Journalist:INNEN
Keine Angst vor der Angst (21. Dezember 2021)
Matthias Kalle hat als Journalist viel erlebt und erreicht. Zu seinen Stationen zählen jetzt, Tagesspiegel, Neon, Zitty, Vanity Fair und natürlich das Zeit-Magazin. Warum er dort seine Position als stellvertretender Chefredakteur aufgab, um als freier Autor zu arbeiten, darüber spricht er hier erstmals. Und er begründet, warum die Furcht vor beruflichen Herausforderungen gar nichts Schlechtes ist.*
von Matthias Kalle
Gestatten Sie mir eine kurze Vorbemerkung: Mir ist bewusst, dass ich zu Ihnen aus privilegierter Position spreche.
Zum einen, weil ich mich erst als Autor selbstständig gemacht habe, nachdem ich bereits eine Karriere im Journalismus hatte. Ich kenne, wenn man so will, das Spiel und die Akteure in- und auswendig – und sie kennen mich. Ich muss mich nirgendwo vorstellen oder bewerben. Ich muss keine Arbeitsproben einreichen, keine Klinken putzen. Ich weiß ungefähr, wer was wollen könnte und wie ich denjenigen erreiche.
Zum anderen war ich aber auch immer in einer privilegierten Position, denn ich bin ein weißer Mann aus der westdeutschen Provinz, der eine behütete Kindheit in einer finanziell gut aufgestellten Familie hatte. Ich konnte ohne Widerstände auf ein Gymnasium gehen, wenn ich Bücher oder Zeitschriften oder Zeitungen haben wollte, dann bekam ich sie. Ich musste während meines Studiums nicht arbeiten.
Und nun zum eigentlichen Thema, aber ich denke, alles hängt mit allem irgendwie zusammen:
Angst als Motor
Ein Vorteil des Älterwerden – ich bin 46 Jahre alt – besteht darin, dass man Motivationen, die einen zu Entscheidungen im Leben geführt haben, im Rückblick anders bewertet. Ich würde Ihnen gerne etwas über Wut erzählen – Wut, wie Heinrich Böll sie beschreibt, nämlich als Motor, als Antrieb für alles. Ich würde ihnen gerne erzählen, dass mich Wut geleitet hat – von Anfang bis hierhin, Wut auf die Verhältnisse, Wut auf die Alten, auf Nazis, auf Deutschland, auf die Strukturen. Wut auf Hartz 4, auf schlechte Texte, auf Denkfaulheit, auf die Weigerung, zu unterhalten. Wut auf das Fernsehen, auf Entscheidungsträger, auf eigentlich alles.
Aber dann würde ich Ihnen und mir etwas vormachen, und weil ich das nicht will, rede ich über Angst. Angst als Motor. Von Anfang an. Bis heute. Bis zu diesem Moment.
Ich bin aus Angst Journalist geworden und ich bin es aus Angst geblieben.
Ich war nicht bescheuert
Mein Traum war es immer, mit dem Schreiben Geld zu verdienen. Ich hatte diesen Traum seit der 10 Klasse, als ich im Deutschunterricht eine 1 bekommen habe für die Buchinterpretation eines Buches, das ich nie gelesen habe – „Der alte Mann und das Meer“ von Ernest Hemingway. Damals dachte ich: Irre – wenn man gut und schön schreibt, dann wird man belohnt, wahrscheinlich sogar entlohnt, man muss dafür gar nix tun, man muss nichts lesen, sich nicht vorbereiten, man muss einfach schreiben. Also schrieb ich. Für mich. Kurzgeschichten. Ich fing fünf Romane an und kam jeweils bis Seite 4. Es war trotzdem herrlich, aber das Schreiben und den Traum mit dem Schreiben einmal Geld zu verdienen, das Schreiben also zu meinem Beruf zu machen – das behielt ich alles für mich. Hinzu kam eine Angst, die meinen Traum verdrängte, nämlich Existenzangst: Würde ich mit dem Schreiben tatsächlich Geld verdienen können? Und zwar so viel Geld, dass ich meinen Lebensstandard würde halten können? Würde es reichen?
Ich war nicht bescheuert. Ich wusste, dass man als Schriftsteller nicht reich wird, es sei denn, man schreibt „Das Parfüm“. Deshalb fragte ich mich, was es für Berufe gibt, in denen man schreibt, die aber doch relativ solide sind – festes Einkommen, geregelte Arbeitszeiten, Lohnfortzahlungen im Krankheitsfall. Ich las neben Büchern gerne Magazine. Mein Lieblingsmagazin in dieser Zeit war „Tempo“, es wurde 1996 eingestellt, ich mochte die Art der Texte, die Haltung der Autor*innen, ich mochte darin blättern und ich mochte die Weltläufigkeit des Magazins. Ich bewarb mich für ein Praktikum, und saß dann vier Wochen lang in einer Redaktion rum, in der niemand mit mir sprach. Ich war 18 Jahre alt und hatte Angst, dass mich niemand mögen würde.
Studienabbrecher
Nachdem Abitur hatte ich Angst, mich auf einer Journalistenschule zu bewerben, weil ich Angst vor Ablehnung hatte. Nannen-Schule, DJS – lieber nicht. Ich bewarb mich in Leipzig, die hatten damals, 1995, einen Journalistik-Diplomstudiengang, für den man sich bewerben konnte, und ich bewarb mich und wurde genommen, also studierte ich in Leipzig Journalistik. Ich hatte Angst vor der Stadt und vor meinen Kommilitonen, deshalb verbrachte ich die meiste Zeit in Vorlesungen und Seminaren und in der Bibliothek, abends las ich Fachliteratur und feilte an Reportageanfängen.
Ich lernte aus Angst, zu versagen, nicht zu genügen, und erst als ich mir sicher war mit meinem Können, schickte ich ein paar Themenvorschläge an das jetzt-Magazin, das ich zu diesem Zeitpunkt sehr mochte. Ein paar meiner Texte wurden gedruckt, ein Jahr später fragte mich die Redaktion, ob ich Redakteur werden wolle. Aus Angst, dass so ein Angebot nie wieder kommen würde, brach ich mein Studium ab und zog nach München.
Die Jahre beim jetzt-Magazin, es waren drei, waren vielleicht meine schönsten in diesem Beruf, was vielleicht auch daran lag, dass ich in diesen Jahren keine Angst hatte. Ich schrieb zwei meiner besten Texte in dieser Zeit, eine Reportage über ein Zeltfest in Ostwestfalen und einen über alkoholkranke Teenager.
Chefredakteur
Aus Angst, zu alt zu sein für ein Jugendmagazin, ging ich mit 26 zum „Tagesspiegel“ nach Berlin. Ich blieb ein Jahr dort, mein schlimmstes Jahr. Ich hatte Angst vor allem: den Kolleg*innen, der Stadt, dem Schreiben. Kein einziger Text erreichte auch nur annähernd die Qualität der Texte, die ich bei „jetzt“ geschrieben hatte. Dann wurde das „jetzt“-Magazin eingestellt und der „Stern“ bat eine kleine Gruppe von Journalist*innen, an einem Jugendmagazin für Gruner & Jahr zu arbeiten, und als ich gefragt wurde, ob ich dabei sein wolle, sagte ich sofort zu – auch aus Angst. Ich dachte damals: Ich kehre zurück nach München, arbeite mit Leuten, die ich kenne, an einem Magazin-Format, das mir vertraut ist.
Aber diesmal war es anders. Wir stritten uns. Das Schreiben viel mir schwer. Und zum Glück bekam ich das Angebot Chefredakteur der zitty zu werden. Auch das nahm ich an – aus Angst.
Es war die Chance aufzusteigen – CHEFREDAKTEUR! Gleichzeitig las ja niemand, den ich kannte, „zitty“, wenn ich scheitern würde, würde es niemanden auffallen. Und ich müsste nicht schreiben, auch gut, denn ich bekam es eh nicht mehr so hin, wie ich es mir vorstellte – ja, ich hatte mittlerweile auch Angst vor dem Schreiben.
Erfolg macht satt
Mein Problem waren jetzt neue Ängste: Angst vor der Auflage, Angst, die Redaktion zu enttäuschen, Angst, mich selbst zu enttäuschen. Ich arbeitete wie besessen an Covern, an Zeilen, immer aus Angst zu versagen. Und dann, im Sommer 2006, überholten wir erstmals in der Geschichte der Berliner Stadtmagazine den Konkurrenten „tip“, und ich war erlöst, kündigte, und wurde Entwicklungsredakteur der deutschen Vanity Fair. Aber diese Monate waren so furchtbar, dass ich zurück zur zitty ging. Doch mein Erfolg, meine Karriere bis dahin, machten mich etwas satt.
Ich war 30, hatte Bücher geschrieben, war Chefredakteur, hatte einen Springer-Preis und eine Nominierung für den Kisch-Preis. Ich hätte weiß Gott was anstellen müssen, um es zu versauen. Ich hatte es geschafft. Und plötzlich hatte ich keine Angst. Keine Angst mehr zu versagen, zu verhungern – ich musste niemandem mehr etwas beweisen, mir auch nicht.
Ich ging zum ZEITmagazin, zunächst als „Berater“, dann wurde ich stellvertretender Chefredakteur. Ich schrieb kaum noch – der Böhmermann-Text und der Zivi-Text sind große Ausnahmen. Ich verwaltete, mischte die Hefte, kümmerte mich um die Redaktion, hielt Kontakt mit der Hamburger Redaktion, solche Sachen. Ich hatte zwar keine Angst mehr, gleichzeitig aber war ich von meinem ursprünglichen Traum, dem Traum, ein Autor zu sein und Geschichten zu erzählen, so weit weg wie noch nie.
Ich hätte gehen müssen
Innerhalb der Chefredaktion war ich unter anderem zuständig dafür, dass großartige Autoren ihre Texte im Magazin hatten. Ich half dabei, andere strahlen zu lassen, wurde dafür sehr gut bezahlt und hatte einen Vertrag, der praktisch unkündbar war. Irgendwann fragte ich vorsichtig nach, ob ich nicht Chefredakteur werden könne, gleichberechtigt mit dem damaligen, schließlich mache ich ja die ganze redaktionelle Arbeit, ich hätte es verdient, es schien mir ein logischer Karriereschritt, ich wollte nicht bis zum Ende meiner Laufbahn ein Stellvertreter bleiben.
Ich wurde es nicht. Ich blieb, was ich war. Aber anstatt mit Wut oder mit Mut zu kündigen, blieb ich. Weil die Angst wieder da war. Angst vor dem Draußen, der Freiheit – eigentlich Angst vor allem, denn ich kannte ja nur die Festanstellung, seit über 15 Jahren, und den Aufstieg, und das jeden Monat zur gleichen Zeit relativ viel Geld auf mein Konto gebucht wurde.
Heute weiß ich, dass ich hätte gehen müssen, damals. Es wäre das Richtige gewesen. Stattdessen blieb ich und verschwand in eine Art innere Immigration. Da kam ich erst heraus, als ich Sophie Passmann kennenlernte.
Ich wollte zunächst nur, dass sie fürs Magazin einen Text schreibt, damals war sie noch nicht so berühmt, aber ich dachte, sie sei genau die richtige. Sie war auch die richtige. Und wir verstanden uns gut. So gut, dass wir es für eine prima Idee hielten, der „Zeit“ einen Fernsehpodcast anzubieten. Wir machten also „Die Schaulustigen“, und wir machten das anscheinend so unterhaltsam, dass wir ein Angebot von Audible erhielten, etwas ähnliches für die zu machen. Exklusiv. Und das war mein Ticket in eine gut bezahlte Freiheit, in der ich keine Existenzangst haben musste. Also kündigte ich.
Eine gute Angst
Das ist jetzt 2 Jahre her. Den Podcast gibt es nicht mehr. Und seit zwei Jahren habe ich Angst. Aber es ist eine andere Angst – oder aber ich verstehe diese Angst jetzt besser. Weil ich sie mir eingestanden habe. Der dänische Philosoph Sören Kierkegaard beschrieb 1844 Angst als „Schwindel der Freiheit“. Er schrieb von der schwindelerregenden Wirkung des Blicks in die Grenzenlosigkeit der eigenen Möglichkeiten.
Angst also nicht als etwas lähmendes, als etwas, das einen dazu bringt, sich zu Tode zu fürchten, sondern als etwas, dass einem Erkennen hilft, was man alles schafft und was man kann – und was nicht.
Mit dieser Angst kann ich gut arbeiten, denn sie ist eben nicht mehr die Angst vor finanziellem Ruin oder gesellschaftlichen Absturz. Sie ist vielmehr die Angst, meinen Träumen von damals nicht zu gerecht zu werden.
Es ist eine gute Angst. Sie bringt mich dazu, jeden Tag aufzustehen und meine Jobs zu erledigen. Ideen zu haben. Zu schreiben. Irgendwo anzurufen. Mails abzuschicken. Vor Ihnen zu reden. Auch über diese Angst.
Erstmal schreiben
Wir können gleich noch darüber streiten, ob diese Freiheit, dieses „er arbeitet jetzt frei“ auch tatsächlich bedeutet, dass ich „frei“ bin im Gegensatz zu früher, als ich „fest“ war. In einem gewissen Sinne ist man ja nicht „frei“, frei ist man eher, wenn man einen festen Arbeitsplatz hat, ein geregeltes Einkommen, Menschen, die einem den Tag strukturieren und die einem sagen, was man zu tun hat. Aber das ist eher ein semantische Diskussion wie die, ob wir die Begriffe Arbeitgeber und Arbeitnehmer nicht verkehrt benutzen, denn wer GIBT eigentlich die Arbeit und wer NIMMT sie sich?
Und wenn ich Ihnen jetzt erzähle, wie das so lief, in den vergangenen zwei Jahren, dann ist das nicht wirklich als Leitfaden zu gebrauchen, denn den gibt es nicht, genau so wenig, wie es den einen Weg in den Journalismus gibt, obwohl ich schon glaube, dass der schnellste und sicherste Weg entweder über die DJS oder die Nannen-Schule führt, und wenn Sie mich fragen, welcher der allerbeste ist, dann sage ich: Die DJS.
Ich bin, wie gesagt, kein gutes Beispiel, weil ich privilegiert in die Selbständigkeit gegangen bin. Ich bekomme Anfragen – zum Beispiel, ob ich der Host des Podcast NETFLIXWOCHE werden will oder Ombudsmann für das Mindener Tageblatt (MT). Ich habe beides zugesagt, aus unterschiedlichen Gründen: Der Podcast zahlt meine Miete und noch ein bisschen mehr. Der Job beim MT bringt mich zurück zu meinen Wurzeln und zu den Wurzeln dieses großartigen Berufes.
Beide Tätigkeiten sind in meinem elektronischen Kalender fest eingeschrieben, klare Zeiten, wann ich mich worum kümmere. Die weißen Flächen innerhalb dieses Kalenders zeigen mir die Grenzenlosigkeit der eigenen Möglichkeiten. Ich schreibe. Zum einen einen Newsletter über das Fernsehen mit dem ich quasi kein Geld verdiene und den niemand liest, der mich beim Schreiben aber diszipliniert. Einmal die Woche, ein halber Tag. Die restlichen weißen Flächen nutze ich, um an zwei Geschichten zu schreiben, von denen ich nicht weiß, was sie werden, ob sie überhaupt etwas werden. Vielleicht ein Buch? Eine Fernsehserie? Keine Ahnung. Erstmal schreiben – das bin ich mir und meinem Traum von damals schuldig.
Kein Königsweg
Ich verdiene weniger als früher. Und arbeite mehr. Trotzdem habe ich mehr Zeit. Das geht so: Wenn ich am Schreibtisch sitze, dann arbeite ich, also wirkliche Arbeit. Früher saß ich in Konferenzen, musste telefonieren, das zog sich alles hin. Ich war abhängig von den weißen Flächen in den Terminkalendern von anderen. Dieses Abhängigkeit ist weg, und ich will sie nie wieder haben. Ich habe zur Halbzeit meiner sogenannten Karriere die Art und Weise, wie ich arbeite, und im Moment gibt es nichts, was mich wieder in eine Festanstellung treiben könnte.
Aber kann man daraus ein Regeln ableiten? Nein, natürlich nicht. Ein Lebenslauf ist ja keine Handlungsanweisung, es gibt nicht den Königsweg, es gibt viele Wege und sie sind alle holprig und nicht mit Gold gepflastert. Aber ich glaube, dass jeder einen Weg finden kann, der passt – es kommt halt nur drauf an, wo man hinwill. Und was einen treibt.
Und dass man keine Angst hat vor der Angst.
* Der Text ist das überarbeitete Manuskript eines Impulsvortrags, den Matthias Kalle im Dezember vor Journalistik-Studierenden der Universität Hamburg in der Ringvorlesung „Kommunikation als Beruf“ bei Message-Herausgeber Volker Lilienthal hielt.