#NR23 | Vielfalt
»Über den Tellerrand schauen«

Arbeitslose, gesellschaftlich Abgehängte und andere soziale Randgruppen sind in der Berichterstattung oft nur Zahlen und Statistiken. Die Journalistin Insa van den Berg gibt ihnen ein Gesicht.

 

Frau van den Berg, Sie berichten als freie Journalistin über sozialpolitische Themen. Woher kommt ihr Interesse daran?
Ich glaube, am Anfang war es wie bei vielen anderen Journalist*innen. Mich haben Fragen um Gerechtigkeit und Gleichheit umgetrieben und dazu motiviert, diesen Beruf zu ergreifen.

Wie nehmen Sie das Interesse an sozialen Themen wahr? Müssen Sie für Ihre Geschichten kämpfen?
Das hat sich verändert. Zu Beginn meiner Laufbahn habe ich es so empfunden, für soziale Themen kämpfen zu müssen. Inzwischen habe ich diesen Eindruck viel seltener. Als Freie kann ich entscheiden und Redaktionen meine Themen anbieten. Das gelingt fast immer.

Insa van den Berg

Wie nehmen Sie das Interesse der Leserinnen und Leser wahr?
Ich sehe, dass es ein großes Bedürfnis an dieser Form der Berichterstattung gibt. Ich kann mich kaum retten vor Themenideen und Hinweisen von Menschen, die sagen: Jetzt mach doch mal das. Außerdem kommen oft Rückmeldungen zu Beiträgen. Das ist mir persönlich auch sehr wichtig und besonders motivierend.

Ist das eine Besonderheit bei der Berichterstattung über soziale Themen?
Vielleicht. Wir Journalist*innen bekommen selten und dann meist negatives Feedback. Es fällt auf, wenn es häufiger und anders ist.

Soziale Berichterstattung wird manchmal kritisiert, voyeuristisch zu sein. Woran liegt das?
Natürlich gibt es Medienhäuser und Kolleg*innen, die stigmatisierend berichten. Vermutlich, weil die Zielgruppe genau das kauft.

Wie gelingt eine gute Berichterstattung über soziale Themen?
Es geht darum, nicht nur auf die Betroffenen zu schauen. Natürlich ist wichtig, was sie erleben, aber eben nicht ausschließlich. Genauso, wie wir nicht nur Zahlen und Statistiken zur Schau stellen sollten. Es gilt, beides zu verknüpfen, eine Metaebene zu den Erfahrungen zu liefern und zu erklären: Was sind eigentlich die Ursachen? Und was könnten Lösungen sein? Das ist für mich gute Berichterstattung.

Viele Journalistinnen und Journalisten sind Akademikerkinder. Fehlt da möglicherweise die Perspektive für andere Lebensrealitäten?
Ich habe den Anspruch an Journalist*innen, gesellschaftliches Leben und dessen Diversität abzubilden. Ich halte es für enorm wichtig, Perspektivwechsel zu vollziehen. Es ist meiner Meinung nach notwendig, sich grundsätzlich mit unterschiedlichen Lebensrealitäten auseinanderzusetzen – egal, woher wir kommen.

Wäre es sonst eine Art Identitätsjournalismus?
Würde das auch heißen, dass wir nur über Diskriminierung schreiben können, wenn wir diese selbst erfahren haben? Ich sehe den Punkt, dass wir uns innerhalb unserer Bubble bewegen und auch, dass Redaktionen bunter werden müssen. Aber gerade Journalist*innen sollten doch immer über den Tellerrand schauen.

Ihr Kollege Okan Bellikli hat die Fachgruppe Sozialjournalismus gegründet. Was hat Sie dazu bewogen, sich dieser anzuschließen?
Ich bin Fan vom Reden. Ich finde grundsätzlich, dass wir zu selten offen miteinander kommunizieren. Auch unter Kolleg*innen. Es geht mir also um den Austausch und, ja, auch darum, den Sozialjournalismus besser werden zu lassen.

Wie können wir als Leserinnen und Leser dafür sorgen, dass soziale Themen noch präsenter im Journalismus werden?
Indem sie zum Ausdruck bringen, was sie interessiert! Wenn Leser*innen wollen, dass Missstände aufgezeigt oder politische Veränderungen angestoßen werden, dann sollten sie mit Journalist*innen sprechen. Ganz banal: Die Nachfrage bestimmt auch hier das Angebot und Redaktionen veröffentlichen, was sich gut klickt. Am Ende erbringen wir Journalist*innen eine Dienstleistung.

Die Fragen stellte Clara Jule Fischer.

16. August 2023