#nr20 | Handwerk
Moral allein reicht nicht

Aktuell streiten Journalist*innen über die Frage, ob sie gerade in unruhigen Zeiten Haltung zeigen sollten. Wer die Debatte verfolgt, stellt fest: Es dominiert die Schwarz­weißmalerei, Raum für Zwischentöne gibt es kaum

von Friederike Deichsler und Lucas Wendt

Rassismus, Klimapolitik oder Rechtspopulismus – Themen, die polarisieren. Doch kann es nach den Angriffen von Halle und Hanau sowie dem Tod des Afroamerikaners George Floyd durch Polizeigewalt ernsthaft noch jemanden geben, der Rassismus nicht als das erkennt, was er ist: ein tiefverwurzeltes, gesellschaftsübergreifendes Problem? Nicht nur in Teilen der Bevölkerung, auch im Journalismus wächst das Bedürfnis sich zu positionieren, zu engagieren, sprich: Haltung zu zeigen. Das hat eine weitreichende Debatte ausgelöst, bei der es um nicht weniger als das berufliche Selbstverständnis geht.

Überholtes Ideal?

Für besonders starke Irritation sorgte ein Kommentar von Spiegel-Redakteur Philipp Oehmke, in dem er den neutralen Journalismus als „überholtes Ideal“ verwirft und sich „einen entschiedeneren Journalismus in unversöhnlichen Zeiten“ wünscht. Auch andere Kolleg*innen, darunter Florian Gathmann aus dem eigenen Haus, stiegen in die Debatte ein – mit teils konträren Meinungen.

Fast alle thematisierten dabei das Grunddilemma, dass es „echte“ Objektivität und Neutralität im Journalismus sowieso nicht geben kann. Die Schlussfolgerungen gingen jedoch weit auseinander. Die einen sehen Neutralität gerade deshalb als Leitlinie, die Orientierung bietet. So hält der ehemalige ZDF-Auslandskorrespondent Claus Richter im Cicero klassische Berufsnormen hoch, zu denen eben auch eine klare Trennung von Nachricht und Meinung gehört. „Wenn Sie predigen wollen, gehen Sie in die Kirche“, zitiert er den legendären Monitor-Chef Claus Hinrich Casdorff. In der gegenwärtigen Medienlandschaft beobachtet Richter einen Hang zur Moralisierung: „So eilt der neue Journalismus von Front zu Front, getrieben vom Vorsatz, dem Guten und Gerechten zu dienen, zum Sieg zu verhelfen.“

„Uninteressant und unaufrichtig“

Tatsächlich scheinen bei vielen Themen nur noch moralische Extrempositionen zu existieren. Fridays for Future auf der einen, die Klimaleugner auf der anderen Seite. Und dazwischen? Oehmke fordert mit Verweis auf die von US-Präsident Trump verbreiteten und von den Medien aus Gründen der Ausgewogenheit kolportierten Hassbotschaften bei solch aufgeladenen Debatten eine Abkehr vom Neutralitätsgebot. Ein solcher Journalismus wirke „uninteressant und unaufrichtig“. Spiegel-Kollege Gathmann schlussfolgert dagegen, dass gerade angesichts zunehmender Polarisierung in der Gesellschaft größtmögliche Neutralität wichtiger sei denn je. Das hieße jedoch nicht, dass Journalist*innen keine Haltung haben dürften.

Doch wie dieser Anspruch nach Neutralität auf der einen und Haltung auf der anderen Seite umgesetzt werden kann, ist nicht ganz einfach zu beantworten. Wie die Hörfunkjournalisten Manfred Kloiber und Peter Welchering in ihrem Podcast feststellen, berührt die Frage auch das journalistische Handwerk. Sie stimmen Richter zu, der meint: „Fundiertes Urteil kostet harte Arbeit und immerwährende Prüfung auch anderer Positionen.“ Kloiber ist sich sicher, dass viele Journalist*innen zwar gerne nach diesen Werten arbeiten würden, aber die Rahmenbedingungen dies nicht zuließen. Er spricht von Ersatzstrategien, beispielsweise in politischen Talkshows, wo versucht werde, Ausgewogenheit dadurch zu erreichen, möglichst viele Positionen abzubilden. „Pseudoobjektivität“ nennt er das. Ähnlich klingt es bei Oehmke, wenn dieser schreibt: „Wer stets allen Positionen Raum geben will, macht es sich einfach und begibt sich in eine moralische Indifferenz.“

Zeichen von Unsicherheit

Für Sonja Zekri von der Süddeutschen Zeitung (SZ) ist die Neutralitätsdebatte auch ein Zeichen von Unsicherheit – weil immer neue Perspektiven auftauchen, mehr Akteur*innen lange gültige Gewissheiten infrage stellen. Die SZ bekennt sich in ihrem unlängst veröffentlichten Redaktionsstatut explizit zu einer „klare[n] Haltung“ – wenn auch nur bezogen auf Meinungsbeiträge. Das Nebeneinanderstellen unterschiedlicher Sichtweisen macht aber noch keine Objektivität. Gleichzeitig bleibt fraglich, ob sich Verschwörungslegenden aus dem öffentlichen Diskurs aussperren lassen, wie Oehmke es fordert. Stattdessen muss man differenzieren: Das Einholen verschiedenster Standpunkte, das Anhören der Gegenseite ist und bleibt wichtig. Damit ist es aber nicht getan.

Journalismus wird erst dann zu gutem Journalismus, wenn er Aussagen gewichtet, einordnet und gegebenenfalls entscheidet, jemandem keine Bühne zu geben. Das geht nicht ohne gründliche Recherche. Dass sich Haltung und saubere journalistische Arbeit nicht ausschließen, davon ist auch Christian Meier überzeugt, wenn er in der Welt rhetorisch fragt: „Denn ist es nicht denkbar, die Gesellschaft durch die Aufdeckung sozialer Missstände verbessern zu wollen, und dies unter Beachtung klassischer journalistischer Prinzipien?“ Für den Umgang mit der AfD würde das etwa bedeuten, nicht mit reflexhafter Empörung auf jede polarisierende Äußerung zu reagieren, sondern mit sachlich-kritischen Nachfragen das berechnende Narrativ der Partei offenzulegen.

Die verfassungsrechtlich verankerte Meinungsfreiheit mag es erlauben, falsche Tatsachen zu behaupten. Der Journalismus darf das nicht. Wer jedoch von vornherein Meinungen ausschließt, kann das nicht allein mit Moral rechtfertigen.

10. August 2020