#NR23 | Pressefreiheit
»Wir sind im Kreuzfeuer der ­Regierung und krimineller Gruppen«

Die mexikanische Investigativ­journalistin Marcela Turati ­erlebt bei ihrer Arbeit ­staatliche Korruption und auch, dass Medien von Kriminellen ­gekauft sein können. Stets besonders bedroht: weibliche Journalistinnen.

 

Frau Turati, Mexiko gilt als das gefährlichste Land für Journalist*innen, dabei herrschen offiziell weder eine Diktatur, noch Bürgerkrieg. Wie würden Sie die Situation für Medienschaffende beschreiben?
Seit 2006 der Krieg gegen den Drogenhandel erklärt wurde, hat die Gewalt zugenommen. Armee, Marine und Bundespolizei haben für die Kartelle gearbeitet, die sie doch eigentlich bekämpfen sollten. Es gab zehntausende Tote, inzwischen spricht man sogar von hunderttausenden, mehr als 100.000 Menschen sind verschwunden. Viele Journalistinnen wurden ermordet, Regina Martínez in Veracruz oder Miroslava Breach in Chihuahua. Obwohl sich Mexiko nicht im Krieg befindet, steht es seit vielen Jahren an erster Stelle bei der Zahl der Morde an Journalisten und übertrifft manchmal Länder wie Syrien, Irak oder Ukraine.

Die mexikanische Regierung kritisiert und diskreditiert Journalist*innen öffentlich auf Pressekonferenzen. Wie wirkt sich das auf Medienschaffende aus?
Mit Amtsantritt des Präsidenten führte er eine tägliche Pressekonferenz ein, die »Mañanera«. Reine Propaganda. Journalisten werden darin herausgegriffen und beschuldigt. Es gibt Listen mit den »verlogensten Journalisten«. Ich habe eine Freundin, die über die Armee berichtete. Der Präsident fing an, sie vorzuführen. Sie war so traumatisiert, dass sie sich lange nicht traute, zu arbeiten. In sozialen Netzwerken wurde ein Shitstorm gegen die Journalistin Reyna Ramírez ausgelöst, der wegen ihrer unbequemen Fragen der Zutritt verwehrt worden war, die aber durch eine Amparo-Klage (eine Art Verfassungsbeschwerde) ihr Recht auf Teilnahme an der Pressekonferenz erstritten hatte. Sie verließ das Land für einige Monate.

Der Hass wirkt also bis in die Gesellschaft?
Der Präsident sagt, man könne den Medien nicht trauen und wettert gegen kritische Medien. Viele Menschen, die seine Botschaft täglich verfolgen, halten Journalisten für Feinde der Bevölkerung.

Sind Sie selbst jemals von der Regierung oder vom Präsidenten derart angegriffen worden?
Ich war selbst bei einer »Mañanera« und fragte nach den Versprechen, die den Familien der Verschwundenen gemacht wurden. Als ich ging, wurde ich in sozialen Netzwerken bereits kritisiert. Einige Personen beschuldigten mich, parteiisch zu sein, andere sagten, ich solle das Land verlassen. Ich wurde Ziel von Angriffen, die von der staatlichen Nachrichtenagentur Notimex angeordnet wurden, die diese Tweets gegen Journalisten orchestriert hatte. Jetzt ist sie geschlossen worden.

Offiziell gibt es ein staatliches Personenschutzprogramm. Wie sinnvoll ist dieser Schutz, wenn die Regierung und selbst Polizei und Staatsanwaltschaft korruptionsanfällig sind?
Das Schutzprogramm reicht nicht aus, die Zahl der Bedrohten und Gefährdeten steigt ständig. Die Bundesregierung wollte die Bundesstaaten auffordern, Verantwortung für den Schutz bedrohter Personen zu übernehmen. Doch bereits aus ihren Bundesstaaten vertriebene Journalisten bekamen Angst, weil es manchmal genau jene lokalen Machthaber sind, von denen sie verfolgt werden. Jetzt wurde dieses Vorgehen gestoppt. Die Regierung selbst gibt zu, dass sie mit der Betreuung der Betroffenen überfordert ist und der Mechanismus nicht funktioniert, solange die Staatsanwaltschaft nicht funktioniert. In mehreren Fällen wurden Journalisten trotz Schutzmaßnahmen getötet.

Berufsausstieg oder Exil – könnten Sie irgendwann vor dieser Frage stehen?
Ich glaube, jeder von uns mexikanischen Journalisten, die zu gefährlichen Themen recherchieren, hat schon einmal gedacht: Warum sind wir hier? Ist es das wert? Werden sich die Dinge jemals ändern? Wenn ich weitermache, dann weil ich glaube, dass es sich lohnt. Wir sind emotional so ausgebrannt, dass wir das Risiko als normal akzeptieren.

Nur um eine Vorstellung zu bekommen: Wie viele Drohungen erhalten Sie in einer Woche?
Es ist nicht so, dass wöchentlich etwas passiert. Lokaljournalisten werden am häufigsten bedroht. Ich selbst bin privilegiert, denn ich lebe in Mexiko-Stadt. Aber trotzdem ist es mir passiert. In Texas, an der Grenze in Juárez stiegen Kriminelle zu mir ins Auto und sagten, ich solle aufhören, Fragen zu stellen. Ein anderes Mal, als ich Leute mitten im Interview befragte, bekamen sie Anrufe, bekamen Angst und baten mich zu gehen, weil sie bedroht wurden, weil sie geredet hatten. Es gibt eine Akte der Generalstaatsanwaltschaft, aus der hervorgeht, dass sie mich aufgrund meiner Recherche zu einem Massaker an Migranten, sechs Monate lang verfolgt hatten. Sie wussten, mit wem ich gesprochen habe und über welchen Funkmast mein Handy verbunden war.

Spielt das Geschlecht eine Rolle bei den Drohungen?
Wir beobachten Unterschiede zwischen der Bedrohung weiblicher und männlicher Journalisten. Wenn eine Journalistin bedroht wird, betreffen diese Drohungen häufig ihre Sexualität, ihr Erscheinungsbild oder ihre Familie. In einem Fall brachen sie in das Haus einer Freundin ein und leerten ihre Unterwäscheschublade. In einem anderen hinterließen sie Exkremente in ihrer Toilette. Die Kollegin hatte zur Armee recherchiert. Bei einer anderen Kollegin haben sie ihre Hündinnen getötet. In den sozialen Netzwerken wird man aufgrund seines Äußeren beleidigt oder sie kündigen sehr explizit an, was sie mit dir machen werden, wie sie es mit dir machen werden.

Sind auch Journalist*innen anfällig für Korruption?
Ja, das ist ein Problem. Wir Journalisten stehen im Kreuzfeuer zwischen Regierung, kriminellen Gruppen und oft auch den Medienunternehmen. In Mexiko lebt der Großteil der Presse von staatlicher Werbung. Die Medien, die der Präsident früher als »Mafia der Macht« bezeichnete, arbeiten heute eng mit ihm zusammen und gehören heute zu seinen wirtschaftlichen Beratern. Ein kritischer Journalist ist da im Weg. Wer über Korruption berichtet, bringt sich in Gefahr.

Was ist die größte Bedrohung für Journalist*innen: die Regierung oder die Kartelle?
Die internationale Menschenrechtsorganisation »ARTICLE 19« gibt einen Bericht über die Lage der Presse in Mexiko heraus. Jedes Jahr zeigt sich: Die eine Hälfte der Drohungen geht von Beamten, die andere von kriminellen Gruppen aus. Bürgermeister, Gouverneure oder Unternehmer sind Teil der Kartellstrukturen. Miroslava Bruch hat die Salazar in der Sierra Tarahumara angeprangert, eine kriminelle Gruppe, die für das Sinaloa-Kartell arbeitet. Sie beschuldigte den Gemeindepräsidenten, ein Abgesandter der Gruppe zu sein und sie bedroht zu haben. Sie wurde umgebracht. Wo ist also die Grenze? Das passiert immer mehr in Mexiko: Du recherchierst zur Abholzung der Wälder und plötzlich wirst du bedroht. Ist es ein Soldat? Die Polizei? Eine bewaffnete Gruppe? Du verstehst weder, wer mit wem zusammenarbeitet, noch warum.

Die Fragen stellte Annabelle Dzubilla.

16. August 2023