#nr21 | Recherche
Mut zur Lücke
Crowdrecherchen liefern spannende Erkenntnisse, haben aber ein methodisches Problem.
von Niels Schnitt
Das Crowdsourcing-Projekt „Wem gehört die Stadt?“ von Correctiv soll den Wohnungsmarkt transparenter machen, so wie es idealerweise nur ein städtisches Immobilienregister kann. Vonseiten der Grundeigentümerverbände wird dabei ein Vorwurf laut: Die öffentliche Recherche stelle Eigentümer:innen und Vermieter:innen an den Pranger.
Jonathan Sachse hat das Verfahren bei Correctiv mit entwickelt: „Negative Reaktionen gab es bei wirklich allen Crowdrecherchen. Das liegt daran, dass man viele Leute erreichen will – da muss man schon eine bestimmte Lautstärke erreichen“, sagt Sachse, der heute das Lokal-Netzwerk des Recherchezentrums leitet. „Einige nehmen das dann als eine politische Kampagne wahr.“
Das Problem der Verzerrung
Eine Crowdrecherche zeichnet sich durch Belege aus, die die Öffentlichkeit dem Recherche-Team zur Verfügung stellt. Das erhöht die Schwelle der Beteiligung und hier liegt eine Krux. „Die Themen müssen interessieren und auch emotionalisieren. Den Teilnehmer:innen wird ja auch was abverlangt.“ Sie sollen über einen Link Dokumente und Informationen teilen. Die Quellen sind für sich genommen solide, aber auf der kumulierten Ebene der Statistik ergibt sich ein Problem.
In der empirischen Sozialforschung würde die Stichprobe einer Crowdrecherche als selbstselektiv bezeichnet. Dabei geht es darum, dass die Teilnehmer:innen nicht zufällig ausgewählt werden, sondern vorrangig eine Entscheidung treffen, an der Recherche teilzunehmen. Die damit zusammenhängende Verbreitung in Netzwerken trägt ebenfalls zur Über- und Unterrepräsentation von Interessengruppen bei. Das führt in der Summe zu einer verzerrten Sammlung von Quellen. Es ist logisch, dass an „Wem gehört die Stadt?“ eher Personen teilnehmen, die unzufrieden sind.
Qualitativer Datenjournalismus
Wer sich aus persönlichen oder politischen Gründen für einen transparenten Wohnungsmarkt einsetzt, kann aus journalistischer Perspektive trotzdem eine gute Quelle sein. Aber in der Reflexion der Methode müssen sich Redaktionen die Frage stellen, welche Aussagen auf einer bestimmten Datengrundlage getroffen werden können und welche nicht. Crowdrecherchen werfen ein gezieltes Schlaglicht auf Missstände. Amtliche Statistiken oder wissenschaftliche Erhebungen können sie nicht ersetzen.
Die Crowdrecherche von Correctiv steht für einen Datenjournalismus, der sozialwissenschaftlich gesprochen stärker qualitativ funktioniert als quantitativ. „Wem gehört die Stadt?“ überzeugt durch Recherchen, die als „Vertiefungsstudien“ bezeichnet werden können: Bezirke und Straßen, die durch Interviews in ihrer historischen Entwicklung abgebildet werden. Strukturelle Cluster, die auf den Steuerbetrug von großen Investmentfonds hinweisen, sind durch die gezielte Auswahl unzufriedener Mieter:innen sogar besser aufzudecken. „Wem gehört die Stadt“ steht der klassischen Recherche näher als der Statistik.
1. Juli 2021