#nr22 | Kriegsberichterstattung
Zeigen, was niemand sehen will (12. Oktober 2022)
Kriegsfotografie bewegt sich im Graubereich der Informationspflicht: Sollten Medien Kriegsbilder zeigen, auf denen getötete und verstümmelte Menschen zu sehen sind? Eine ethische Herausforderung für Redaktionen
von Hannah Reuter
Die Wirklichkeit des Krieges ist manchmal kaum auszuhalten: erschütternd, grausam, unmenschlich. Den Journalismus stellt das vor die Herausforderung, das Unerträgliche angemessen abbilden zu müssen. Wie geht das? „Journalisten müssen dokumentieren, was passiert“, sagt der Fotojournalist Till Mayer, der bereits aus zahlreichen Krisenregionen berichtet hat. Er selber sieht „Schlachtengemälde“, wie er sagt, nicht als seine Art der Fotografie. Stattdessen stehen in seinen Portraits die Menschen im Mittelpunkt. Ihnen möchte er Stärke verleihen. Doch nur wenn das Kriegsgeschehen ungeschönt gezeigt werde, könnten die Menschen zuhause verstehen, was vor Ort wirklich geschehe, meint Mayer.
So einleuchtend diese Auffassung ist, Fotoredaktionen können derlei Entscheidung nicht losgelöst von ethischen und rechtlichen Abwägungen treffen. Etwa bei der Frage: Kann das öffentliche Informationsinteresse rechtfertigen, dass Menschen abgebildet werden, die auf brutalste Weise im Krieg getötet wurden? „Ein Zurschaustellen identifizierbarer Leichen gibt es bei uns nicht“, erklärt Andreas Prost, Leiter der Bildredaktion von Zeit Online. „Das Persönlichkeitsrecht wiegt für mich in dem Moment schwerer als das Informationsbedürfnis.“ Auch die Deutsche Presse-Agentur (dpa) bietet ihren Kunden keine Bilder von getöteten Personen an, auf denen die Gesichter erkennbar sind.
Darstellungen, auf denen die Opfer identifiziert werden können, greifen nicht nur in ihre Persönlichkeitsrechte ein, sondern verletzten auch ihre Würde. „Bloße Sensationsinteressen rechtfertigen keine identifizierende Berichterstattung“, heißt es in Ziffer 8 des deutschen Pressekodex. Präzisiert wird dies in Ziffer 11: „Unangemessen sensationell ist eine Darstellung, wenn in der Berichterstattung der Mensch zum Objekt, zu einem bloßen Mittel, herabgewürdigt wird.“ Die Getöteten dürfen durch die Bilder nicht ein zweites Mal zu Opfern gemacht werden.
Was ist zumutbar?
Doch neben den Betroffenen selbst spielt immer auch der Schutz des Publikums eine Rolle. Marlis Prinzing, Professorin für Journalistik an der Hochschule Macromedia in Köln, plädiert dafür, bei jedem Bild sorgfältig zwischen der öffentlichen Relevanz und den Zumutungen für das Publikum abzuwägen. „Journalistinnen und Journalisten sollten überlegen, was damit ausgelöst werden könnte, bevor sie solche Bilder veröffentlichen“, so Prinzing. Personen gingen auf emotionaler Ebene sehr unterschiedlich mit Bildern dieser Art um. Eine eindeutige, vorhersehbare Wirkung gebe es nicht, erklärt die Medienethikerin.
Das Publikum vollständig vor schrecklichen Kriegsbildern abzuschirmen, ist durch die Verbreitung in den sozialen Medien kaum möglich. Auf diesen Plattformen können Warnhinweise Nutzer*innen aber zumindest auf sensible Inhalte aufmerksam machen. Dieser Leitlinie folgt auch Zeit Online, indem alle Bilder, die getötete oder schwer verletzte Personen zeigen, hinter einer solchen Warnung verborgen werden. Die Entscheidung liegt somit vor allem bei den Leser*innen selbst. Doch auch darüber gibt es in der Redaktion oft Diskussionen: „Das Empfinden, was gezeigt werden kann oder eine Triggerwarnung braucht, ist sehr unterschiedlich“, räumt Andreas Prost ein.
Bilder dieser Art sind wohl für die meisten Menschen nur schwer zu ertragen. Till Mayer berichtet seit vielen Jahren aus dem Ukraine-Konflikt. Bis zum Einmarsch Russlands habe es nur niemanden so richtig interessiert, meint der Fotojournalist, der auch in dieser Phase des Krieges wieder in der Ukraine unterwegs ist. Er hält es für möglich, dass eine stärkere mediale Aufmerksamkeit öffentlichen Druck erzeugen und so die Eskalation eines Konflikts verhindern kann: „Wegschauen behebt kein Problem, es bringt auch jetzt die Gefahr eines großen europaweiten Krieges immer näher“, meint Mayer. Auch Marlis Prinzing sieht in grausamen Kriegsbildern das Potenzial, auf humanitäre Katastrophen aufmerksam zu machen und somit möglicherweise sogar zu einer Lösung beizutragen.
Würde bewahren
Gleichzeitig besteht laut der Expertin für Medienethik die Gefahr einer einseitigen Berichterstattung, die sich zu sehr an dem Narrativ einer der Kriegsparteien orientiert. Für die Fotojournalistin Julia Leeb geht dies oft damit einher, dass die plakative Darstellung von Opfern genutzt wird, um politische Entscheidungen und militärische Maßnahmen zu legitimieren. Die Journalistin, die bereits aus vielen Krisenregionen, darunter Libyen, Syrien und dem Sudan, berichtet hat, plädiert daher dafür, das Motiv hinter einzelnen Bildern zu hinterfragen: „Man darf auf keinen Fall das Leid der Anderen instrumentalisieren, um eine gewisse Meinung hervorzurufen oder emotionalen Druck aufzubauen.“
Kriegsbilder sollten zwingend die Würde der abgebildeten Menschen bewahren. Dabei ist nicht nur entscheidend, ob Leichen gezeigt, sondern auch, wie sie dargestellt werden. Möglich ist etwa, nur einzelne Körperteile von Getöteten zu zeigen, ihre Gesichter zu verpixeln oder sie aus einer anderen Perspektive zu fotografieren. Um in dieser Frage die richtige Entscheidung treffen zu können, ist für Andreas Prost der Kontakt zu den Fotograf*innen vor Ort wichtig. „Der Editierprozess ist im Idealfall nicht einseitig“, erklärt der Fotoredakteur. „Im Austausch mit den Personen vor Ort kann ich mir die Situation einordnen lassen, in der das Bild entstanden ist, um die Szene besser zu verstehen.“
Ob ein Bild die Würde der Opfer verletzt, das Publikum verstört oder doch ein wichtiger Teil von realistischer Kriegsberichterstattung ist, muss für jede Darstellung einzeln diskutiert und sorgfältig abgewogen werden. Weder die Ethik noch die Wissenschaft können den Redaktionen die Gewissensentscheidung abnehmen, sie stoßen hier an ihre Grenzen.