#digijour2015 | Social Media
Undercover-Gatekeeping

Wenn Social Media Journalismus ersetzt

von Janne Görlach

Sind sie nun Fluch oder Segen? Diese Frage stellt sich für Journalisten immer wieder, seit sie sich in die Social Media Welt begeben haben, und sie stellte sich auch den Podiumsgästen auf der Tagung „Digitaler Journalismus“ in Hamburg. Denn das für die Anschlusskommunikation zwischen Redaktion und Nutzern inzwischen viele Ressourcen aufgebracht werden, ist obligatorisch geworden, wie die Schilderungen des Spiegel Online Redakteurs Philipp Löwe zeigen. Dort sei es nichts Ungewöhnliches mehr, dass die Redaktion alleine über Facebook 6000 Kommentare am Tag erreichen.

Den Webseiten bleibt nur noch die Archivfunktion

Torsten Müller versucht, mit Hilfe seiner Software Tame das Internet zu zähmen

Torsten Müller versucht, mit Hilfe seiner Software Tame das Internet zu „zähmen“.

Vom Durchbruch der Sozialen Netzwerke ist jedoch nicht nur der redaktionelle Alltag betroffen. Wie sich die Funktion von Journalismus verändert, erläuterte Juliane Lischka. Sie forscht und lehrt am Institut für Publizistikwissenschaft und Medienforschung an der Universität Zürich. „Die Social Media Kanäle spezifizieren sich und nehmen eigene Funktionen ein.“ Sie zitierte dazu Emily Bell, Direktorin des Tow Center for Digital Journalism. Laut Bell sollen Breaking News über Push Mitteilungen publiziert werden, Facebook sei die Plattform für das tagesaktuelle Geschehen und die Webseiten würden nur noch als Archive fungieren. Lischka ist der Auffassung, dass Social Media Netzwerke den Journalismus in seiner Rolle als Gatekeeper, bei der Nachrichtenauswahl und beim Nachrichtenschreiben verändern können. So könnten die eingesetzten Algorithmen etwa als Undercover-Gatekeeper funktionieren und den Journalisten die Aufgabe entziehen, darüber zu entscheiden, was die Leser erreicht.

In diesem Zusammenhang betonte aber Torsten Müller, dass Social Media und Journalismus sich auch begünstigen können. Das von ihm gegründete Start-Up „Tame“ sammelt Daten aus Sozialen Netzwerken und bietet diese, zu sinnvollen Informationen gebündelt, Journalisten an. „Social Media ist ein genial messbarer Kanal, besonders, was das Publikum angeht“, findet er. Denn zwischen dem, was Nutzer angeben zu wollen und ihrem tatsächlichen Verhalten, würden Diskrepanzen bestehen, erklärte Müller. Soziale Netzwerke solle man daher nicht nur als Output-Kanal betrachten, sondern als Werkzeug, um den Nutzer besser kennenzulernen.

„Zurückdrehen kann und will im Social Media Bereich niemand mehr“, meinte auch Malte Werner, Doktorand an der Universität Hamburg. Er findet es deshalb wichtig, dass die Social Media-Kompetenz im eigenen Haus bleibe. Es müsse In-House-Experten geben, die sich zum Beispiel mit der Einschätzung von Fremdmaterial aus dem Netz beschäftigen. Bisher sehe das in den Redaktionen noch dürftig aus. Löwe warf ein, dass seine Redaktion sich um ständige Fortbildung auf diesem Gebiet bemüht und in Zweifelsfällen immer noch die journalistische Sorgfaltspflicht vorgehe.

Tech-Giganten begeben sich auf das journalistische Feld

Doch auch die Sozialen Netzwerke drehen nicht mehr zurück, wenn es darum geht, sich auf journalistisches Terrain zu begeben. „Man hat lange darauf gewartet und darüber spekuliert, wann sich die großen Tech-Giganten mit eigenen Redaktionen in das Feld des Journalismus begeben“, sagte Müller. Er führte dabei das Beispiel Xing auf, die eine eigene Redaktion aufgebaut haben und Twitter, die inzwischen mit der Funktion „Project Lightning“ redaktionell eingreifen, indem sie Nachrichten aus Videos, Bildern und Tweets zusammenstellen.

Kritisch diskutiert wurden auch die Instant Articles von Facebook, auch einige deutsche Medienunternehmen sind in diese Kooperation mit Facebook eingestiegen. Lischka äußerte sich erstaunt darüber, wie bereitwillig viele Medienunternehmen bei dieser Entwicklung mitmachen. Für sie zeige das, wie abhängig Nachrichtenorganisationen von Facebook sind, aufgrund der großen Reichweite, die darüber erzielt werden kann. „Facebook ist nicht in der Lage, selbst Inhalte zu generieren. Sie sind darauf angewiesen, dass diese entweder von den Nutzern selber oder von Dritten produziert werden“, erläuterte Lischka die paradoxe Situation.

„Für uns ist das erst einmal ein Experiment“, verteidigte Löwe die Entscheidung von Spiegel Online zur Kooperation mit Facebook. „Wir veröffentlichen darüber momentan drei Artikel pro Tag und kippen nicht, wie andere Redaktionen, unseren gesamten Newsfeed da rein. Wir wollen daran lernen.“ Es gehe vor allem darum, die Menschen zu erreichen, die schon als verloren galten. Diejenigen die hauptsächlich auf Facebook unterwegs seien und eben nicht über Links auf die Webseite gelangen. Außerdem bestehe so die Möglichkeit, zusätzlich Reichweite zu messen und eine weitere Einnahmequelle zu schaffen.

Journalistische Auswahlprinzipien müssen bestehen bleiben

Welche Bedeutung bleibt dem Journalismus also noch, neben den neuen und so erfolgreichen Informationskanälen? „Es muss weiterhin journalistische Auswahlprinzipien geben“, sagte Werner. Die Realität sei jedoch auch, dass viele Nachrichten vorselektiert werden. Wenn etwa, wie im Syrien-Konflikt, so gut wie keine unabhängigen Informationen vorliegen. „Journalismus hat schon immer von Augenzeugenberichten gelebt. Man kommt daran nicht vorbei. Eine journalistische Herangehensweise ist jedoch dann wieder wichtig, wenn es um die Auswahl der Quellen geht“, meinte Werner. Das müsse verantwortungsvoll geschehen.

Müller bezeichnete sich als Verfechter der Kombination von Algorithmen, Ethik und Transparenz. Diese Einstellung finde man jedoch kaum bei den Entwicklern von Facebook und Co. Er problematisierte, dass die Gewichtung von solchen Unternehmen durch Algorithmen vorgenommen werden könne und dadurch der Journalismus einen Relevanzverlust erlebe. Und auch Lischka ist der Auffassung, dass diese Undercover Gatekeeper in die Verantwortung gezogen werden müssten. Es könne sonst zur einseitigen Informiertheit von Nutzern kommen, die sich ausschließlich auf Facebook bewegen. „So wie ihr die Algorithmen programmiert, kann das einen Beitrag zur Informiertheit der Gesellschaft leisten.“ Dass darüber in Zukunft noch viel zu diskutieren sein wird, betonte auch Müller.

Der Beitrag dokumentiert einen Programmpunkt der Tagung „Digitaler Journalismus: Disruptive Praxis eines neuen Paradigmas“, die am 5. und 6. November 2015 unter der Leitung von Prof. Dr. Volker Lilienthal (Universität Hamburg) in Hamburg stattfand.

8. Dezember 2015