür gewann er unter anderem den Henri-Nannen- und den Otto-Brenner-Preis. Zuletzt sorgten die Enthüllungen um die Football Leaks, AIRBUS und den Weißen Ring in Lübeck für Aufsehen.

Doch mittlerweile hat sich die Medienwelt enorm verändert. Immer mehr Medien setzen auf die investigative Recherche, damit ist auch der Konkurrenzdruck größer geworden. Darauf haben wir reagiert. Ziel war es, die investigativen Kräfte in unserem Haus stärker zu bündeln und die Kommunikation untereinander zu stärken. Es kam nämlich immer mal vor, dass Kollegen aus den verschiedenen Ressorts an derselben Geschichte saßen und keine Ahnung voneinander hatten. Zum zweiten wollten wir internationale Allianzen schließen und letztlich auch nach außen sichtbar machen, dass das Magazin großen Wert auf investigative Geschichten legt. Ich glaube, die Rechercheergebnisse des ersten Jahres zeigen, dass das eine sinnvolle Entscheidung war.

Viele sagen, dass die Recherche im Journalismus der Qualitätstreiber schlechthin ist. Würden Sie dieser Aussage zustimmen?
Viele Medien haben in den letzten Jahren an Bedeutung verloren und versuchen, über die Recherche diesen Bedeutungsverlust zu mindern. Das ist meiner Meinung nach ein richtiger Ansatz, aber immer wieder fällt auch auf, dass neugegründete investigative Ressorts mehr oder weniger Lippenbekenntnisse waren. Es kommt auch immer wieder vor, dass Medien Geschichten als exklusiv und wahnsinnig wichtig verkaufen, obwohl die eigentlich ein alter Hut sind. Jede kleine Geschichte gleich zum Mega-Skandal hochzuschreiben schadet uns allen – und spielt nur jenen in die Hände, die heute schon alle Medien als „Fake News“ verleumden. Grundsätzlich trägt die Konzentration auf investigative Geschichten aber eindeutig zur Qualitätssteigerung fast aller Medien bei.

Welche Veränderungen und Herausforderungen bringt diese intensivierte Recherche in den Medienhäusern, gerade auch mit Blick auf Datenleaks, mit sich?
Bei Enthüllungen wie den Football Leaks ist die Menge an auszuwertendem Material enorm gestiegen. Heutzutage bekommen Redakteure einen Stick, der ist so groß wie ein Daumen und beinhaltet gleich Zehntausende von Dokumenten. Da sind natürlich meist sehr viel spannende Inhalte dabei, aber ein großer Teil ist eben auch uninteressant. Wir nutzen dafür inzwischen eine Software, die auch bei Ermittlungsbehörden zum Einsatz kommt. Bei den Football Leaks handelte es sich beispielsweise um 1,8 Gigabyte an Daten und die beinhalteten etwa 18 Millionen Dateien, die wir auswerten mussten. Dabei stellt sich natürlich die Frage, wie man es schafft, aus diesen Dateien, die völlig unterschiedliche Themen abdecken, die wirklich starken Geschichten zu finden. Dafür braucht es mittlerweile solche Tools und mit diesen muss man auch umgehen können. So kommt man dann über bestimmte Suchmechanismen auf die richtige Fährte. Beispielsweise indem man bestimmte Suchbegriffe miteinander kombiniert. In diesem Bereich haben wir beim Spiegel in den letzten Jahren eine ganz steile Lernkurve vollzogen.

Schmitt im Gespräch mit Message-Herausgeber Volker Lilienthal.


Investigativer Journalismus ist natürlich immer auch Enthüllungsjournalismus und versucht Missstände und Fehlentwicklungen in Politik Wirtschaft und Gesellschaft aufzudecken. Zuletzt haben Sie auch Missstände im Sport publik gemacht. Sind solche Enthüllungen nach wie vor wirkungsvoll?
Ich glaube der Deutsche Fußball-Bund (DFB) hat mittlerweile eindeutig verstanden, dass er Anfragen unseres Magazins sehr ernstnehmen muss. Politik und die Wirtschaft haben den investigativen Journalismus, den der Spiegel hervorgebracht hat und hervorbringt, immer schon ernstgenommen. Doch mittlerweile ergreifen viele Akteure Gegenmaßnahmen und es werden Agenturen beauftragt, um Enthüllungen abzuwehren. Für so etwas werden mittlerweile hochbezahlte Strategen engagiert. Damit müssen wir umgehen und solche Reaktionen kontern, indem wir schneller sind und immer auch weitere Argumente und Beweise liefern können. Daher gehen wir an viele Geschichten strukturierter und geplanter heran, als das vor 15 oder 20 Jahren der Fall war. Das betrifft auch die Vermarktung. Bei der Medienschwemme heutzutage werden Geschichten nur noch dann wahrgenommen, wenn man sie entsprechend orchestriert. Auch das haben wir erst lernen müssen.

Es gibt Richter, die Medien allem Anschein nach im sprichwörtlichen Sinne hassen

Immer wieder wird gegen Enthüllungen auch gerichtlich vorgegangen. Wie gehen Sie mit juristischen Verfahren um und wie viel Kraft kosten solchen Auseinandersetzungen?
Wir arbeiten sehr sauber und überprüfen die Geschichten vor der Veröffentlichung akribisch. Jeder hat das Recht, sich gegen Berichterstattung zu wehren, aber es gibt dabei Entwicklungen, die ich für sehr problematisch halte. Ein großes Problem ist der sogenannte fliegende Gerichtsstand. Das heißt, jeder kann im Prinzip Medienhäuser verklagen, wo immer er mag. Demnach suchen sich die Konzerne und andere betroffene Akteure immer die Gerichte aus, bei denen mit dem größten Erfolg gerechnet wird. Es gibt Richter, die Medien allem Anschein nach im sprichwörtlichen Sinne hassen, und so kassiert man dann sehr schnell eine einstweilige Verfügung, ohne dass der Redaktion die Möglichkeit gegeben wird, Argumente und Beweise vorzutragen. Das halte ich teilweise für einen Verstoß gegen das Grundgesetz. Wir haben zum Glück eine sehr gute Rechtsabteilung, die darauf vorbereitet ist, aber für freie Journalisten erschwert diese Art der Verrechtlichung die Arbeit enorm.

Der Beruf des investigativen Journalisten ist sehr speziell. Handelt es sich dabei häufig um einsame Kämpfer oder haben sich die Arbeitsweisen mittlerweile verändert?
Früher waren investigative Journalisten Einzelkämpfer. Heute gibt es kaum noch Rechercheure, die als einsamer Wolf Geschichten nachjagen. Investigativer Journalismus ist in den letzten zehn Jahren ganz klar ein Mannschaftssport geworden. Man braucht inzwischen Teamplayer und sollte auf Egoisten und Einzelgänger lieber verzichten. Das liegt auch daran, dass die Themen heute deutlich komplexer sind. Um ein Thema umfassend recherchieren zu können, brauchen Sie Spezialisten aus verschiedenen Bereichen. Als wir im vergangenen Jahr eine große Enthüllung über Korruptionsvorwürfe bei Airbus veröffentlich haben, waren wir auf unterschiedliche Experten angewiesen. Wir brauchten einen Luftfahrtexperten, einen Wirtschaftsexperten, der sich mit Fluglinien auskennt, und jemanden, der perfekt Französisch spricht. Bei anderen Projekten müssen Sie große Datenmengen auswerten, dann brauchen Sie Datenspezialisten und auch jemanden, der am Ende alle Ergebnisse sauber und interessant aufschreiben kann. Das Berufsbild des Journalisten und insbesondere des investigativen Journalisten ist sehr viel arbeitsteiliger geworden und erfordert heute deutlich mehr Teamarbeit als früher. Das heißt aber auch, dass sie lernen müssen Informationen zu teilen. Das fällt nicht immer leicht. Doch die Zeit der einsamen Wölfe ist vorbei.

Die Zeit der einsamen Wölfe ist vorbei

Viele Geschichten werden mittlerweile auch über Grenzen hinweg recherchiert, weil die Handlungen immer internationaler werden und Themen oftmals mehrere Länder betreffen. Wie reagiert Der Spiegel auf diese Entwicklung?
Wir haben das europäisches Netzwerk European Investigative Collaborations (EIC) gegründet. Printmedien aus mehr als zehn Ländern sind daran mittlerweile beteiligt. Ziel war es, einen kleinen Kreis aus Printmedien, die jeweils in einem europäischen Land vertreten sind, einzubeziehen. Zu den Partnern gehören unter anderem Le Soir aus Belgien, Politiken aus Dänemark und El Mundo aus Spanien. Dabei setzen wir auf volle Transparenz nach innen und vertrauen unseren Partnern. Wöchentlich gibt es eine Videokonferenz, wo wir über neue Recherchen sprechen. Über eine verschlüsselte Plattform können wir Dokumente austauschen. Aber wir helfen uns auch gegenseitig bei Recherchen, an denen nicht alle Partner beteiligt sind – und die beispielsweise nur zwei oder drei Länder betreffen.

Sind diese neuen internationalen Recherchenetzwerke also als eine Antwort auf die Globalisierung zu verstehen?
Ja, und ich glaube, dass es die richtige Antwort ist, denn so wie wir in Deutschland sehr gute Zugänge zu vertraulichen Informationen haben, so haben andere Medien wertvolle Zugänge in ihren Ländern. Sie können Quellen, die ihr Land betreffen, außerdem deutlich besser einschätzen als wir. Aber mit den neuen Rechercheverbünden komme auch neue Probleme auf die Medienhäuser zu. In den Staaten gibt es unterschiedliches Medienrecht. Sie können in Deutschland Dinge behaupten, die man in England zum Beispiel nicht behaupten darf. Auch was das Persönlichkeitsrechts angeht, gibt es unterschiedliche Rechtsauffassungen. Bei Kooperationen wird man daher plötzlich mit juristischen Problematiken konfrontiert, die man als einzelnes Medium, das nur in einem Land publizieren will, nicht hätte. Dennoch lohnt sich die grenzübergreifende Zusammenarbeit enorm. Die erste Geschichte des EIC drehte sich im Jahr 2015 um den internationalen Handel mit gebrauchten Schusswaffen und um die Herkunft jener Waffen, die bei den islamistischen Anschlägen in Paris und Kopenhagen verwendet wurden. Seither sind gut ein Dutzend Geschichten gefolgt. Die bekannteste war sicher Football Leaks.

Informantenschutz war und ist ein heikles Thema. Die digitale Surveillance ist vermutlich omnipräsent. Herausgekommen ist auch, dass Telefonate von Spiegel-Redakteuren mit einem hochrangigen Informanten abgehört wurden. Wenn nicht mal mehr das Fernmeldegeheiminis gilt – was kann man Whistleblowern dann noch an Schutz versprechen?
Man kann einige Vorkehrungen treffen, um Informanten und Informationen hinreichend zu schützen. Das hängt aber immer auch davon ab, über welche Themen berichtet wird. Also man sollte sich natürlich nicht in der DFB-Kantine mit einer DFB-Quelle treffen. Das ist ganz klar. Aber ich glaube, man muss immer abschätzen, um welche Gefährdungsstufe es sich handelt und dann seine Werkzeuge danach ausrichten. Wir arbeiten bei wichtigen Telefonaten und Mails immer mit Verschlüsselungen und treffen Informanten bei besonders brisanten Themen an geheimen Orten. Denn eines ist klar: Das oberste Gebot des Spiegel ist und bleibt der Schutz unserer Quellen.

Wie schaffen Sie es, einen Informanten dazu zu bringen, sich Ihnen zu offenbaren?
Ganz wichtig ist es, ein gutes Vertrauensverhältnis zu den Informanten aufzubauen. Das geht immer auch über das Geben und Nehmen von Informationen. Außerdem ist die Vorbereitung auf ein Gespräch nicht zu unterschätzen. Sie sollten hundertprozentig im Thema sein und dem Informanten damit zeigen, dass Sie der richtige Ansprechpartner sind.

Da wird zwar auch immer noch geschmiert, aber es wird trickreicher und professioneller gemacht.

Dem Thema Sport haben Sie sich in den letzten Jahren ganz intensiv gewidmet. Da gibt es die Berichterstattung über die WM 2016, das Sommermärchen, und jetzt zuletzt als Resultat der internationalen Kooperation, die Geschichten über Ronaldo und Messi und deren Steueraffäre. Wenn man in diese Welt des Sports abtaucht, braucht es dann noch mal andere Recherchemethoden?
Sport und gerade der Fußball werden für investigative Journalisten immer interessanter. Es geht nicht mehr nur um die 1:0-Berichterstattung. Heute werden Geschichten über Doping, Wettbetrug oder Sportpolitik immer wichtiger. Und hier ist gute Recherche gefragt. Oder nehmen sie den Fußball. Da wird immer mehr Geld reingepumpt, weil die Fernsehrechte immer teurer werden und weil es mittlerweile Scheichs und Oligarchen gibt, die darin eine Chance sehen, Geld zu waschen. Damit gibt es auf der einen Seite zwar eine wahnsinnige Professionalisierung. Auf der anderen Seite herrschen aber in den Verbänden noch immer Strukturen vor, die oftmals an einen Dorfverein erinnern und durch Kungelei und Korruption geprägt sind. Dadurch machen die Betroffenen offensichtlichere Fehler, die sich leichter aufdecken lassen. Das sind Themen die jeden Rechercheur faszinieren, egal ob er sportbegeistert ist oder nicht. Dagegen wird die Enthüllung von Wirtschaftsskandalen tendenziell schwerer. In großen Konzernen gibt es mittlerweile Berater, die nur dafür engagiert sind, sich große Firmenkonstrukte auszudenken, um Geldflüsse zu verschleiern. Da beißen Sie sich häufig die Zähne aus. Und: Die großen Konzerne haben nach der Siemens-Korruptionsaffäre vor zehn Jahren eindeutig dazu gelernt. Da wird zwar auch immer noch geschmiert, aber es wird trickreicher und professioneller gemacht.

Kommen wir zur letzten Frage: Sie haben zuletzt über den Weißen Ring in Lübeck berichtet. Der Chef des Opferhilfevereins soll Hilfe suchende Frauen sexuell belästigt haben. Dabei haben Sie den vollen Namen des Beschuldigten genannt, während das in einem anderen Fall bei Belästigungsvorwürfen beim WDR zum Beispiel nicht der Fall war. Wo liegt da der Unterschied?
Darüber haben wir auch lange Zeit mit unseren Juristen diskutiert. Wir sind letztlich zu der Überzeugung gekommen, dass wir den Namen nennen können. Die Beleglage war schon erdrückend. Und wir hatten ja gut ein Dutzend Fälle.  Und selbst wenn wir den Namen nicht genannt hätten, wäre es in Lübeck und Umgebung jedem klar gewesen, wer gemeint ist. Der Vorsitzende des Weißen Rings ist bekannt wie ein bunter Hund und somit haben wir uns dazu entschieden, den vollen Namen zu nennen.

Das Interview führte Message-Herausgeber Volker Lilienthal; Redaktion: Jan-Niklas Pries 

 

Interview | Kriegsberichterstattung

„Für mich ist Syrien mehr als Krieg“ (16. Januar 2018)

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Die syrische Journalistin Zaina Erhaim gab einen Job bei der BBC auf, um in ihre kriegsgeplagte Heimat zurückzukehren. Weil sie dort aber von praktisch allen Kriegsparteien bedroht wurde, lebt die Reporterin inzwischen in der Türkei. Im Message-Interview spricht Erhaim, die 2015 von Reporter ohne Grenzen als Journalistin des Jahres ausgezeichnet wurde, über die gefährliche Ausbildung von Medienaktivisten, schlechte Erfahrungen mit ausländischen Kollegen und ihren Kampf für die Rechte von Frauen in Syrien.

Frau Erhaim, kann es nach rund sieben Jahren Bürgerkrieg eine unabhängige Berichterstattung über den Konflikt in Ihrer Heimat noch geben?
Erhaim: In Syrien selbst ist das nahezu unmöglich. Nicht einmal in den Gebieten, die von kurdischen Truppen kontrolliert werden. Diese werden zwar vom Westen unterstützt und gelten als progressiv. Aber wenn ihnen Berichte missfallen, verhaften sie die Journalisten oder schmeißen sie raus.

Wo findet man dann verlässliche Informationen?
In Exil-Medien wie der 2011 in Syrien gegründeten und seit einiger Zeit in der Türkei produzierten Zeitung Inab Baladi oder bei Syria Stories, einem Projekt des Institute for War and Peace Reporting (IWPR), für das ich arbeite.

Syria Stories ist eine Plattform, auf der Berichte über den Krieg, aber auch Geschichten aus dem Alltag in Syrien veröffentlicht werden. Wer liefert die Beiträge?
Zum Teil syrische Journalisten, aber wir trainieren auch ganz normale Bürger, damit sie aus ihrem Alltag berichten können. Ich habe bislang rund 150 Medienaktivisten ausgebildet und ihnen beigebracht, wie man recherchiert, Fragen stellt, Artikel schreibt oder Videos dreht. Ein gutes Drittel der Teilnehmer waren Frauen.

Sie haben diese Trainingsprogramme trotz der anhaltenden Gewalt zum Teil im Kriegsgebiet durchgeführt. Was waren die größten Schwierigkeiten dabei?
Es besteht jeden Tag die Gefahr, gekidnappt oder getötet zu werden. Und 15 Medienaktivisten auf einem Fleck sind natürlich ein besonders ,lohnendes‘ Ziel. Ähnlich gefährlich wie die Bomben sind die Islamisten, wenn wir in von ihnen kontrollierten Gebieten gemeinsame Kurse für Männer und Frauen anbieten.

Warum sind Sie diese Risiken immer wieder eingegangen?
Die Medienaktivisten sind die Augen und Ohren der Weltöffentlichkeit in Syrien. Ohne sie wäre es ein Leichtes gewesen, das Leid der Syrer zu ignorieren. Zumindest solange zu ignorieren, bis sie als Flüchtlinge an der eigenen Grenze auftauchen.

Welche Motivation treibt die Medienaktivisten an?
Am Anfang dachten sie, das Filmen und Dokumentieren der Gewalt würde die internationale Gemeinschaft zum Eingreifen bewegen. Spätestens seit den schweren Giftgasangriffen in den Vororten von Damaskus 2013 ist das anders. Für manche ist es ein ganz normaler Broterwerb geworden, andere wollen Beweise sammeln für den Fall, dass die Kriegsverbrechen irgendwann aufgearbeitet werden.

Trotz allem ist Syrien von der Nachrichtenagenda, zumindest im Westen, fast vollständig verschwunden.
Als Journalistin mit Redaktionserfahrung kann ich das verstehen. Nachrichten aus Syrien schaffen es nur noch in die Schlagzeilen, wenn der Iran, Russland oder Saudi-Arabien sich dazu äußern.

Sie sprechen es an: Sie haben einen Job bei der BBC aufgegeben, um dauerhaft in ihrer Heimat leben zu können – obwohl der Krieg da bereits ausgebrochen war. Warum?
Ich wollte nie woanders leben. Als ich 2010 nach London ging, um Journalismus zu studieren, habe ich gesagt, dass ich zurückkomme. Als dann die Revolution ausbrach, stand ich kurz vor dem Abschluss und kehrte danach umgehend nach Damaskus zurück.

Ihre Heimatverbundenheit in allen Ehren, aber Sie sind in ein Kriegsgebiet zurückgekehrt…
Ich ging zurück, weil ich dorthin gehöre. Ich spürte die Verantwortung, meinem Land und den Menschen dort zu helfen. Das hätte aus der Ferne nicht funktioniert. Außerdem gerieten im Laufe der Revolution viele meiner Freunde in Haft oder verloren ihr Leben. Das hat mich nur noch weiter bestärkt.

Sie haben einmal gesagt, dass sie sich mehr Nachrichten aus Syrien abseits der Grausamkeit wünschen – wie in den Syria Stories. Hat sich Ihr Wunsch erfüllt?
Für mich ist Syrien mehr als Krieg. Deshalb lege ich den Fokus meiner Berichterstattung auf das Leben der Menschen und nicht die Gewalt. In der internationalen Politik werden wir Syrer oft entmenschlicht, aber wir leben, lieben, haben Kinder.

Ende 2017 haben Sie in Bremen erstmals Nicht-Syrer ausgebildet. Sie haben einen Mobile-Reporting-Kurs für Studenten zum Thema Flüchtlinge geben…
…und dabei viel gelernt. Bremen ist zwar kein Kriegsgebiet, aber dort leben Tausende, die vor der Gewalt vor der eigenen Haustür geflohen sind. Diese Perspektive auf den Konflikt und seine Folgen, die bei internationalen Journalistenkollegen mittlerweile oft wichtiger ist als der Krieg selbst, war für mich neu.

Mit diesen Kollegen haben Sie bislang wenig gute Erfahrung gemacht, wie Sie auf dem International Journalism Festival in Perugia im vergangenen Jahr erzählten…
Obwohl ich einen Abschluss in Journalismus vor einer europäischen Universität habe, behandeln mich viele Kollegen aus dem Ausland wie einen Gratis-Fixer. Ich werde ständig nach meinen Quellen gefragt oder soll sogar ganze Geschichten kostenlos zur Verfügung stellen.

Auch darum geht es in Ihren Trainingsprogramm für die Medienaktivisten, oder?
Die Bürgerjournalisten oder Medienaktivisten sind die wichtigste Quelle für Informationen aus Syrien. Die meisten wissen nicht, wie genau die Medien funktionieren, aber sie riskieren ihr Leben, um ausländischen Redaktionen Fotos oder Geschichten zu liefern. Dieser Einsatz sollte nicht umsonst sein, das sagen wir unseren Teilnehmern.

Als Journalistin haben Sie aber auch im Land selbst einen schweren Stand, brauchen bei Ihrer Arbeit stets männliche Begleitung. Ist Journalismus in vielen arabischen Staaten also nicht nur eine Frage von Meinungsfreiheit, sondern auch von Gleichberechtigung?
Ich kann nur über die patriarchalische Gesellschaft in Syrien sprechen, in der es viele Vorurteile und gesellschaftliche Konventionen gibt. Journalistin zu sein ist dort eine ziemliche Herausforderung, denn als Frau sollte ich mich eigentlich um Familie und Kinder kümmern.

Inmitten der Kriegswirren arbeiten Sie an Projekten, die die Stellung der Frau in der syrischen Gesellschaft stärken sollen. Ist der Krieg der richtige Zeitpunkt, um über Emanzipation in Syrien nachzudenken?
Eine gute Frage, die bisher nicht abschließend beantwortet wurde. Ich glaube schon. Frauenrechte sind Menschenrechte. Wenn wir nicht jetzt über Menschenrechte und Gerechtigkeit diskutieren, werden wir beides auch nicht erreichen, sollte der Krieg einmal vorüber sein.

Interview und Übersetzung: Malte Werner

Ausland | Interview | Sicherheit

„Unsere Situation hat sich nicht verbessert“ (18. Dezember 2017)

Alexei Bobrovnikov (37) mit Anastasia Galuschenko (19), der Tochter des verstorbenen Andrij Galuschenko.

Investigativer Journalismus in der Ukraine

Alexei Bobrovnikov (37) mit Anastasia Galuschenko (19), der Tochter des verstorbenen Andrij Galuschenko.

Alexei Bobrovnikov (37) mit Anastasia Galuschenko (19). Die Tochter des verstorbenen Andrij Galuschenko besucht ihn im Exil. // Foto: Alexander Salenko

Der ukrainische Journalist Alexei Bobrovnikov recherchierte Ende August 2015 zum Schmuggel zwischen ukrainischen Truppen und den Separatisten im Donbass. In seinem beruflichen Umfeld kam es zu mehreren ungeklärten Todesfällen. Er selbst erhielt ebenfalls Morddrohungen. Seit einem Jahr ist Bobrovnikov Gast der Hamburger Stiftung für politisch Verfolgte. Im Message-Interview rekapituliert der Invetigativjournalist, wie es zu diesem – hoffentlich vorübergehenden – Exil kam.

Herr Bobrovnikov, Sie mussten ihre Heimat, die Ukraine, im vergangenen Winter verlassen. Was war der Grund?
Bobrovnikov: Seit September 2015 gab es eine Reihe von Einschüchterungsversuchen und Morddrohungen gegen mich, unter anderem von Angehörigen der 92. Brigade der ukrainischen Armee. Diese Leute werden verdächtigt, meinen Informanten Andrij Galuschenko getötet zu haben. Galuschenko bekämpfte im Auftrag der ukrainischen Regierung den Schmuggel an der Front.

Die Armee behauptet, die Separatisten seien schuld an seinem Tod.
Der Angriff auf die Gruppe von Galuschenko fand in einem Gebiet statt, in dem die Präsenz von Feindtruppen nicht mal theoretisch möglich ist. Auch ein Hauptmann der 80. Brigade, Wolodymyr Kijan, verdächtigte die 92. Brigade, Galuschenko ermordet zu haben. Er ist nur einen Tag nach Galuschenko im selben Gebiet unter ungeklärten Umständen ums Leben gekommen.

Ein Gericht hat die angeklagten Angehörigen der 92. Brigade vor kurzem freigesprochen. Was denken Sie über dieses Urteil?
In den vergangenen zwei Jahren haben meine Mitstreiter und ich versucht, die Ermittlungen nachzuvollziehen. Unser Team konnte so verhindern, dass die Verantwortung für den Galuschenko-Mord einem unschuldigen Mann zugeschoben wurde, der zum Zeitpunkt der Tat Hunderte Kilometer entfernt war. Erst später ermittelten die Behörden in eine Richtung, die mit unseren Erkenntnissen übereinstimmte: Motiv und Möglichkeit zum Mord an Galuschenko hatten nur die Angehörigen der 92. Brigade. Darüber, warum sie jetzt freigesprochen wurden, möchte ich nicht spekulieren.

Sie haben damals beim TV-Sender 1+1 gearbeitet. Konnten Sie frei über das heikle Thema berichten?

In den sieben Monaten nach dem Tode von Galuschenko haben wir etwa zehn TV-Beiträge zum Schmuggel und zu den unaufgeklärten Morden im Zuständigkeitsbereich der 92. Brigade veröffentlicht. Aber als wir Zugang zum Rechner von Galuschenko bekamen und dort belastendes Material gegen das Polizeibataillon Kiew-2 fanden, baten mich Verantwortliche des Senders, mit der Veröffentlichung neuer Rechercheergebnisse zu warten und weitere Recherchen einzustellen. 1+1 verhinderte in der Folge die Veröffentlichung meiner Beiträge und ließ mich nicht mehr vernünftig arbeiten.

Sie wurden kaltgestellt…
Es kommt noch besser: Wenig später kam der Sender auf die Idee, Angehörige von Armee und Polizei mit Auszeichnungen für „Vertrauen und Zusammenarbeit“ zu ehren, darunter die Kommandeure von Kiew-2 und der 92. Brigade. Dem Sender war bekannt, dass beide unter dem Verdacht stehen, Morde angeordnet zu haben. Ich habe diese Preisverleihung öffentlich kritisiert, aber mich intern gegen die Zensur zur Wehr zu setzen, hatte keinen Sinn.

Wie ging es für Sie weiter?
Ich habe unter der Bedingung, dass ich das gesamte Video-Material zu dem Fall mitnehmen kann, die Kündigung unterschrieben. Es sind Beweisstücke.


Ist dieser Druck seitens des Senders typisch für den Journalismus in der Ukraine?

Total. Untypisch war eher die Tatsache, dass ich an diesem Fall sieben Monate lang frei arbeiten konnte.

Wie üben Sicherheitskräfte oder Armee Druck auf Medien oder einzelne Journalisten aus?
Es kommt zu Anrufen in der Redaktion. Das können Drohungen sein oder auch Anfragen an Vorgesetzte oder Eigner, die in irgendeiner Weise mit hochrangigen Politikern in Beziehung stehen.

Hat man nur Ihnen oder auch Ihrer Familie gedroht?
Es gab seltsame Anrufe bei meiner Mutter. Gedroht wurde nicht, nur darauf hingewiesen, dass man die Telefonnummer kenne und die Lage überwache. Das Telefon klingelte, sobald Bewegung in den Fall kam. Zum Beispiel als ein Vertreter der Militärstaatsanwaltschaft im Fernsehen die Vermutung äußerte, dass ich das nächste Ziel der Mörder sei. Mich daraufhin unter Zeugenschutz zu stellen, hat die Staatsanwaltschaft abgelehnt.

Welche Maßnahmen haben Sie getroffen, um sich zu schützen?
Kurz nach dem Tod von Andrij habe ich Teile eines Interviews mit ihm veröffentlicht, um unsere Gruppe zu schützen, die zu dem Zeitpunkt noch an der Front gearbeitet hat. Ich gehe mit Absicht an die Öffentlichkeit, denn solange ich explizit nur über den Fall berichte und mir dabei etwas zustößt, wäre die Motivlage der Täter eindeutig. Nur die größtmögliche Öffentlichkeit kann Journalisten in der Ukraine eine Art Schutz bieten.

Wessen Interessen darf man als ukrainischer Journalist auf gar keinen Fall offenlegen?
Um das zu erfahren, müsste man die Auftraggeber all der Morde an Journalisten in den letzten Jahren ermitteln. Das hat aber nie stattgefunden. Ich kann bis heute nicht ganz verstehen, ob das, was mit mir passierte, Einschüchterung war oder der ernsthafte Wunsch, mich umzubringen.

Gibt es in ukrainischen Medien inoffizielle Absprachen dazu, worüber man nicht berichten sollte, bestimmte „verbotene“ Themen?

Auf jeden Fall. 1+1 äußert beispielsweise nie Kritik an Innenminister Arsen Avakow, weil er und der Eigner des Senders, Ihor Kolomojskyj, eine freundschaftliche Beziehung pflegen. Wie ich hat auch der Sender ICTV zum Schmuggel an der Front recherchiert. Obwohl der Beitrag dazu fertig war, wurde er nie gesendet. Es gab weder Beanstandungen noch eine Erklärung, also muss es Zensur gewesen sein.

Wie frei können Journalisten von der Front berichten?

Als wir vor zwei Jahren an der Front waren, gab es noch sogenannte mobile Gruppen zur Schmuggelbekämpfung. Wenn Journalisten sich ihnen anschlossen, gab es kaum Einfluss der Armee. Heute gibt es die Gruppen nicht mehr. Du kannst nicht mitten im Krieg ein freier Künstler sein.

Gibt es Fälle, in denen Journalisten unangenehme Wahrheiten verschweigen?

Es gibt häufig einen ehrlichen, sentimentalen Wunsch, der Armee zu helfen. Doch mit der Unterschlagung unangenehmer Wahrheiten richten Kollegen eher Schaden an. Verschleierung führt zu Machtmissbrauch, Straflosigkeit und vermutlich zu weiteren unaufgeklärten Todesfällen.

Und trotzdem haben Sie Verständnis für die Einschränkung der Pressefreiheit im Krieg?
Im Krieg ist Pressefreiheit kompliziert. Trotz meiner eigenen Situation befürworte ich die Militärzensur. Militäroperationen oder Verluste dürfen aus taktischen Gründen nicht sofort publik werden. Doch aktuell dient diese Zensur anderen Interessen, und zwar dem Verschleiern von kriminellen Machenschaften. Das Hauptproblem bleibt die alles durchdringende Korruption.

Hat die Maidan-Revolution den Journalismus in der Ukraine freier gemacht?

Unsere Situation hat sich nach der Revolution nicht verbessert. Die Gefahr für Journalisten ist permanent gegeben.

Was müsste passieren, damit Sie in die Ukraine zurückkehren können?
Die Gruppe, die gedroht hat, mich umzubringen, muss außer Gefecht gesetzt werden. Denn ich weiß nicht, wie weit diese Leute tatsächlich gehen würden.

Die Fragen stellte Alexander Salenko.

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