von Malte Werner*
Achtundzwanzig Mitglieder hatte Ibrahims Familie, als im Sommer 2014 der Tod in ihr kleines Dorf im Herzen Sierra Leones kam. Das Ebola-Virus nahm dem damals 9-Jährigen nach und nach Großeltern, Eltern, Brüder, Schwestern, Onkel, Tanten, Cousinen und Cousins. Heute sind sie noch zu viert.
Ich habe Ibrahim ein paar Jahre danach getroffen. Für eine Reportage über Trauma und Resilienz besuchte ich sein Dorf und sprach mit dem mittlerweile Zwölfjährigen und seiner Tante. Oder besser: Ich versuchte, mit ihnen zu sprechen. Warum das gründlich schiefgegangen ist, habe ich erst später durch die Psychologin Katherine Porterfield vom „Program for Survivors of Torture“ an der New York University verstanden. Ihre Tipps zum journalistischen Umgang mit traumatisierten Menschen, speziell Kindern, hätten mir Scham- und Schuldgefühle erspart. Was sie Ibrahim erspart hätten, kann ich nur erahnen.
Wie interviewt man als Reporter ein traumatisiertes Kind wie dieses Mädchen, das seine Familie durch Ebola verloren hat? Der Autor hätte sich für seine Recherchereise nach Sierra Leone Tipps wie die von Katherine Porterfield gewünscht.
Ibrahim war (und ist vermutlich bis heute) schwer traumatisiert. Dessen war ich mir auch damals schon bewusst und hatte mir deshalb vor dem Treffen überlegt, welche Fragen ich stellen kann, ohne die seelischen Wunden des Jungen erneut aufzureißen. „Wie war das so für dich?“ und „Vermisst du deine Eltern?“ gehörten schon mal nicht dazu. Außerdem sollte sich der Junge möglichst sicher und geborgen fühlen, weshalb wir uns für das Gespräch in seinem Elternhaus trafen. Seine Tante war bei ihm.
Dennoch wurde schnell klar: Keiner der Beteiligten fühlte sich wohl. Ibrahim nicht, weil Kinder in der Gegenwart von Fremden ganz einfach eine gewisse Scheu an den Tag legen und dieser fremde (weiße) Mann auch noch nach Dingen fragte, die Ibrahim vermutlich am liebsten vergessen würde. Ich fühlte mich genauso unwohl, weil ich zwar verstehen wollte, was ein solcher Verlust für ein Kind bedeutet. Gleichzeitig aber wirkte das Wühlen in den Erinnerungen und Emotionen des Kindes unangebracht. Und so fragte ich mich noch während des Treffens: „Was zum Teufel machst du hier?“ Braucht Ibrahim, dessen Leben auch so schon schwer genug war, jemanden, der ihn daran erinnert?
Ibrahim antwortete dennoch höflich auf alle meine Fragen. Meist mit Ein-Wort-Sätzen. Oft nur mit ja oder nein. Ich bohrte nicht nach. Stattdessen liefen wir irgendwann nebeneinander über den staubigen Bolzplatz des Dorfes und sprachen über Fußball und Ibrahims Traum, Lehrer zu werden. Dabei lächelte er sogar kurz.
Wie gut, dass der gesunde Menschenverstand hier stärker war als meine journalistische Neugierde. Denn auch ohne irgendetwas von Psychologie zu verstehen, war mir bewusst, dass ich Ibrahim mehr schaden konnte als er mir helfen.
Wie sehr das zutrifft, wie gefährlich unsere Arbeit für unsere Protagonisten sein kann, erfuhr ich im September in New York. Das Dart Center for Journalism and Trauma an der Columbia University veranstaltete einen Workshop zum Thema „Reporting on Refugees and Migration Through the Eyes of Young Children“ und hatte dazu unter anderem Psychologin Porterfield eingeladen.
„Erinnern ist das gleiche wie Angsthaben“, sagt die Psychologin Katherine Porterfield.
„Wenn man ein Kind bittet, sich an etwas Schlimmes zu erinnern, kann das bei ihm eine Angstreaktion auslösen“, sagte sie dort und erklärte die Ursache mit der Funktionsweise des menschlichen Gehirns: „Erinnern ist das gleiche wie Angsthaben.“
Damit Journalisten nicht durch unbedarfte Fragen eine solche Situation hervorrufen, hat Porterfield einen Interview-Ratgeber entwickelt, der in sieben Schritten erklärt, wie man relevante Aussagen von einem traumatisierten Kind erhalten kann, ohne dessen psychische Gesundheit zu gefährden – und die eigene. „Bei Interviews mit traumatisierten Kindern besteht immer die Gefahr, bei ihnen etwas zu triggern und selbst von den Schicksalen überwältigt zu werden“, warnte Porterfield die rund 30 Teilnehmer des Workshops.
Um die Kinder zu schützen, riet sie deshalb zum Einsatz von zentralen Therapie-Techniken, die auch für Psychologie-Laien problemlos anwendbar sind. Die im Folgenden aufgezählten Techniken und Interview-Tipps sind eine Zusammenfassung von Porterfields Vortrag:
Technik 1: Um Erlaubnis bitten
Dabei geht es nicht um die (ebenfalls wichtige) rechtliche Absicherung, sondern darum, dem Kind nicht das Gefühl zu geben, es werde über seinen Kopf hinweg entschieden. Trauma-Opfer haben Zustände absoluter Hilflosigkeit erlebt. Deshalb sollten sie das Gefühl (und das Recht) haben, selbst entscheiden zu können. Das gilt nicht nur für den Einstieg ins Gespräch, sondern für jede thematische Wendung.
Achtung! Bei Personen, die verhört und gefoltert wurden, können Fragen Angstreaktionen triggern.
Beispiel: „Ist es in Ordnung, wenn wir über die Zeit im Flüchtlingslager sprechen? […] Darf ich dich etwas über deine Familie fragen?“
Technik 2: Erinnerungen auslagern (Displacement)
Kinder reagieren in der Regel nicht auf direkte Fragen nach ihrer Gefühlslage („Warum bist du so wütend?“ „Weiß nicht.“). Auch sollte man im Interview, um Angstreaktionen zu vermeiden, Kinder nicht direkt mit ihren traumatischen Erlebnissen konfrontieren. Deshalb fragt man sie nicht nach ihren eigenen Erfahrungen, sondern abstrahiert das Erlebte auf ein „anderes“ Kind („Es gibt hier viele wütende Kinder. Ich frage mich, was sie so wütend macht?“). Die Kinder übertragen dann ihre eigenen Erfahrungen in ihrer Erzählung auf „die anderen“, ohne es zu merken. Das Problem für Journalisten (vor allem wenn sie O-Töne aufzeichnen), dass sich so keine Zitate aus der Ich-Perspektive des Kindes ergeben, ist eher handwerklicher, weniger faktischer Natur.
Achtung! Wenn die abstrahierten Aussagen des Kindes mit seinem persönlichen Schicksal verknüpft werden („Ist das der gleiche Grund, warum du wütend bist?“), kann das eine Angstreaktion auslösen.
Beispiel:
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- „Was müssen Kinder machen, wenn Bomben fallen?“
- „Unter dem Bett verstecken.“
- „Was passiert, wenn sie sich verstecken und die Explosionen hören? Macht ihnen das Angst?“
Diese Techniken helfen laut Porterfield dabei, Interviews mit traumatisierten Kindern zu führen, ohne sie in eine unangenehme Lage zu versetzen oder eine Angstreaktion auszulösen. Für den Ablauf eines solchen Gesprächs schlägt die Psychologin sieben Schritte vor und erklärt, wie diese im Einzelnen dem Reporter und dem traumatisierten Kind helfen.
Schritt 1: Zustimmung einholen
Einen Erziehungsberechtigten (oder das, was dem in der jeweiligen Situation am nächsten kommt) um Erlaubnis zu bitten, das Kind zu interviewen, ist eine rechtliche Absicherung für den Reporter. Es ermöglicht außerdem, Vertrauen aufzubauen, indem man offen darüber spricht, was man da eigentlich macht und wofür man das Interview verwendet (z. B. für einen Artikel).
Wenn das Kind zu Beginn des Interviews erfährt, dass man um Erlaubnis gefragt hat, und es in die Entscheidung einbezieht, gibt man ihm nicht das Gefühl, übergangen zu werden, und verursacht nicht erneut ein Gefühl von Hilflosigkeit (s. Technik 1).
Beispiel: „Ich habe deine Tante gefragt, ob es okay ist, dass wir zwei uns unterhalten. Was meinst du? Wäre das in Ordnung?“
Schritt 2: Ablauf erklären
Um die für ein Trauma-sensitives Interview nötige Zeit für eine behutsame Einführung ins Thema und einen (auch mentalen) Abschluss einzuhalten, hilft es, den Ablauf des Gesprächs vorab grob zu planen (z. B.: 5 Minuten für die Vorstellung, 20 Minuten für das Interview, 5 Minuten für den Abschluss) und mit dem Kind abzusprechen. Dem Kind hilft es, selbst wenn es noch keine genaue Vorstellung von Zeit hat, sich ein Bild davon zu machen, was gleich passieren wird, und gibt ihm vor dem Hintergrund von Angsterfahrungen und erlebter Hilflosigkeit eine gewisse Sicherheit (s. Technik 1).
Beispiel: „Ich würde gerne mit dir über das sprechen, was in deinem Land passiert ist. Ich dachte an 30 Minuten, die wir hier zusammensitzen. Wäre das in Ordnung für dich?“
Schritt 3: Verbindung aufbauen/Vertrauen gewinnen
Sofort mit den Fragen nach den traumatischen Erfahrungen einzusteigen, ist natürlich nicht ratsam. Um die für das Kind ungewohnte (und vielleicht unangenehme) Situation aufzulockern, hilft es, zunächst mit unverfänglichen Themen einzusteigen (z. B. Schule, Hobbys). Außerdem sollte man sich auf Augenhöhe mit dem Kind unterhalten, also entweder auf Knien oder im Sitzen. Um Vertrauen aufzubauen: auf einer mitgebrachten Karte zeigen, aus welchem Land man selber stammt; die Kinder einen Blick ins eigene Notizbuch oder auf die Kamera werfen lassen; ihnen die Chance geben, sich selbst einzubringen. So haben sie nicht das Gefühl, zum Objekt degradiert zu werden wie es in der Situation gewesen ist, die ihr Trauma ausgelöst hat. Dem Reporter helfen diese ersten Minuten auch dabei zu erkennen (zumindest mit etwas Erfahrung), wie sich das Kind verhält und ob es überhaupt in der Lage ist, dieses Gespräch zu führen.
Beispiele: „Schreibst du mir deinen Namen in den Notizblock?“
„Was, findest du, sollte ich noch über dich wissen? Wenn ich deine Geschichte aufschreibe? Was sollen die Leute über dich erfahren?“
Schritt 4: Thema einführen
Für den Reporter kommt nun der entscheidende Part des Interviews. Deshalb sollte man sich vorher überlegen, zu welchem Thema man unbedingt die Aussage des Kindes braucht, und darauf hinarbeiten. Dem Kind gegenüber sollte man das Thema klar kommunizieren. Es muss aber keine „steife“ Interviewsituation sein – Malen oder Spielen können auch starke Ausdrucksformen sein.
Beispiel: „Ich würde jetzt gerne mit die über deine Heimat sprechen und den Krieg dort. Ist das in Ordnung?“
Wenn das Thema im direkten Bezug zur Ursache der Traumatisierung steht, kann Displacement (Technik 2) angewendet werden.
Beispiel: „Einige Kinder hier sprechen über den Krieg. So können wir Erwachsene auch verstehen, wie sich Kinder im Krieg fühlen. Was, meinst du, sagen die Kinder über den Krieg?“
Es ist auch möglich, das Kind zu aktivieren, indem man es sehr direkt um Mithilfe bittet, seine schrecklichen Erfahrungen für einen positiven Zweck zu nutzen (sog. Mastery).
Beispiel: „Ich möchte Kindern in meiner Heimat beibringen, was sie tun müssen, wenn etwas Schreckliches passiert. Ich weiß, dass hier schreckliche Dinge passiert sind. Könnt ihr mir dabei helfen, ein Buch für diese Kinder zu schreiben/malen?“
Sollte das Kind sichtbar überfordert sein (z. B. sich zurückziehen, viel weinen, abwesend sein usw.), ist es besser, das Gespräch zu beenden.
Schritt 5: Reflektieren/Gehörtes wiederholen (reflecting back)
Die Antworten des Kindes noch einmal zu wiederholen (dabei die Sprache des Kinds verwenden!) und nachzufragen, ob man alles richtig verstanden hat, hat Vorteile für alle Beteiligte. Für den Reporter ist es ein Faktencheck (Frage: Bestätigt das Kind seine Aussage von vorhin?). Das Kind hingegen bekommt den Eindruck, dass ihm zugehört wird – eine gegenteilige Erfahrung zur erlebten Hilflosigkeit. Lässt sich gut durch den Einsatz von Technik 1 ergänzen.
Beispiel: „Was du mir hier erzählst, ist wirklich wichtig. Kann ich dich fragen, ob ich dich richtig verstanden habe? […] So wie ich dich verstanden habe, hattest du Angst, weil Männer in euer Dorf kamen und Leute totgemacht haben.“
Schritt 6: Seelisches Aufräumen
Wenn man mit seinen Fragen durch ist und die wichtigsten Zitate im Block stehen, nicht einfach verschwinden und das Kind in seiner aufgewühlten Gedankenwelt zurücklassen. Um das Kind mental aus der Interviewsituation herauszuholen, hilft es, seine Notizen oder Aufnahmen aus dem Gespräch zu zeigen und positives Feedback zu geben. Das wirkt nicht nur sinnstiftend, sondern macht dem Kind verständlich, was es im Gespräch geleistet hat („Mastery“). So hat es nicht das Gefühl, benutzt worden zu sein – ein Gefühl, dass es möglicherweise in einer traumatischen Situation erlebt hat.
Beispiel: „Jetzt sind wir gleich fertig. Gibt es noch irgendetwas, was du mir sagen möchtest? […] Dank dir habe ich heute viel gelernt. Sieh mal, wie viele wichtige Dinge ich mir im Gespräch aufgeschrieben habe. Das hilft mir sehr dabei, über dein Land zu berichten.“
Schritt 7: Geordneter Übergang
Reporter bleiben von den Schicksalen ihrer Protagonisten selten unberührt. Schon zum Selbstschutz ist der letzte Schritt deshalb sinnvoll. Denn wer ein Kind in einem stabilen emotionalen Zustand zurücklässt, muss sich mit zumindest einem Schuldgefühl weniger herumplagen („Konnte ich nicht mehr für dieses Kind tun?“). Im Schritt zuvor wurde dem Kind das Gefühl gegeben, gebraucht zu werden. Aufbauend auf dieser positiven Erfahrung bereitet man das Kind nun auf die Post-Interviewphase vor.
Beispiel: „Was machst du gleich, wenn unser Gespräch vorbei ist?“
Vor allem wenn das Kind noch seelisch angefasst wirkt, lassen sich die Bewältigungsstrategien des Kindes mit einer Mischung aus Displacement und Mastery aktiv unterstützen.
Beispiel: „Viele Kinder überlegen sich, was sie Schönes tun können, damit sie sich wieder besser fühlen, nachdem sie über etwas Trauriges gesprochen haben. Ein Kind hat mir erzählt, dass es dann immer Fußball spielt. Hast du eine Idee, was Kinder machen können, wenn sie traurig sind? Es wäre toll, wenn du mir einen Tipp geben könntest. Dann kann ich das den anderen Kindern im Flüchtlingslager sagen und ihnen vielleicht helfen.“
Achtung! Ein Satz wie „Ich kann mir vorstellen, wie traurig du bist“ konfrontiert Kinder direkt mit negativen Emotionen. Es ist besser, ihnen unterschwellig Wege aufzuzeigen, mit ihrer Traurigkeit umzugehen.
Beispiel: „Ich weiß, dass manche Kinder traurig sind, wenn sie über den Krieg sprechen. Manche von ihnen nehmen dann einen lieben Menschen ganz fest in den Arm. Was, meinst du, können Kinder sonst noch machen?“
Halten Journalisten diese psychologischen Leitplanken im Gespräch mit traumatisierten Kindern ein, ist es möglich, aus deren Erinnerungen nützliche Informationen für die Berichterstattung zu filtern, ohne die Kinder erneut zu traumatisieren. Ganz ausschließen kann man es aber nicht. Vor allem als psychologischer Laie.
Der libanesische Trauma-Therapeut Khaled Nasser aus Beirut, der ebenfalls als Experte beim New Yorker Workshop geladen war, riet deshalb dazu, Kinder nur dann diesem Risiko auszusetzen, wenn es keine Alternative gebe. Ansonsten sei es ratsam, sein Glück zunächst bei einem Erwachsenen (die natürlich auch traumatisiert sein können) zu versuchen. Den anwesenden Journalisten gab Nasser noch einen Rat mit auf den Weg: „Ihr werdet in diesen Situationen nicht unverletzt davonkommen. Akzeptiert es!“ Deshalb sei es wichtig, sich im Nachgang auch um sich selbst zu kümmern (z. B. Abschalten).
Vor einigen Tagen habe ich von Ibrahims Lehrer die Nachricht erhalten, dass der Junge mittlerweile zu seiner Schwester in die Stadt gezogen sei und dort in eine der besten Schule der Region gehe. Er hat ihn sogar dort besucht und mich per Videoanruf dazugeschaltet. Ibrahim war immer noch schüchtern, aber es schien ihm gut zu gehen.
*Der Autor hat 2017 an einem Trauma-Workshop des Dart Center teilgenommen, infolgedessen die Idee für die Reportage aus Sierra Leone entstanden ist. Im September 2019 hat ihn das Dart Center daraufhin erneut eingeladen, um seine Erfahrungen mit den anwesenden Kollegen zu teilen.