Journalist:INNEN

Keine Angst vor der Angst (21. Dezember 2021)

Matthias Kalle, Fotocredit: JONAS LINDSTROEM

Matthias Kalle hat als Journalist viel erlebt und erreicht. Zu seinen Stationen zählen jetzt, Tagesspiegel, Neon, Zitty, Vanity Fair und natürlich das Zeit-Magazin. Warum er dort seine Position als stellvertretender Chefredakteur aufgab, um als freier Autor zu arbeiten, darüber spricht er hier erstmals. Und er begründet, warum die Furcht vor beruflichen Herausforderungen gar nichts Schlechtes ist.*

von Matthias Kalle

Gestatten Sie mir eine kurze Vorbemerkung: Mir ist bewusst, dass ich zu Ihnen aus privilegierter Position spreche.

Zum einen, weil ich mich erst als Autor selbstständig gemacht habe, nachdem ich bereits eine Karriere im Journalismus hatte. Ich kenne, wenn man so will, das Spiel und die Akteure in- und auswendig – und sie kennen mich. Ich muss mich nirgendwo vorstellen oder bewerben. Ich muss keine Arbeitsproben einreichen, keine Klinken putzen. Ich weiß ungefähr, wer was wollen könnte und wie ich denjenigen erreiche.

Matthias Kalle, Fotocredit: JONAS LINDSTROEM

Matthias Kalles Karriere war getrieben von Ängsten. Manchmal war das lähmend, manchmal ein Motor. // Foto: Jonas Lindstroem

Zum anderen war ich aber auch immer in einer privilegierten Position, denn ich bin ein weißer Mann aus der westdeutschen Provinz, der eine behütete Kindheit in einer finanziell gut aufgestellten Familie hatte. Ich konnte ohne Widerstände auf ein Gymnasium gehen, wenn ich Bücher oder Zeitschriften oder Zeitungen haben wollte, dann bekam ich sie. Ich musste während meines Studiums nicht arbeiten.

Und nun zum eigentlichen Thema, aber ich denke, alles hängt mit allem irgendwie zusammen:

Angst als Motor

Ein Vorteil des Älterwerden – ich bin 46 Jahre alt – besteht darin, dass man Motivationen, die einen zu Entscheidungen im Leben geführt haben, im Rückblick anders bewertet. Ich würde Ihnen gerne etwas über Wut erzählen – Wut, wie Heinrich Böll sie beschreibt, nämlich als Motor, als Antrieb für alles. Ich würde ihnen gerne erzählen, dass mich Wut geleitet hat – von Anfang bis hierhin, Wut auf die Verhältnisse, Wut auf die Alten, auf Nazis, auf Deutschland, auf die Strukturen. Wut auf Hartz 4, auf schlechte Texte, auf Denkfaulheit, auf die Weigerung, zu unterhalten. Wut auf das Fernsehen, auf Entscheidungsträger, auf eigentlich alles.

Aber dann würde ich Ihnen und mir etwas vormachen, und weil ich das nicht will, rede ich über Angst. Angst als Motor. Von Anfang an. Bis heute. Bis zu diesem Moment.

Ich bin aus Angst Journalist geworden und ich bin es aus Angst geblieben.

Ich war nicht bescheuert

Mein Traum war es immer, mit dem Schreiben Geld zu verdienen. Ich hatte diesen Traum seit der 10 Klasse, als ich im Deutschunterricht eine 1 bekommen habe für die Buchinterpretation eines Buches, das ich nie gelesen habe – „Der alte Mann und das Meer“ von Ernest Hemingway. Damals dachte ich: Irre – wenn man gut und schön schreibt, dann wird man belohnt, wahrscheinlich sogar entlohnt, man muss dafür gar nix tun, man muss nichts lesen, sich nicht vorbereiten, man muss einfach schreiben. Also schrieb ich. Für mich. Kurzgeschichten. Ich fing fünf Romane an und kam jeweils bis Seite 4. Es war trotzdem herrlich, aber das Schreiben und den Traum mit dem Schreiben einmal Geld zu verdienen, das Schreiben also zu meinem Beruf zu machen – das behielt ich alles für mich. Hinzu kam eine Angst, die meinen Traum verdrängte, nämlich Existenzangst: Würde ich mit dem Schreiben tatsächlich Geld verdienen können? Und zwar so viel Geld, dass ich meinen Lebensstandard würde halten können? Würde es reichen?

Ich war nicht bescheuert. Ich wusste, dass man als Schriftsteller nicht reich wird, es sei denn, man schreibt „Das Parfüm“. Deshalb fragte ich mich, was es für Berufe gibt, in denen man schreibt, die aber doch relativ solide sind – festes Einkommen, geregelte Arbeitszeiten, Lohnfortzahlungen im Krankheitsfall. Ich las neben Büchern gerne Magazine. Mein Lieblingsmagazin in dieser Zeit war „Tempo“, es wurde 1996 eingestellt, ich mochte die Art der Texte, die Haltung der Autor*innen, ich mochte darin blättern und ich mochte die Weltläufigkeit des Magazins. Ich bewarb mich für ein Praktikum, und saß dann vier Wochen lang in einer Redaktion rum, in der niemand mit mir sprach. Ich war 18 Jahre alt und hatte Angst, dass mich niemand mögen würde.

Studienabbrecher

Nachdem Abitur hatte ich Angst, mich auf einer Journalistenschule zu bewerben, weil ich Angst vor Ablehnung hatte. Nannen-Schule, DJS – lieber nicht. Ich bewarb mich in Leipzig, die hatten damals, 1995, einen Journalistik-Diplomstudiengang, für den man sich bewerben konnte, und ich bewarb mich und wurde genommen, also studierte ich in Leipzig Journalistik. Ich hatte Angst vor der Stadt und vor meinen Kommilitonen, deshalb verbrachte ich die meiste Zeit in Vorlesungen und Seminaren und in der Bibliothek, abends las ich Fachliteratur und feilte an Reportageanfängen.

Ich lernte aus Angst, zu versagen, nicht zu genügen, und erst als ich mir sicher war mit meinem Können, schickte ich ein paar Themenvorschläge an das jetzt-Magazin, das ich zu diesem Zeitpunkt sehr mochte. Ein paar meiner Texte wurden gedruckt, ein Jahr später fragte mich die Redaktion, ob ich Redakteur werden wolle. Aus Angst, dass so ein Angebot nie wieder kommen würde, brach ich mein Studium ab und zog nach München.

Die Jahre beim jetzt-Magazin, es waren drei, waren vielleicht meine schönsten in diesem Beruf, was vielleicht auch daran lag, dass ich in diesen Jahren keine Angst hatte. Ich schrieb zwei meiner besten Texte in dieser Zeit, eine Reportage über ein Zeltfest in Ostwestfalen und einen über alkoholkranke Teenager.

Chefredakteur

Aus Angst, zu alt zu sein für ein Jugendmagazin, ging ich mit 26 zum „Tagesspiegel“ nach Berlin. Ich blieb ein Jahr dort, mein schlimmstes Jahr. Ich hatte Angst vor allem: den Kolleg*innen, der Stadt, dem Schreiben. Kein einziger Text erreichte auch nur annähernd die Qualität der Texte, die ich bei „jetzt“ geschrieben hatte. Dann wurde das „jetzt“-Magazin eingestellt und der „Stern“ bat eine kleine Gruppe von Journalist*innen, an einem Jugendmagazin für Gruner & Jahr zu arbeiten, und als ich gefragt wurde, ob ich dabei sein wolle, sagte ich sofort zu – auch aus Angst. Ich dachte damals: Ich kehre zurück nach München, arbeite mit Leuten, die ich kenne, an einem Magazin-Format, das mir vertraut ist.

Aber diesmal war es anders. Wir stritten uns. Das Schreiben viel mir schwer. Und zum Glück bekam ich das Angebot Chefredakteur der zitty zu werden. Auch das nahm ich an – aus Angst.

Es war die Chance aufzusteigen – CHEFREDAKTEUR! Gleichzeitig las ja niemand, den ich kannte, „zitty“, wenn ich scheitern würde, würde es niemanden auffallen. Und ich müsste nicht schreiben, auch gut, denn ich bekam es eh nicht mehr so hin, wie ich es mir vorstellte – ja, ich hatte mittlerweile auch Angst vor dem Schreiben.

Erfolg macht satt

Mein Problem waren jetzt neue Ängste: Angst vor der Auflage, Angst, die Redaktion zu enttäuschen, Angst, mich selbst zu enttäuschen. Ich arbeitete wie besessen an Covern, an Zeilen, immer aus Angst zu versagen. Und dann, im Sommer 2006, überholten wir erstmals in der Geschichte der Berliner Stadtmagazine den Konkurrenten „tip“, und ich war erlöst, kündigte, und wurde Entwicklungsredakteur der deutschen Vanity Fair. Aber diese Monate waren so furchtbar, dass ich zurück zur zitty ging. Doch mein Erfolg, meine Karriere bis dahin, machten mich etwas satt.

Ich war 30, hatte Bücher geschrieben, war Chefredakteur, hatte einen Springer-Preis und eine Nominierung für den Kisch-Preis. Ich hätte weiß Gott was anstellen müssen, um es zu versauen. Ich hatte es geschafft. Und plötzlich hatte ich keine Angst. Keine Angst mehr zu versagen, zu verhungern – ich musste niemandem mehr etwas beweisen, mir auch nicht.

Ich ging zum ZEITmagazin, zunächst als „Berater“, dann wurde ich stellvertretender Chefredakteur. Ich schrieb kaum noch – der Böhmermann-Text und der Zivi-Text sind große Ausnahmen. Ich verwaltete, mischte die Hefte, kümmerte mich um die Redaktion, hielt Kontakt mit der Hamburger Redaktion, solche Sachen. Ich hatte zwar keine Angst mehr, gleichzeitig aber war ich von meinem ursprünglichen Traum, dem Traum, ein Autor zu sein und Geschichten zu erzählen, so weit weg wie noch nie.

Ich hätte gehen müssen

Innerhalb der Chefredaktion war ich unter anderem zuständig dafür, dass großartige Autoren ihre Texte im Magazin hatten. Ich half dabei, andere strahlen zu lassen, wurde dafür sehr gut bezahlt und hatte einen Vertrag, der praktisch unkündbar war. Irgendwann fragte ich vorsichtig nach, ob ich nicht Chefredakteur werden könne, gleichberechtigt mit dem damaligen, schließlich mache ich ja die ganze redaktionelle Arbeit, ich hätte es verdient, es schien mir ein logischer Karriereschritt, ich wollte nicht bis zum Ende meiner Laufbahn ein Stellvertreter bleiben.

Ich wurde es nicht. Ich blieb, was ich war. Aber anstatt mit Wut oder mit Mut zu kündigen, blieb ich. Weil die Angst wieder da war. Angst vor dem Draußen, der Freiheit – eigentlich Angst vor allem, denn ich kannte ja nur die Festanstellung, seit über 15 Jahren, und den Aufstieg, und das jeden Monat zur gleichen Zeit relativ viel Geld auf mein Konto gebucht wurde.

Heute weiß ich, dass ich hätte gehen müssen, damals. Es wäre das Richtige gewesen. Stattdessen blieb ich und verschwand in eine Art innere Immigration. Da kam ich erst heraus, als ich Sophie Passmann kennenlernte.

Ich wollte zunächst nur, dass sie fürs Magazin einen Text schreibt, damals war sie noch nicht so berühmt, aber ich dachte, sie sei genau die richtige. Sie war auch die richtige. Und wir verstanden uns gut. So gut, dass wir es für eine prima Idee hielten, der „Zeit“ einen Fernsehpodcast anzubieten. Wir machten also „Die Schaulustigen“, und wir machten das anscheinend so unterhaltsam, dass wir ein Angebot von Audible erhielten, etwas ähnliches für die zu machen. Exklusiv. Und das war mein Ticket in eine gut bezahlte Freiheit, in der ich keine Existenzangst haben musste. Also kündigte ich.

Eine gute Angst

Das ist jetzt 2 Jahre her. Den Podcast gibt es nicht mehr. Und seit zwei Jahren habe ich Angst. Aber es ist eine andere Angst – oder aber ich verstehe diese Angst jetzt besser. Weil ich sie mir eingestanden habe. Der dänische Philosoph Sören Kierkegaard beschrieb 1844 Angst als „Schwindel der Freiheit“. Er schrieb von der schwindelerregenden Wirkung des Blicks in die Grenzenlosigkeit der eigenen Möglichkeiten.

Angst also nicht als etwas lähmendes, als etwas, das einen dazu bringt, sich zu Tode zu fürchten, sondern als etwas, dass einem Erkennen hilft, was man alles schafft und was man kann – und was nicht.

Mit dieser Angst kann ich gut arbeiten, denn sie ist eben nicht mehr die Angst vor finanziellem Ruin oder gesellschaftlichen Absturz. Sie ist vielmehr die Angst, meinen Träumen von damals nicht zu gerecht zu werden.

Es ist eine gute Angst. Sie bringt mich dazu, jeden Tag aufzustehen und meine Jobs zu erledigen. Ideen zu haben. Zu schreiben. Irgendwo anzurufen. Mails abzuschicken. Vor Ihnen zu reden. Auch über diese Angst.

Erstmal schreiben

Wir können gleich noch darüber streiten, ob diese Freiheit, dieses „er arbeitet jetzt frei“ auch tatsächlich bedeutet, dass ich „frei“ bin im Gegensatz zu früher, als ich „fest“ war. In einem gewissen Sinne ist man ja nicht „frei“, frei ist man eher, wenn man einen festen Arbeitsplatz hat, ein geregeltes Einkommen, Menschen, die einem den Tag strukturieren und die einem sagen, was man zu tun hat. Aber das ist eher ein semantische Diskussion wie die, ob wir die Begriffe Arbeitgeber und Arbeitnehmer nicht verkehrt benutzen, denn wer GIBT eigentlich die Arbeit und wer NIMMT sie sich?

Und wenn ich Ihnen jetzt erzähle, wie das so lief, in den vergangenen zwei Jahren, dann ist das nicht wirklich als Leitfaden zu gebrauchen, denn den gibt es nicht, genau so wenig, wie es den einen Weg in den Journalismus gibt, obwohl ich schon glaube, dass der schnellste und sicherste Weg entweder über die DJS oder die Nannen-Schule führt, und wenn Sie mich fragen, welcher der allerbeste ist, dann sage ich: Die DJS.

Ich bin, wie gesagt, kein gutes Beispiel, weil ich privilegiert in die Selbständigkeit gegangen bin. Ich bekomme Anfragen – zum Beispiel, ob ich der Host des Podcast NETFLIXWOCHE werden will oder Ombudsmann für das Mindener Tageblatt (MT). Ich habe beides zugesagt, aus unterschiedlichen Gründen: Der Podcast zahlt meine Miete und noch ein bisschen mehr. Der Job beim MT bringt mich zurück zu meinen Wurzeln und zu den Wurzeln dieses großartigen Berufes.

Beide Tätigkeiten sind in meinem elektronischen Kalender fest eingeschrieben, klare Zeiten, wann ich mich worum kümmere. Die weißen Flächen innerhalb dieses Kalenders zeigen mir die Grenzenlosigkeit der eigenen Möglichkeiten. Ich schreibe. Zum einen einen Newsletter über das Fernsehen mit dem ich quasi kein Geld verdiene und den niemand liest, der mich beim Schreiben aber diszipliniert. Einmal die Woche, ein halber Tag. Die restlichen weißen Flächen nutze ich, um an zwei Geschichten zu schreiben, von denen ich nicht weiß, was sie werden, ob sie überhaupt etwas werden. Vielleicht ein Buch? Eine Fernsehserie? Keine Ahnung. Erstmal schreiben – das bin ich mir und meinem Traum von damals schuldig.

Kein Königsweg

Ich verdiene weniger als früher. Und arbeite mehr. Trotzdem habe ich mehr Zeit. Das geht so: Wenn ich am Schreibtisch sitze, dann arbeite ich, also wirkliche Arbeit. Früher saß ich in Konferenzen, musste telefonieren, das zog sich alles hin. Ich war abhängig von den weißen Flächen in den Terminkalendern von anderen. Dieses Abhängigkeit ist weg, und ich will sie nie wieder haben. Ich habe zur Halbzeit meiner sogenannten Karriere die Art und Weise, wie ich arbeite, und im Moment gibt es nichts, was mich wieder in eine Festanstellung treiben könnte.

Aber kann man daraus ein Regeln ableiten? Nein, natürlich nicht. Ein Lebenslauf ist ja keine Handlungsanweisung, es gibt nicht den Königsweg, es gibt viele Wege und sie sind alle holprig und nicht mit Gold gepflastert. Aber ich glaube, dass jeder einen Weg finden kann, der passt – es kommt halt nur drauf an, wo man hinwill. Und was einen treibt.

Und dass man keine Angst hat vor der Angst.

 

* Der Text ist das überarbeitete Manuskript eines Impulsvortrags, den Matthias Kalle im Dezember vor Journalistik-Studierenden der Universität Hamburg in der Ringvorlesung „Kommunikation als Beruf“ bei Message-Herausgeber Volker Lilienthal hielt.

#nr18 | Journalist:INNEN

“Es geht um die Expertise – nicht das Geschlecht” (22. Oktober 2018)

‚Dicke-Eier-Themen’ sind Geschichten hinter verschlossenen Türen, mit komplexen Datenmengen oder in gefährliche Milieus. Die Recherchen ähneln der Arbeit von Detektiven und werden fast immer von Männern übernommen. Warum sind Frauen im Investigativjournalismus so selten? Zwei junge Kolleginnen berichten aus ihrem Arbeitsalltag in einer Männerdomäne.

von Wiebke Bolle und Tabea Schäffer

Pascale Müller (BuzzFeedNews) und Margherita Bettoni (Correctiv) sind zwei junge Frauen im männerdominierten Investigativjournalismus. Ihre Recherchen handeln von Politik, sexualisierter Gewalt oder der Mafia –  sogenannte harte Themen, die oft von männlichen Kollegen beackert werden. Kein Wunder, dass die großen Journalistenpreise fast alle an Männer gehen. Was macht den investigativen Journalismus zur vermeintlich letzten Männerdomäne der Branche?

Klischees als Hindernis

Pascale Müller von Buzzfeed Deutschland
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Foto: Stefan Beetz

BuzzFeedNews-Reporterin Müller meint, es gebe ein Missverständnis darüber, was unter dem Begriff ‚investigativ‘ zu verstehen sei. Denn Themen könnten investigativ sein, ohne von Korruption oder der Mafia handeln zu müssen. Zum Beispiel könne man auch über soziale Ungerechtigkeit oder den Pflegebereich aufdeckend recherchieren. Dies tun aber noch immer vergleichsweise wenig Frauen. Doch warum eigentlich? Ein Grund könnte die  klischeehafte Wahrnehmung bei der Rollenverteilung im Journalismus sein: Männer machen die gefährlichen, übergeordneten, schwierigen Themen und Frauen eben die seichteren aus dem Alltag. Das ärgert Müller, denn „es geht um die jeweilige Expertise einer Person, statt um ihr Geschlecht.”

Frauen trauen sich zu wenig zu

„In der Branche scheitern Frauen manchmal, weil sie sich Vieles selbst nicht zutrauen”, so Müller weiter, die für ihre Recherchen zu sexueller Gewalt an Erntehelferinnen mit dem Otto-Brenner-Preis ausgezeichnet wurde. Frauen sind also oft nicht selbstbewusst genug. Das verbreitete Bild des ‚harten, aggressiven Journalisten’ lässt viele Frauen vom Investigativjournalismus zurückschrecken. Müller plädiert deshalb dafür, Verunsicherung und Selbstzweifel zu überwinden. „Sie sollten ein gesundes Selbstbewusstsein für sich und ihre Themen entwickeln – Eier zeigen!”

Die männliche Herangehensweise

Männer dagegen fühlen sich häufiger für bestimmte Themenbereiche zuständig, gehen selbstsicherer an Recherchen heran und sehen sich eher als Experten. „Ich habe mich lange nicht getraut, ‚Mafia-Expertin’ auf meine Visitenkarte zu schreiben, obwohl ich schon über vier Jahre in dem Milieu unterwegs bin”, sagt Bettoni von Correctiv. Ihre Kollegen hätten das schon nach zwei kurzen Recherchen behauptet. Die Italienerin schreibt einen eigenen Mafia-Blog für das investigative Recherchezentrum. Ihr Spezialgebiet: Drogen, Schwarzgeld, Morde und Ermittlungen.

Selbstvertrauen, Frauennetzwerke, Mut

Ein Rat, den Müller Kolleginnen mit auf den Weg geben möchte, ist, den Irrglauben zu überwinden, Investigativjournalismus beruhe auf angeborenem Talent. „Das ist kein Hexenwerk, sondern journalistisches Handwerk”, betont die Reporterin. Doch Selbstunterschätzung ist ein weitverbreitetes Phänomen unter Frauen und eine der größten Hürden in der Branche. Journalistinnen sollten mehr einfordern, ohne ein schlechtes Gewissen zu haben. Bettoni ermutigt zudem zum Aufbau eines eigenen Netzwerks. „Unterstützt und vernetzt euch. Knüpft Kontakte in Redaktionen, tauscht euch untereinander aus und stellt Fragen”, schlägt sie vor. Als Investigativjournalistin braucht es also persönliches Engagement, Selbstvertrauen und Solidarität – aber vor allem Mut.

#nr18 | Journalist:INNEN | Lokaljournalismus

Junge Chefredakteurinnen wollen Mut machen (27. September 2018)

Zwei Chefredakteurinnen zeigen, welche Rolle es spielt, wenn auf dem Chefsessel der Lokalredaktion eine Frau sitzt und welche Herausforderungen sie dabei meistern müssen.

von Nele Wehmöller

Nur fünf von 100 Chefredakteuren deutscher Lokalzeitungen sind weiblich. Das hat eine Studie des Vereins ProQuote Medien gezeigt, für die 2016 100 Regionalzeitungen in Deutschland untersucht wurden, die ihren Mantelteil noch selbst produzieren. Zwei dieser fünf Frauen sind Sabine Schicketanz und Ulrike Trampus.

Schicketanz übernahm schon früh Verantwortung. Mit 26 Jahren Lokalchefin, mit 37 Chefredakteurin der Potsdamer Neueste Nachrichten (PNN): Als junge, blonde Frau konnten manche Kollegen mit ihr als Chefin gar nicht umgehen. „Das musste sich erst einspielen“, sagt die heute 41-Jährige. Ihr sei es dann darauf angekommen, sich Glaubwürdigkeit und Vertrauen zu erarbeiten, als Vorbild zu agieren und gleichzeitig authentisch zu bleiben.

Frauen führen anders

Dass die Kommunikation im Team mit einer Frau an der Spitze eine andere ist, weiß auch Trampus, Chefredakteurin der Ludwigsburger Kreiszeitung. „Die Herangehensweise an Themen, das Arbeiten im Team und die Abgabe von Verantwortung sind unter der Führung einer Frau anders.“ Sie gibt gerne viel Verantwortung an ihr Team ab, dem sie ohne viel Kontrolle vertraut.

Seit mittlerweile 15 Jahren ist sie Chefredakteurin bei verschiedenen Lokalzeitungen. Ihres Wissens nach gab es seitdem nie mehr als sieben Chefredakteurinnen bei den deutschen Lokalzeitungen. Früher seien Kollegen aus anderen Redaktionshäusern zudem oft überrascht gewesen, wenn sie erfahren hätten, dass sie Chefredakteurin ist. Das sei heute nicht mehr so, da habe sich schon etwas verändert.

Aber noch nicht genug, findet Schicketanz: „Ich glaube, dass sich vermutlich in vielen Redaktionen die Vertrauenskultur ändern muss, und zwar in beide Richtungen. Es sollten die Verantwortlichen Frauen genauso viel vertrauen wie Männern und es sollten Frauen mehr auf sich vertrauen.“ Es gebe einen Mentalitätswechsel, der in vollem Gange sei und zu dem auch die #MeToo-Debatte beigetragen habe.

Es sei gut, dass Frauen nun wüssten, dass sie sich nicht alles gefallen lassen müssten. Gleichzeitig ist es Schicketanz wichtig, dass Frauen in der Redaktion nicht vorsichtiger behandelt werden. Unabhängig vom Geschlecht sollten alle Kollegen konstruktiv, kritisch und menschlich fair miteinander umgehen.

„Geschlecht spielt keine Rolle“

Ähnlich denkt auch Benjamin Piel, der im Juni neuer Chefredakteur des Mindener Tageblatts (MT) geworden ist und somit nun zu den 95 lokalen Chefredakteuren in Deutschland gehört. Er unterscheide gar nicht zwischen Frauen und Männern. Für ihn spiele das im Redaktionsalltag keine Rolle. Im Übrigen seien drei seiner fünf Ressortleiter weiblich. Von einer Quote, die der Verein ProQuote Medien seit 2012 fordert, halte er daher wenig. Schließlich müssten auch die Qualifikationen stimmen.

Dass gerade in bereits modern aufgestellten Verlagen wie der PNN oder dem MT auch mehr Frauen zum Zuge kommen, beobachtet auch Johanna Lemke. Sie ist Kulturredakteurin der Sächsischen Zeitung und hat als ehemaliges Vorstandsmitglied von ProQuote die Studie zu den weiblichen Führungskräften in den Lokalmedien mit durchgeführt. Ein Großteil der Verlage sei oft noch ein Familienunternehmen mit sehr konservativen Strukturen. Das Bewusstsein für eine nötige Veränderung sei hier noch gar nicht vorhanden.

In der Mediendebatte werde der Blick immer auf Spiegel, Süddeutsche und Co. gelegt und die Leistung der Regionalzeitungen gar nicht diskutiert, kritisiert Lemke. Es könne nicht sein, dass nicht auffällt, wie wenige Frauen dort in Führungspositionen oder Stellvertreterpositionen arbeiten würden. Laut ProQuote sollen daher die Zahlen der Studie Ende 2018 überprüft und auf den aktuellsten Stand gebracht werden.

Forschungsbedarf bei Lokaljournalisten

Dass in diesem Bereich noch Forschungsbedarf besteht, bestätigt auch Wiebke Möhring, Professorin für Journalistik an der Technischen Universität Dortmund. „Auf gesicherter Datenlage wissen wir relativ wenig über die Alters-, Geschlechts- und Ausbildungsstrukturen von Lokaljournalisten“, sagt sie. Die letzten wissenschaftlichen Untersuchungen lägen Jahre zurück. Oft gebe es daher nur vage Einschätzungen oder Beispiele, die auch die aktuelle Rolle der Frauen dort thematisieren würden.

Vor allem bei den überregionalen Medien hat sich die Situation durch die Forderung einer Quote laut Sabine Stamer, Vorstandsmitglied von ProQuote, aber schon gebessert. Bei den Lokalmedien bedürfe es hingegen weiter Geduld und Druck, damit Frauen nicht mehr nur als „Eyecandy“ gesehen würden. „Die Arbeitsverhältnisse müssen so gestaltet werden, dass auch Familien existieren können.“ Dabei sei es wichtig, dass auch Männer und nicht nur Frauen das Recht und die Möglichkeit haben, sich um ihre Kinder zu kümmern. Es müsse neu darüber nachgedacht werden, wie es gelingen könne, dass Frauen Kinder haben und gleichzeitig engagiert Karriere machen können.

Familie und Beruf unter einen Hut zu bekommen, sei definitiv nicht einfach, gibt Schicketanz zu. Ob sie Chefredakteurin werden wolle, wurde Schicketanz 2014 gefragt, als sie gerade im Mutterschutz mit ihrer zweiten Tochter war. Keine leichte Entscheidung, wenn der Vater ebenfalls als Journalist berufstätig ist. „Je mehr Zeit man in der Redaktion verbringt, desto höher ist der Preis. Aber man kann das alles organisieren“, betont die Potsdamer Chefredakteurin. Sie rät jungen Journalistinnen daher, mutig zu sein und sich nicht von Fragen der Vereinbarkeit von Familie und Beruf einschüchtern zu lassen, sondern mit gutem Beispiel voranzugehen. Wenn es niemand vorlebe, ändere sich schließlich nichts.

Vereinbarkeit von Familie und Beruf

Bei Ulrike Trampus war das anders. Kinder zu bekommen, hat sich bei ihr nicht ergeben. Mit Abend- und Wochenendterminen sei ihre Position eben kein Nine-to-Five-Job. Dass sich viele Frauen aber gar nicht erst trauen, Verantwortung zu übernehmen, beobachtet auch sie. Bei einer kürzlich ausgeschriebenen Stelle einer Ressortleitung hätte sich von 30 Interessenten nur eine Frau beworben.

Damit Journalistinnen mehr auf die eigenen Fähigkeiten vertrauen, setzt sich neben ProQuote beispielsweise auch der Journalistinnenbund für Frauen im Journalismus ein. Er unterstützt und ermutigt junge Journalistinnen, sich zu einer Führungsposition hochzuarbeiten. Die Vorsitzende Rebecca Beerheide betont, dass vor allem das Netzwerken mit anderen Kolleginnen innerhalb und außerhalb der eigenen Redaktion dafür wichtig ist. Als Frauen müsse man in der Branche, in der es oft auch um Konkurrenzverhalten gehe, zusammenhalten. Ihr Verein bietet neben Netzwerkmöglichkeiten in Regionalgruppen spezielle Mentoring-Programme an. Dabei werden junge Journalistinnen von erfahreneren Kolleginnen begleitet.

Als gutes Beispiel vorangehen und zeigen, dass auch Frauen im Journalismus Verantwortung übernehmen und eine Redaktion leiten können, darum geht es Schicketanz und Trampus. Auch Piel ist das im Umgang mit Frauen in einer Lokalredaktion wichtig. „Wir müssen in ganz vielen Punkten Mutmacher sein“, so Piel. Ob nun als Mann oder Frau – das sollte gar keine Frage mehr sein.

#nr15 Spezial | Audio | Journalist:INNEN

Podcast: Werbung in eigener Sache (17. Dezember 2015)

Wie sich Frauen im Journalismus besser vermarkten können. (5:31 Minuten)

Es reicht nicht, nur gut zu sein – man muss die Leistung auch sichtbar machen. Selbstvermarktung im Journalismus bedeutet mehr, als den eigenen Namen unter einen Artikel zu setzen. Besonders Frauen tun sich aber schwer damit, auf sich aufmerksam zu machen. Woran das liegt und worauf Frauen achten sollten, wissen Gianna Possehl und Kixka Nebraska. Possehl arbeitet als Beraterin, Coach und Moderatorin. Nebraska analysiert und optimiert digitale Profile. Sie ist zudem Mitbegründerin der Digital Media Women.

von Petra Maier und Eva Book

#nr15 Spezial | Interview | Journalist:INNEN

Journalismus von Frauen über Frauen für alle (14. August 2015)

Früher ARD-Korrespondentin, heute „Deine Korrespondentin“ – Pauline Tillmann hat ihren Posten als freie Reporterin in St. Petersburg verlassen, um in Deutschland ein eigenes Medium zu gründen. Mit ihrem digitalen Magazin wollen Tillmann und ihr Journalistinnen-Team Geschichten von Frauen aus aller Welt erzählen. Aber auch die Korrespondentinnen selbst werden hier sichtbar. (mehr …)