Medienkritik
Vom Politik- zum Presseskandal?

Die Verdachtsberichterstattung rund um „Ulrike B.“ und das Bremer BAMF

von Magdalena Neubig    

An 20. April 2018, einem Freitagvormittag, veröffentlichte die Süddeutsche Zeitung auf ihrer Internetseite einen Text mit der Schlagzeile „Verdacht auf weitreichenden Skandal im Bamf“. Der Norddeutsche Rundfunk (NDR) sowie Radio Bremen vermeldeten die Nachricht zeitgleich ebenfalls auf ihren Kanälen. Gegenstand des mutmaßlichen Skandals war Ulrike B., eine ehemalige Leiterin der Außenstelle des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge in Bremen. Aus den Veröffentlichungen des Rechercheverbunds bestehend aus Süddeutscher Zeitung, NDR und Radio Bremen ging hervor, dass Ulrike B. in ihrer Zeit in Bremen vermutlich in etwa 2000 Fällen Asyl gewährt hatte, „obwohl die rechtlichen Voraussetzungen dafür nicht gegeben waren“ (SZ). Sie habe offenbar mit drei Anwälten zusammengearbeitet, die ihr auch aus anderen Bundesländern „systematisch Asylbewerber zuführten“ (SZ). Des Weiteren stehe der Verdacht der Bestechlichkeit im Raum. Ulrike B. sollte zumindest in Form von Restaurant-Einladungen Zuwendungen erhalten haben.

Aufgrund des Ausmaßes der berichteten Vorwürfe verbreitete sich der Verdacht schnell auch auf diversen anderen Kanälen. Bei der Welt wurde einen Tag später, am 21. April, ebenfalls vom „BAMF-Skandal in Bremen“ gesprochen, bei der Bild-Zeitung hieß die Schlagzeile „Bamf-Skandal – So lief der unfassbare Asyl-Betrug von Bremen“. Die Berichterstattung zum Thema war auch in den darauffolgenden Wochen sehr präsent. Auch Politik-Satire-Formate wie die heute-show platzierten den Fall groß in ihrem Programm und berichteten beispielsweise in der Kategorie „Die 1.000 korruptesten Behörden Deutschlands“ über das Bremer BAMF. Insbesondere der Aspekt, dass Asylbewerber gewissermaßen mit Bussen nach Bremen gekarrt worden sein sollten, um sich positive Bescheide zu besorgen, wurde in der Sendung aufs Korn genommen. Dort allerdings auch nicht immer im distanzierenden Konjunktiv.

Rücktritt gefordert

Der sogenannte BAMF-Skandal war in diesem Zeitraum aber nicht nur in den traditionellen Medien präsent, sondern unter anderem auch bei rechten Gruppierungen wie der Identitären Bewegung. Der YouTuber „Operation Fregin“, damals noch Mitglied der Identitären Bewegung, erzählte in seinen Videos vom „Asyl-Todesengel im grünen Sumpf Bremens“ – natürlich nicht nach den Regeln einer vorsichtigen Verdachtsberichterstattung. Die Videos sind seit Anfang Januar 2019 nicht mehr abrufbar.

In der überwiegenden Berichterstattung verschob sich der Fokus nach etwa sechs Wochen von den Hintergründen des „Skandals“ mehr und mehr hin zu seinen politischen Konsequenzen. So schrieb der Focus am 4. Juni beispielweise darüber, dass sich Innenminister Horst Seehofer und die Leiterin des BAMF, Jutta Cordt, vor dem Innenausschuss Fragen der Bundestagsabgeordneten stellen müssten.

In der Bundespolitik überschlugen sich derweil die Reaktionen. CSU-Innenstaatssekretär Stephan Mayer sprach bei „Anne Will“ von „hochkriminellen“ Mitarbeitern beim Bremer BAMF. Der Rücktritt von Seehofer sowie von Cordt wurde gefordert. FDP und AfD wollten einen Untersuchungsausschuss im Bundestag einrichten. Die Forderung wurde von vielen offenbar der AfD-nahestehenden Nutzern in Sozialen Netzwerken geteilt. Da sich die Grünen sowie die Linke dagegen aussprachen und später auch die SPD, wurde dieser jedoch nicht eingerichtet.

Veränderte Sachlage

Anfang Juni änderte sich langsam die Tonalität in der Berichterstattung. So schrieben Caterina Lobenstein und Martin Klingst auf Zeit Online in einem Artikel mit der Überschrift „Bamf-Skandal – Opfer einer Intrige?“, dass es laut der Aussage eines Anwalts Unterlagen gebe, die Urike B. entlasten würden.

Am 12. und 13. Juni veröffentlichten auch die Medien, die als erstes die Vorwürfe publik gemacht hatten, Berichte über eine veränderte Sachlage. Auf Sueddeutsche.de hieß es unter dem Titel „Zweifel an Vorwürfen gegen Bamf-Außenstelle“, dass offenbar weit weniger Fälle unrechtmäßig beschieden worden seien als vorher vermutet und dass es Zweifel am Belastungszeugen gebe. Der Faktenfinder der Tagesschau fasste in mehreren Fragen und Antworten unter anderem zusammen, dass die Bremer Bamf-Behörde völlig rechtmäßig zwischenzeitlich Anträge aus anderen Zuständigkeitsbereichen bearbeitet hatte. Zudem sei es in Bremen vor allem um Anträge von jesidischen Asylbewerbern gegangen. Da die Vereinten Nationen die Verbrechen an den Jesiden als Völkermord durch den sogenannten „Islamischen Staat“ eingestuft hatten, sei die Anerkennungsquote in Deutschland auch außerhalb von Bremen sehr hoch gewesen. Des Weiteren gebe es keine Beweise, dass Ulrike B. bestechlich war.

Dass es einen neuen Stand der Dinge gab, war für Leser der Bild-Zeitung vorerst nicht zu erkennen. Auch am 20. Juni wurden dort noch Artikel mit Überschriften wie „Mörder, Vergewaltiger, Drogenhändler – Keiner will uns sagen, ob DIE noch bei uns sind“ veröffentlicht, in denen thematisiert wurde, inwieweit das BAMF Schwerverbrechern Asyl gewährt habe.

BAMF-Chefin Jutta Cordt wurde dann am 21. Juni ihres Amtes enthoben.

Alle groß angekündigten Verdächtigungen nicht zutreffend

Ungewöhnlich an der Berichterstattung über das die Bremer BAMF-Außenstelle war auch, dass diese recht bald stark unter medienkritischer Beobachtung stand, obwohl sie bis heute noch nicht einmal abgeschlossen ist, da die Sachlage an sich juristisch noch nicht geklärt ist. Knapp eine Woche, nachdem SZ, NDR und Radio Bremen die anfänglichen Verdächtigungen stark relativierten, veröffentlichte der Strafrechtprofessor Hennig Ernst Müller am 19. Juni eine rein auf die bis dahin erschienenen Veröffentlichungen bezogene Analyse der Berichterstattung in dem juristischen Web-Portal „Beck-Community“. Nach eigenen Aussagen hatte er ursprünglich einen Artikel über die inhaltlichen Verfehlungen im BAMF schreiben wollen und sei dann sehr überrascht gewesen, dass sich alle groß angekündigten Verdächtigungen als nicht zutreffend erwiesen. Von der seriösen Presse habe er das nicht erwartet. Entsprechend hart geht er in seiner Analyse dann auch mit dem Rechercheverbund ins Gericht:

„Sie (der Verbund, die Red.) haben Menschen mit Vorwürfen maximal geschadet, um eine Geschichte zu bringen, die schlecht recherchiert und unausgegoren war und damit den Rufmord vor die Recherche gestellt“.

Trotz der unsauberen Recherche habe man dann jedoch aufgrund der „geschilderten konkreten Details“ kaum daran zweifeln können, dass Ulrike B. Unrecht begangen habe. Und das, obwohl die Journalisten durch die Verwendung des Konjunktivs formal den Richtlinien der Verdachtsberichterstattung Genüge getan hätten. Müller wirft dem Rechercheverbund außerdem vor, dass dessen Journalisten nicht genügend beachtet hätten, welche Folge solche Rechercheergebnisse seriöser Medien in rechten Kreisen haben könnten: „In der heutigen Zeit müssen Journalisten wissen, was ihre Berichte über ein Ermittlungsverfahren anrichten können. Umso besser und fundierter muss die Recherche sein.“ Müllers Beitrag für die Beck-Community wurde kurz darauf auch auf dem medienkritischen Blog „Übermedien“ veröffentlicht.

Nicht ausreichend recherchiert

Die kritische Analyse des Strafrechtsprofessors ergänzend, wurde auf Übermedien auch eine Stellungnahme des Investigativchefs des Norddeutschen Rundfunks, Stephan Wels, veröffentlicht. Er sagt darin unter anderem, dass in den veröffentlichten Berichten deutlich gemacht worden sei, dass es sich bei den Vorwürfen nur um einen Verdacht handelt. „Wir haben uns diesen Verdacht aber nicht zu eigen gemacht, sondern sofort versucht, alle Argumente ins Gesamtbild einzufügen“, so Wels.

Müller hat seinen Blog-Eintrag nach der Erstveröffentlichung immer weiter aktualisiert. So beschrieb er im Juli und August unter anderem, wie verschiedene Medien davon berichten, dass der Skandal langsam „in sich zusammenbricht“ und immer neue, teils widersprüchliche Aussagen gemacht werden, wie viele der ursprünglichen 1.800 bis 2.000 Fälle tatsächlich falsch beschieden worden sind. Auch andere Medien (wie FAZ und Spiegel Online) hätten nicht ausreichend recherchiert und nur ungenau über die Sachlage berichteten.

Neben der Kritik des Juraprofessors gab es auch pointierte Kritik von Kollegen aus dem Journalismus. „Der Bamf-Skandal ist ein Presseskandal“ – so beurteilte es zumindest der Berliner Journalist und Datenexperte Lorenz Matzat in einem Artikel, den er am 26. September auf Medium.com veröffentlichte. Er begründet dies mit vier Kritikpunkten. Zuerst einmal habe es keine Stellungnahme der Verdächtigten gegeben: „Die Beschuldigte selbst war nicht konfrontiert worden; andere Recherchen, ob die Vorwürfe stimmten, hatte es zum Zeitpunkt der Veröffentlichung nicht gegeben.“ Auch Matzat wirft dem Rechercheverbund vor, dass er die Konsequenzen ihrer Berichterstattung zu wenig im Blick gehabt habe. Offenbar habe man sich nicht „dem Vorwurf des angeblichen Verschweigens“ aussetzen wollen. „So kam es möglicherweise zu einer unguten Melange aus Geilheit auf einen Scoop, einer Prise ,Besorgtbürgertums‘ sowie Angst vor der AfD und anderer rechter Schreihälse. Im vorauseilenden Gehorsam wurde gehandelt“, spekuliert Matzat. Abschließend kritisiert er das Vehikel der „privilegierten Quelle“, aufgrund dessen Behörden grundsätzlich glaubwürdige Aussagen machen würden. „Wie kann sich solch ein obrigkeitshöriges Konstrukt mit dem Selbstverständnis einer freien und unabhängigen Presse vertragen?“, fragt Matzat daher. Der tatsächliche Skandal an der Berichterstattung des Rechercheverbunds sei nun, „dass es eine Aufarbeitung und Auseinandersetzung mit den begangenen Fehlern und seinen Folgen nicht gibt“.

„Möglicherweise zu wenig hingeguckt“

Auf Matzats Kritik hin gab es keine Reaktion vom Rechercheverbund. Stephan Wels vom NDR begründet dies im persönlichen Gespräch auch mit der Tatsache, dass Matzat seinen Artikel veröffentlicht hatte, ohne vorher mit den betreffenden Kollegen vom Rechercheverbund gesprochen zu haben: „Ich habe mich echt ein bisschen gewundert – warum ruft der uns nicht an? Es ist ja nicht schwer, uns ausfindig zu machen“. So habe er zu den Anschuldigungen im Vorhinein keine Stellung nehmen können.

Der Leiter der Recherche-Redaktion von Radio Bremen, Jochen Gabler, äußerte sich zu den Vorwürfen jedoch an anderer Stelle. Im Deutschlandfunk sagte er im August 2018, dass „möglicherweise zu Anfang, als die Basis der Vorwürfe im Wesentlichen auf einem Bericht der Interimsleiterin des Bremer Bamf beruhten, zu wenig hingeguckt“ worden sei. Angesicht der Vorwürfe, die anfangs aber im Raum standen, sei es nicht in Frage gekommen, nicht darüber zu berichten: „Ich möchte die Redaktion sehen, die angesichts von Durchsuchungen nicht berichtet, bis alles geklärt ist. Das halte ich für absurd, das ist jenseits der Realität“.

Ähnlich äußerte sich seine Kollegin Christine Adelhardt, Koordinatorin der BAMF-Recherche von NDR, Radio Bremen und SZ nochmals im Mai 2019 gegenüber der taz:

„Unsere ersten Berichte waren klassische Verdachtsberichterstattung: Wir haben den Verdacht der Staatsanwaltschaft wiedergegeben. Dieser Verdacht, Korruption und Bestechung in einer deutschen Behörde, kam so monströs daher, da wüsste ich nicht, wie wir nicht hätten berichten sollen.“

Richtigzustellen habe man bei SZ/NDR/Radio Bremen nichts, da vor der Veröffentlichung des Verdachts auch die Informationen der privilegierten Quelle ‚Bremer Staatsanwaltschaft‘ sorgfältig überprüft worden seien und es neben dem Durchsuchungsbeschluss für die hohe Anzahl der manipulierten Akten zwei unabhängige Quellen gegeben habe. Außerdem habe ihre Redaktion früh diverse Fakten in Frage gestellt: „Wir haben so gut wir konnten in beide Richtungen recherchiert. Was daraus politisch gemacht wird, dafür können wir nichts“.

Erhebliche Rufschädigung

Strafrechtsprofessor Müller kritisiert Adelhardts Aussagen in seinem aktualisierten Blogbeitrag in der Beck-Community. Seiner Einschätzung nach habe natürlich über den Vorfall berichtet werden sollen, aber erst „NACH einer Recherche“. Er bestreite nach wie vor, dass es vor der Erstveröffentlichung tatsächlich eine sorgfältige Prüfung der privilegierten Quellen gegeben habe. Auch sei die BAMF-Berichterstattung mehr als „klassische Verdachtsberichterstattung“ gewesen, da es sich um eine „von einem Recherchenetzwerk koordinierte gleichzeitige Veröffentlichung in Großaufmachung unter Mitteilung von Details“ gehandelt habe. Journalisten stellten sich naiv, wenn sie sagten, dass sie nichts dafür könnten, was politisch daraus gemacht werde: „Dass es politische ‚Schockwellen‘ geben würde und eine erhebliche Rufschädigung einer bis dahin nicht öffentlich bekannten Beamtin, war vorhersehbar und wegen der großen Aufmachung auch durchaus ‚gewollt‘“.

Auf den Aspekt der privilegierten Quellen geht auch die taz im Mai nochmal ein. Denn das Bremer Verwaltungsgericht hatte kurz zuvor befunden, dass die Staatsanwaltschaft Ulrike B. in den Medien unzulässig vorverurteilt hat. Zeit Online habe daher einen Bericht löschen müssen, der private Details enthielt, die die Journalisten von einem Sprecher der Staatsanwaltschaft erfahren hatten.

Juristisch ist die Frage, inwieweit es einen BAMF-Skandal tatsächlich gegeben hat, auch im Juni 2019 noch nicht abschließend geklärt. Panorama hatte im März dieses Jahres berichtet, dass rund 18.000 positiv beschiedene Asylbescheide aus Bremen überprüft worden und nur 47 davon widerrufen oder zurückgenommen seien. Die Anzahl der widerrufenen Verfahren in Bremen liege somit auf einem bundesweiten Niveau. Was die möglichen Motive von Ulrike B. betreffe, gehe die Ermittlergruppe laut Panorama inzwischen davon aus, dass zwischen der ehemaligen Behördenleiterin und dem jesidischen Anwalt Irfan Cakar eine „besondere Nähe“ bestanden habe: „Um dem Anwalt zu gefallen, so der Verdacht, soll die Beamtin Asylanträge rechtswidrig positiv entschieden haben – in welcher Zahl dies der Fall sein soll, ist noch nicht endgültig geklärt“.

Kaum belastbare Rückschlüsse

Auch „Buten un Binnen“, ein Regionalmagazin von Radio Bremen, griff den „BAMF-Skandal“ ein Jahr nach der Erstveröffentlichung des Verdachts nochmal auf: „Heute, ein Jahr danach, gehen die Ermittler nach wie vor davon aus, dass der BAMF-Skandal existiert, auch wenn sie ihn so nicht nennen. […] Der Verdacht gegen die Beschuldigten habe sich nach der Auswertung der Akten und E-Mails erhärtet, sagt der Sprecher der Bremer Staatsanwaltschaft, Frank Passade.“ Gleichzeitig schreibt der Autor des Artikels, dass die Zahl der 47 widerrufenen oder zurückgenommenen Verfahren „kaum belastbare Rückschlüsse zu[lasse], ob Asylanträge bewusst manipuliert wurden“. Des Weiteren heißt es in dem Text: „Ein Jahr danach wissen wir kaum mehr als zu Beginn des Skandals.“ Im Sommer wolle die Bremer Staatsanwaltschaft ihr Ermittlungsergebnis präsentieren und entscheiden, ob sie Anklage bei Gericht erhebt.

Strafrechtsprofessor Müller zieht in seinem Blogeintrag dennoch das folgende Fazit:

„Ich habe mittlerweile zwar keinen Zweifel mehr daran, dass insb. jesidische Asylantragsteller, die von den beiden involvierten Kanzleien kamen, in Bremen sehr wohlwollend behandelt wurden und hierbei wohl auch möglicherweise interne Vorschriften missachtet wurden. Meine derzeitige Einschätzung ist aber, dass der Bremer BAMF-Skandal stark übertrieben wurde und sich am Ende als weit begrenzter herausstellen wird als zunächst verkündet; möglicherweise bleibt von einem ‚Skandal‘ auch gar nichts übrig außer der Skandal der (übertriebenen) Medienberichterstattung darüber selbst“.

Quellenverzeichnis

11. Juni 2019