#nr21 | Medienkritik
Balance-Akt

Über ein Jahr Pandemie mit pausenloser Berichterstattung und viel Kritik. Zeit für eine Zwischenbilanz.

von Anna Ehlebracht

Die kritisch-distanzierte Haltung des Journalismus wurde in der Krise zum Balance-Akt – und nicht immer wirkten die Medien standsicher. Die Berichterstattung über den hochwirksamen Impfstoff AstraZeneca drehte sich lange um Impfreaktionen, vor allem die sehr selten auftretenden Thrombosen, und Unsicherheiten bei der Freigabe. Für den Geschmack von Medienwissenschaftlerin Alexandra Borchardt haben deutsche Medien bei AstraZeneca „zu viel Drama gemacht“, gleichzeitig müsse Journalismus aber über Probleme berichten – eine schwierige Abwägung und Verantwortung der Journalist:innen.

Mehr Einordnung und Bedacht

Das Zwischenfazit von Expert:innen ist entsprechend gemischt. Sie bemängeln unter anderem fehlende Einordnung und angstmachende Berichterstattung. Journalistik-Professor Klaus Meier beobachtete im Frühjahr 2020 eine einseitige Berichterstattung. Ein Aspekt von Einseitigkeit ist, dass „Befürworter massiver Lockdown-Maßnahmen in Verbindung mit angstmachenden Berichten ganz nach oben gespült wurden“. Diese Befürworter seien vor allem aus Regierungskreisen gekommen. In Modellen zum weiteren Verlauf der Pandemie seien oft schlimmste Befürchtungen durch Medienberichte dargestellt worden, was Meier auch als einseitig und angsttreibend beschreibt. Eine Überaufmerksamkeit auf die Corona-Pandemie indes sah Medienforscher Stephan Russ-Mohl, welche er als nicht gerechtfertigt empfand. Hierdurch seien nämlich andere wichtige Themen vernachlässigt worden. Mit der Zeit seien die Berichte dann aber differenzierter geworden.

Kein pauschales Versagen

Mehr Kontext wird unter anderem bei Infektionszahlen gewünscht. Borchardt weist hier auf die 20-Uhr- Ausgaben der „Tagesschau“ hin: Ein kontextloses Nennen von Infektionszahlen sei schlechte Berichterstattung. Insgesamt sieht die Expertin aber kein pauschales Versagen des Journalismus in der Pandemie: „Generell haben die Medien einen guten Job gemacht“. Allenfalls sei ein „zu viel des ‚Guten‘“ geboten worden. Hier führt sie Corona-Newsticker auf, in denen sich Leser:innen schnell nicht mehr zurechtfinden würden. Diese Newsticker brächten den Medien zwar Reichweite, dem Publikum aber wenig Nutzwert. Ein wiederkehrendes Dilemma im Journalismus ist eine falsche Ausgewogenheit, eine „false balance“. Gemeint ist eine Verzerrung beim Abbilden unterschiedlicher Meinungen. Nicht jede Randmeinung hat das gleiche Gewicht wie etwa gesicherte wissenschaftliche Erkenntnisse. In der Berichterstattung oder in Talkshows werden sie aber oft als gleichwertig dargestellt. Für Volker Stollorz vom Science Media Center Germany bestand diese Gefahr auch in der Corona-Berichterstattung. Hier müsse das Spektrum des Möglichen nicht zwangsläufig abgebildet werden, denn dann werde die Begründungspflicht für vom wissenschaftlichen Konsens abweichende Meinungen höher. Es gebe wissenschaftliche Evidenzen, die schlichtweg nicht diskutabel seien.

Gemischte Bilanz

Insgesamt fällt die Zwischenbilanz also durchwachsen aus. Im Sommer 2020 sei die Berichterstattung laut Meier zwar vielfältiger gewesen, ab Herbst dann wieder „angstgetriebener“ und zurzeit aufgrund niedriger Inzidenzen wieder breiter. Er wünsche sich jetzt allerdings einen konstruktiven Journalismus, der sich mit einem langfristig rationalen Virus-Umgang ohne ein Verfallen in „spontane und panische Lockdowns als einzige Lösungsmöglichkeiten“ befasst. Denn: „Journalismus muss auch Stachel im Fleisch der Politik sein“, so Meier, „und nicht nur Weiterleiter der Äußerungen von Pressesprechern und der Maßnahmen der Exekutive“.

1. Juli 2021