#nr21 | Medienkritik
Journalismus in Hochgeschwindigkeit

Ob Ministerpräsidentenkonferenz oder Kanzlerkandidatenkür, immer wieder konnten Journalist:innen zuletzt minutiöse Protokolle vertraulicher Sitzungen veröffentlichen. Echtzeitjournalismus ist aber kein Wert an sich.

von Jonas Freudenhammer

Paul Ronzheimer, stellvertretender Chefredakteur der Bild-Zeitung, steht wie kaum ein anderer für diese Form der Berichterstattung im Expresstempo. Immer wieder konnte er in den vergangenen Monaten auf Twitter und bei Bild Live über die aktuelle Stimmungslage in ver­traulichen Sitzungen berichten und brisante Details offenbaren. „Der Zugang richtet sich nach den individu­ellen Interessen und ein bisschen nach dem Chaoszu­stand“, sagt Ronzheimer dem Nestbeschmutzer. „Wenn es verschiedene Interessen und nicht eine geschlosse­ne Parteilinie gibt, ist es immer einfacher.“

Allzeit bereit: Bild-Vize Ronzheimer hängt sogar während der Live-Übertragung am Smartphone. Foto: Screenshot Bild Live

Allzeit bereit: Bild-Vize Ronzheimer
hängt sogar während der Live-Übertragung
am Smartphone. Foto: Screenshot Bild Live

Diese Art der Live-Berichterstattung scheint voll­ständige Transparenz aus den Hinterzimmern der Macht herzustellen. Schlagen Relevanz und Aktuali­tät Diskretion und Quellenprüfung? Spiegel-Redak­teur Veit Medick begründete seine eigene Rastlosig­keit auf Twitter gegenüber dem NDR-Magazin Zapp mit der demokratischen Funktion der Medien: „Das ist schon unsere Aufgabe zu gucken: Was passiert da eigentlich? Das ist für die innerparteiliche Willensbil­dung, aber auch für die gesellschaftliche Meinungs­bildung total relevant.“

SMS vom Bild-Reporter

Dabei bleibt außen vor, dass Vertraulichkeit und Ver­bindlichkeit ebenfalls Voraussetzungen für Demo­kratie und die Basis politischer Kompromisse sind. Das stört Bild-Vize Ronzheimer wenig. Er verweist auf unterschiedliche Interessen von Politik und Medien und auf die weiterhin bestehenden Hintergrundge­spräche mit wenigen Beteiligten, die wirklich ver­traulich bleiben könnten.

Inwiefern bei einem derart hohen Veröffentlichungs­druck journalistische Standards eingehalten werden können, bleibt fraglich. Ronzheimer gibt an, gemein­sam mit seinem Team jedes Zitat vorher durch min­destens zwei Quellen zu verifizieren. Bei größeren Geschichten würden die Betroffenen sogar während der laufenden Sitzung konfrontiert. Das führt mitun­ter zu bizarren Situationen. So erzählte Thüringens Ministerpräsident Bodo Ramelow (Die Linke) im In­terview mit der Zeit, dass er sich während einer Mi­nisterpräsidentenkonferenz über eine Indiskretion beschwert habe. Kurze Zeit später habe er eine SMS von einem Reporter der Bild-Zeitung bekommen, der sich wiederum auf seine Beschwerde bezogen habe.

Exklusive Einblicke zu erhaschen, ist in der Pandemie leichter als je zuvor. In digitalen Sitzungen lässt sich noch weniger kontrollieren, wer was durchsticht. Verlassen die Live-Chronisten dabei ihre klassische Beobach­terrolle? Ja, sagt Politikwissen­schaftler und Publizist Albrecht von Lucke: „Der Journalist wird Akteur! Es ist offensichtlich so, dass die Gremiensitzungen nicht mehr unbeeinflusst davon blei­ben, was außerhalb passiert.“ Außerdem warnt er: „Es ist nicht alles repräsentativ, was durch­gestochen wird. Es ist immer ein einseitiges und interessengelei­tetes Durchstechen.“

Bild-Journalist Ronzheimer sieht darin kein Problem: „Natürlich hat derjenige, der das raussticht oder be­stätigt, möglicherweise ein persönliches Interesse. Aber solange der Satz so gefallen ist, ist er erst ein­mal gefallen. Ich denke dann nicht darüber nach, wen er damit beschädigen möchte.“

Die Politik reagiert bisher eher lethargisch. Sitzun­gen, bei denen keine Handys zugelassen werden, gibt es kaum. Spätestens zu den Koalitionsverhandlungen im Herbst dürfen Ronzheimer, Medick & Co. also wie­der auf Exklusivmeldungen hoffen.

1. Juli 2021