#nr20 | Publikum
Nicht ohnmächtig – Das Publikum in autoritären Staaten
Auf der Rangliste der Pressefreiheit von Reporter ohne Grenzen landen Malaysia und Ungarn nur im Mittelfeld. Hier herrscht Zensur, dort stehen die meisten Medien unter der Kontrolle des Staates. Zwei kritische Online-Magazine halten dem Druck der Regierungen stand – auch dank ihrer Leser*innen
von Franka Bals
„Wenn ich diese Artikel nicht schreibe, würde es niemand anderes tun“, sagt Szabolcs Panyi. Er ist Investigativjournalist und arbeitet für das publikumsfinanzierte Online-Magazin Direkt36 in Ungarn. Die Finanzierung allein durch Unterstützer*innen ermögliche Direkt36, dem Druck der Regierung standzuhalten, erzählt er. Denn seit die rechtskonservative Fidesz-Partei vor zehn Jahren an die Regierung gekommen ist, wird der öffentlich-rechtliche Rundfunk staatlich kontrolliert. Außerdem werden unabhängige Medien von regierungsfreundlichen Unternehmen aufgekauft oder ganz eingestellt. Aktuell bangt etwa das größte unabhängige Onlineportal des Landes, Index.hu, um seine Zukunft. Nicht aber Direkt36: „Unser größter Vorteil ist, dass wir unabhängig sind, weil wir keinen Besitzer haben“, sagt Panyi. Rund 80 Prozent ihrer Ausgaben seien 2019 von den Beiträgen privater Unterstützer*innen gedeckt worden, die restlichen 20 Prozent dank institutioneller Spenden von Stiftungen oder NGOs.
Angst vor digitalen Spuren
Panyi fühlt sich in der Pflicht, die harten Themen wie Korruption oder Spionage zu recherchieren, besonders weil seine Arbeit vom Publikum des Online-Magazins finanziert wird. Da auch das Publikum den Druck der Regierung auf kritische Medien wie Direkt36 spüre, sagt er, würden einige von ihnen per Scheck oder bar bezahlen, um keine digitalen Spuren zu hinterlassen. Zu groß sei die Angst, als regierungskritisch aufzufallen – besonders bei jenen Unterstützer*innen, die für staatliche Einrichtungen wie Schulen oder Krankenhäuser arbeiten.
Diese Sorgen der Leser*innen kennt auch Steven Gan. Er ist Chefredakteur des malaysischen Online-Magazins Malaysiakini, das zu gleichen Teilen durch Abonnements und Werbung finanziert wird. Seit seiner Gründung vor 20 Jahren war das Magazin mit eingeschränkter Pressefreiheit konfrontiert: Fernsehen, Radio und Zeitungen werden staatlich kontrolliert – entweder durch regierungsnahe Eigentümer*innen oder repressive Gesetze. Die Regierung zensiert, indem sie kritischen Medien die Publikationserlaubnis verwehrt.
Mit ihrem digitalen Angebot hat sich Malaysiakini von den Drucklizenzen gelöst und große Bekanntheit im Netz erlangt. Doch „die Abonnenten waren besorgt wegen ihrer Daten, wenn Zahlungen über die Kreditkarte liefen“, sagt Gan. „Was passiert, wenn sich die Regierung Zugang zu meinen Daten verschafft? Werde ich für meine politische Einstellung verfolgt, könnten sie plötzlich vor meiner Tür stehen und mich verhaften? Da ist viel Angst zu spüren.“
Mehr als finanzielle Unterstützung
Die Lösung von Malaysiakini: Bezahlen per Prepaid-Karten, die Abonnent*innen in Geschäften kaufen und anonym online einlösen können. „Wir sichern unseren Unterstützern zu, ihre Identität zu schützen. Das ist uns sehr wichtig“, betont Gan. „Denn jeder, der etwas zu sagen hat, sollte die Freiheit haben, das auch zu tun.“ Und das können Malaysiakinis Abonnent*innen mit Kommentaren, Themenvorschlägen und im Gespräch mit den Journalist*innen, die sie jederzeit im Bürogebäude besuchen können. „Wir sind keine anonymen Personen hinter Computern“, sagt er.
Auch das ungarische Magazin Direkt36 baut neben der finanziellen Unterstützung seiner Leserschaft auch auf deren Themenvorschläge und Know-how: Mit ihren Russisch-Kenntnissen konnte eine Unterstützerin Panyi kürzlich helfen, Dokumente ins Ungarische zu übersetzen.
Recherchen zeigen kaum Wirkung
Ein für Panyi ideales Konzept, das ihn dennoch nur wenig hoffnungsvoll stimmt: „Die ungarische Gesellschaft ist gespalten. Wir haben damit zu kämpfen, dass unsere Artikel kaum Konsequenzen haben. In regierungsnahen Medien werden sie nicht verbreitet, weshalb Teile der Bevölkerung nicht einmal davon wissen.“ Die Regierung verfolge das Ziel, kritische Journalist*innen wie Panyi systematisch zu diskreditieren, sodass jede noch so fundierte Recherche kaum Wirkung zeige.
Ende März standen Ungarns unabhängige Journalist*innen vor einer weiteren Herausforderung: Mit dem erlassenen Notstandsgesetz drohten bei angeblichen Verzerrungen von Informationen zu Covid-19 bis zu fünf Jahre Haft. Problematisch sei die vage Formulierung des Gesetzes gewesen, sagt Panyi. Was genau unter verzerrten Informationen zu verstehen ist, sei unklar. Zwei Facebook-Nutzer*innen seien festgenommen und erst nach Stunden in Polizeigewahrsam wieder freigelassen worden. Sie hatten keine falschen Informationen, sondern regierungskritische Inhalte geteilt, sagt Panyi. Gegen Journalist*innen sei das Gesetz nicht angewendet worden. Dennoch sei es „perfekt, um Menschen zu schikanieren“. In dieser Hinsicht hat das Gesetz seine Aufgabe offenbar erfüllt, denn Panyi hat erlebt, dass Quellen aus Unsicherheit oder Angst kaum noch mit ihm sprechen wollten. Nach zweieinhalb Monaten hob Ungarns Ministerpräsident Orbán den coronabedingten „Gefahrennotstand“ auf, aber der Abschreckungs-Effekt bleibe, so Panyi.
Auch der malaysische Journalist Gan beobachtet im Zuge der Pandemie einen Umbruch der kritischen Medienlandschaft und ist gerade jetzt froh, auf sein Publikum zählen zu können: „Medien, die keine Unterstützer oder Abonnenten haben, werden leiden. Wir können uns glücklich schätzen, zum großen Teil über das Publikum finanziert zu sein. Wer ausschließlich von Werbung abhängig ist, wird untergehen.“
4. September 2020