#nr21 | Recherche
Mut zur Lücke

Crowdrecherchen liefern spannende Erkenntnisse, haben aber ein methodisches Problem.

von Niels Schnitt

Das Crowdsourcing-Projekt „Wem ge­hört die Stadt?“ von Correctiv soll den Wohnungsmarkt transparenter machen, so wie es idealerweise nur ein städti­sches Immobilienregister kann. Vonsei­ten der Grundeigentümerverbände wird dabei ein Vorwurf laut: Die öffentliche Recherche stelle Eigentümer:innen und Vermieter:innen an den Pranger.

Obacht bei der Auswertung: Daten aus Crowdrecherchen wie „Wem gehört die Stadt?“ weisen statistische Mängel auf. Foto: dronepicr/flickr (CC BY 2.0)

Obacht bei der Auswertung: Daten aus Crowdrecherchen wie „Wem gehört die Stadt?“ weisen statistische Mängel auf. Foto: dronepicr/flickr (CC BY 2.0)

Jonathan Sachse hat das Verfahren bei Correctiv mit entwickelt: „Negative Reaktionen gab es bei wirklich allen Crowdrecherchen. Das liegt daran, dass man viele Leute erreichen will – da muss man schon eine bestimmte Lautstärke erreichen“, sagt Sachse, der heute das Lokal-Netzwerk des Recherchezent­rums leitet. „Einige nehmen das dann als eine politische Kampagne wahr.“

Das Problem der Verzerrung

Eine Crowdrecherche zeichnet sich durch Belege aus, die die Öffentlich­keit dem Recherche-Team zur Verfü­gung stellt. Das erhöht die Schwelle der Beteiligung und hier liegt eine Krux. „Die Themen müssen interessie­ren und auch emotionalisieren. Den Teilnehmer:innen wird ja auch was ab­verlangt.“ Sie sollen über einen Link Dokumente und Informationen teilen. Die Quellen sind für sich genommen solide, aber auf der kumulierten Ebene der Statistik ergibt sich ein Problem.

In der empirischen Sozialforschung würde die Stichprobe einer Crowdre­cherche als selbstselektiv bezeich­net. Dabei geht es darum, dass die Teilnehmer:innen nicht zufällig ausge­wählt werden, sondern vorrangig eine Entscheidung treffen, an der Recherche teilzunehmen. Die damit zusammen­hängende Verbreitung in Netzwerken trägt ebenfalls zur Über- und Unterre­präsentation von Interessengruppen bei. Das führt in der Summe zu einer verzerrten Sammlung von Quellen. Es ist logisch, dass an „Wem gehört die Stadt?“ eher Personen teilnehmen, die unzufrieden sind.

Qualitativer Datenjournalismus

Wer sich aus persönlichen oder politi­schen Gründen für einen transparen­ten Wohnungsmarkt einsetzt, kann aus journalistischer Perspektive trotzdem eine gute Quelle sein. Aber in der Re­flexion der Methode müssen sich Re­daktionen die Frage stellen, welche Aussagen auf einer bestimmten Daten­grundlage getroffen werden können und welche nicht. Crowdrecherchen werfen ein gezieltes Schlaglicht auf Missstände. Amtliche Statistiken oder wissenschaftliche Erhebungen können sie nicht ersetzen.

Die Crowdrecherche von Correctiv steht für einen Datenjournalismus, der sozialwissenschaftlich gespro­chen stärker qualitativ funktioniert als quantitativ. „Wem gehört die Stadt?“ überzeugt durch Recherchen, die als „Vertiefungsstudien“ bezeichnet wer­den können: Bezirke und Straßen, die durch Interviews in ihrer historischen Entwicklung abgebildet werden. Struk­turelle Cluster, die auf den Steuer­betrug von großen Investmentfonds hinweisen, sind durch die gezielte Aus­wahl unzufriedener Mieter:innen sogar besser aufzudecken. „Wem gehört die Stadt“ steht der klassischen Recherche näher als der Statistik.

1. Juli 2021