#nr20 | Interview
„Wissenschaft statt Wissenshäppchen“

Der NDR-Podcast „Coronavirus-Update“ mit Christian Drosten gehört zu den erfolgreichsten ­journalistischen Projekten des Jahres. Wissenschafts­journalistin Korinna Hennig über verschreckte Expert*innen und feierliche Beerdigungen

Frau Hennig, ist Ihr Beruf als Wissenschaftsjournalistin derzeit Fluch oder Segen?

Hennig: Ein Segen! Das Interesse an Wissenschaft ist selten so groß. Am Drosten-Podcast sehen wir aber, dass die Leute nicht vor komplizierten Zusammenhängen zurückschrecken: Über 80 Prozent hören bis zum Ende durch, zumindest deuten einige Zahlen das an.

Sind Podcasts die Zukunft des Wissenschaftsjournalismus?

Das wäre ein bisschen verengt betrachtet. In Zeitungen gibt es viele gute wissenschaftliche Beiträge. Aber die Schriftsprache ist komplizierter und Lesen kostet Zeit. Beim Fernsehen braucht es lange Formate, um Wissenschaft statt Wissenshäppchen zu vermitteln. Podcasts sind zugänglicher und erhöhen die Bereitschaft, sich auf komplexe Themen einzulassen.

Wie hat sich Ihre Arbeit in diesem Jahr verändert?

Als Redakteurin einer kleinen Wissenschaftsredaktion habe ich recherchiert, Beiträge in Auftrag gegeben und abgenommen oder erklärende Gespräche im Programm geführt. Jetzt bringe ich die Themen selbst an die Hörer.

Wer hat mehr Arbeit mit dem Podcast, Drosten oder Sie?

Christian Drosten erklärt die Sachverhalte, trotzdem muss ich mich vorbereiten. Das scheint in der Corona-Zeit einfach, aber es gibt viele Studien, die noch nicht peer-reviewed sind, also noch nicht begutachtet wurden. Das ist eine Herausforderung. Meine Arbeitstage sind oft 12 bis 14 Stunden lang.

Lohnt es sich?

Es gibt mehr positives Feedback als Kritik. Viele Leute bedanken sich sogar bei uns. Einige bemängeln, dass nur die Meinung von Christian Drosten vorkommt. Ich frage mich auch regelmäßig, ob ich genug journalistische Distanz wahre. Aber Drosten selbst thematisiert im Podcast immer wieder seine fachlichen Grenzen.

Einige sehen Drosten als Sündenbock für alles, was ihrer Meinung nach im Umgang mit der Krise falsch läuft. Er wird beschimpft und sogar bedroht. Das schreckt einige Expert*innen vor Interviews ab. Wie erleben Sie das?

Ich höre das von Kollegen. Die Wissenschaftspressekonferenz hat dazu einen offenen Brief verfasst. Abgesehen von den Drohungen hatten Wissenschaftler sicher schon vorher die Sorge, verkürzt dargestellt zu werden oder dass ihre Äußerungen aus dem Zusammenhang gerissen werden. Dann äußern sie sich lieber gar nicht. Im Podcast kürzen wir, aber meistens aus Gründen der Verständlichkeit und um Redundanzen zu vermeiden. Als Journalist muss man hier sehr vorsichtig sein und sollte nie von anderen abschreiben, ohne die Ursprungsquelle oder den Text gelesen zu haben.

Gilt das nicht für alle Ressorts?

Im Wissenschaftsjournalismus ist das ein besonders gravierendes Problem, denn Wissenschaftler liefern zunächst nur Informationen, keine Botschaft. Die zu verkürzen ist problematischer als in anderen Bereichen, denn wenn man sie aus dem Kontext reißt, entsteht den Eindruck, als würde jemand eine Erkenntnis darstellen, die aber keine ist. Bei Christian Drosten passiert das immer wieder. Er hält das aus, aber beklagt das im Podcast auch.

Jetzt geht es in die Sommerpause. Wie lange wird der Podcast danach noch zu hören sein?

Solange die Pandemie andauert, hängt es nur von Christian Drosten ab, ob wir weitermachen. Insgesamt liegen wir jetzt bei rund 55 Millionen Abrufen, aber natürlich sehen wir mittlerweile, dass die Leute auch wieder anderes im Kopf haben. Es lohnt sich zwar auch für 20.000 Zuhörer, aber spätestens sobald der Impfstoff da ist und wir uns alle in die Normalität zurückbegeben, werden wir den Podcast bestimmt feierlich beerdigen.

Das Interview führte Christine Leitner

2. September 2020