#NR23 | Vielfalt
»Männliche Kartoffelparade«

Der freie Autor und Investigativjournalist Mohamed Amjahid über verzerrte Vielfalt im Journalismus und Wege, echte Diversität in Redaktionen zu erreichen.

 

Herr Amjahid, wie divers ist der Journalismus in Deutschland wirklich?
Der Anteil von nicht-weißen Menschen oder Menschen mit sogenannter Migrationsgeschichte in den Redaktionen ist im Vergleich zur Gesamtgesellschaft viel geringer. Ganz simpel ausgedrückt: Repräsentation von Menschen mit Migrationshintergrund ist nicht gegeben.

Amjahid Credit_Herby SachsWarum brauchen wir einen divers gestalteten Journalismus?
Eine homogen zusammengesetzte Redaktion hat weniger Möglichkeiten, Themen zu identifizieren. Sitzen da nur die berühmten alten weißen Männer, sehen die aufgrund ihrer Lebensrealität weniger gesellschaftspolitisch relevante Themen.

Ist es ein Fortschritt, dass sich der Journalismus vor der Kamera gerne vielfältig zeigt?
Was ich kritisiere, ist, dass sich Diversität auf Zahlen und die Außenwirkung fokussiert. Wenn man alt ist und einen linearen Fernseher hat (lacht), sieht man mittlerweile sehr viele nicht-weiße Moderator*innen. Aber hinter der Kamera, da wo die Entscheidungen getroffen werden, ist männliche Kartoffelparade. Vielfalt ist nicht gegeben.

Wozu führt diese symbolische, verzerrte Repräsentation, die als »Tokenism« bezeichnet wird?
Es ist in der Vergangenheit öfter passiert, dass eben jene nicht-weißen Redakteur*innen rassistische Texte schreiben. Aber es wird nicht hinterfragt, wie sie darauf gekommen sind. Hinter den Kulissen ist es oft so, dass irgendein Chefredakteur sagt: Lass das die nicht-weiße Person schreiben, dann sind wir auf der sicheren Seite. Das ist, kurz gesagt, schlechter Journalismus.

Stattdessen braucht es …
… eine Öffnung des Journalismus für Themen, die bisher nicht gesehen wurden. Erleichtert wird die durch Repräsentation und durch Sensibilisierung in der Ausbildung. Es ist wichtig, die Diversity-Fassade runterzufahren und zu schauen, was dahinter passiert.

Wie kann eine Öffnung gelingen?
Die Arbeitsbedingungen sind ein großer Punkt. Also unterbezahlte Volontariate, Praktika oder kostspielige Journalismusschulen. Kommen junge Menschen hauptsächlich über die Kontakte ihrer reichen Eltern in Berührung mit der Medienbranche, führt das zu einer eher einseitigen, wenig perspektivreichen Gestaltung der Inhalte. Wenn das reiche Elternhaus nicht die Ausbildung finanziert, macht man sich dreimal Gedanken, ob man so einen Job überhaupt anfängt. Die Hürden sind zu hoch. Das muss sich ändern.

Kann man sich dagegen wehren, selbst zum Token zu werden?
Das kommt auf die Position an. Es ist ein Unterschied, ob man Volontär*in oder Ressortleiter*in ist. Ist man neu dabei, hat man weniger Möglichkeiten, sich dagegen zu wehren.

Mehr und mehr Redaktionen wollen sich diverser aufstellen. Das wird aber wohl noch lange dauern. Ist Tokenism bis dahin ein notwendiges Übel?
Nein. Es ist nur Übel. Diese Diversity-Fassade kaschiert die Strukturen im Journalismus. Ich wünsche mir, dass mehr auf journalistische Qualität und eine vielfältige journalistische Berichterstattung geachtet wird. Es ist zu kurz gedacht, so viele Menschen nicht mitzudenken. Das sind alles potenzielle Leser*innen oder Abonnent*innen. Dadurch wird nicht nur das Produkt besser, gleichzeitig verbessern sich die Arbeitsbedingungen für unterrepräsentierte Gruppen. Mehr Vielfalt in Themen und Beiträgen würde den Journalismus für viel mehr Menschen attraktiv machen.

Die Fragen stellte Lea Sommer.

16. August 2023