#nr21 | Dokumentation | Fernsehen
Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser?

Immer wieder erlebt der Dokumentarfilm neue Grenz- oder gar Skandalfälle. Warum eigentlich?

von Simeon Laux

Dokus sind ins Gerede gekommen. Das Problem hat eine Vorgeschichte. „Scripted-Reality-Methoden bei WDR-Vorzeige-Dokus?“, fragte Übermedien Anfang 2019 provokant. Wenige Wochen nach Bekanntwer­den der Fälschungen von Claas Relotius sorgten drei Dokumentarfilme des Formats „Menschen hautnah“ für Aufsehen. Dieselben Protagonist:innen wurden in den Filmen mit unterschiedlichen Namen und teils widersprüchlichen Geschichten dargestellt, einige sogar über eine Komparsenvermittlung rekrutiert. Der WDR sprach von „Vertrauensbruch“, trennte sich von der Autorin und kündigte zusätzliche Kontroll­mechanismen an.

Anderer Sender, ähnliches Problem

Nachhaltige Veränderungen? Offenbar nicht im Rest der Branche. Denn im März dieses Jahres deckte das NDR-Format STRG_F dann auf, dass der preisge­krönte und vom NDR koproduzierte Dokumentarfilm „Lovemobil“ das Publikum täuscht. Regisseurin Elke Lehrenkrauss gibt in ihrem Film Laiendarstellerin­nen als Sexarbeiterinnen aus, weite Teile des Films sind inszeniert – ohne Kenntlichmachung.

Lovemobil Credit_ NDR_Christoph Rohrscheidt

Gecastete Protagonist:innen, gestellte Szenen, gelackmeierte Redaktionen: Das Genre Dokumentarfilm lässt Graubereiche zu. Manche:r nutzt sie ruchlos aus. Foto: NDR_Christoph Rohrscheidt

Das Vertrauen zwischen Redaktion und Autorin sei missbraucht worden, heißt es in einer NDR-Stellung­nahme. Man habe von den Inszenierungen nichts ge­wusst. „Wir sind alle nicht auf die Idee gekommen, dass das gewissermaßen gehobenes Scripted Rea­lity war“, sagt Dirk Neuhoff, Leiter Dokumentation und Reportage beim NDR. Für Christoph Terhechte, der das Dokumentarfilmfestival DOK Leipzig leitet, wirken viele der Szenen offensichtlich gestellt. „Der Verdacht, dass da inszeniert worden ist, liegt für jeden erfahrenen Fernseh- oder Filmmenschen auf der Hand.“

Dass es sich nicht um einen „schmutzig gedrehten“ Dokumentarfilm gehandelt habe, bei dem die Kamera ohne wei­teres Arrangement einfach mitläuft, sei Neuhoff und seinen Kolleg:innen bewusst gewesen. „Wir haben das als besondere Stärke des Films gesehen. Was wir nicht gesehen haben und auch nicht sehen konnten, dass die Protago­nisten Darsteller waren.“ Auf die Frage, ob Elke Lehrenkrauss, die bei der Pro­duktion fast alles allein gemacht hat und mit „Lovemobil“ ihren Debütfilm drehte, intensiver vom NDR hätte be­treut werden müssen, antwortet Neu­hoff, das sei „möglicherweise richtig“. Nach interner Bewertung habe sich jedoch gezeigt, dass die Redaktion ihre Arbeit gut gemacht habe. „Wenn es darum ging zu helfen, haben wir das getan.“ Künftig wolle man Debütant:innen bei Auftragsproduktionen dazu raten, mit einer Produk­tionsfirma zusammenzuarbeiten. „Ob es dann nicht passiert wäre, kann ich nicht sagen. Wir haben aber andererseits auch nie Hinweise gehabt, dass das al­les furchtbar schwierig ist.“

Unter anderen Vorzeichen

In den Produktionsverträgen soll künftig festgehal­ten werden, welche Regeln bei der Umsetzung eines Dokumentarfilms gelten. Die Abnahme könnte dann von zwei statt von einem:r Redakteur:in durchgeführt werden. Zudem will man Recherchen stichprobenar­tig noch genauer prüfen. „Vertrauen ist gut, ein biss­chen Kontrolle hier und da ist besser, ohne in eine Kultur des Misstrauens abzugleiten“, sagt Neuhoff.

Zu ungewollter Aufmerksamkeit im Zuge der Debat­te um „Lovemobil“ gelangte auch der Film „Die Unbeugsamen“. Die Zeit unterstellte Regisseur Marc Wiese unlautere Methoden – unter anderem beim Umgang mit schützenswerten Quellen. Der redakti­onell verantwortliche SWR steht zu Wiese. Es habe in den verschiedenen Stadien der Produktion intensive Gespräche mit Regisseur und Produzent zum Thema Sicherheit der Protagonist:innen gegeben, sagen die zuständigen SWR-Redakteur:innen Gudrun Hanke-El Ghomri und Bernd Seidl. Regisseur Wiese ging erfolg­reich juristisch gegen die Berichterstattung der Zeit vor. Mittlerweile sind die Artikel offline.

Zwei unterschiedliche Fälle, die zeigen: Vertrauen ist und bleibt die wichtigste Währung zwischen Redakti­onen und Autor:innen. Hundertprozentige Sicherheit wird es nicht geben können, nicht alles kann über­prüft werden. Gegen gezielte Täuschungsabsichten sind die Redaktionen im Alltagsgeschäft machtlos. Man denke nur an den Fernsehjournalisten Michael Born, der 1996 wegen gefälschter Dokufilme sogar ins Gefängnis musste.

Die jüngsten Fälle aus den vergangenen Jahren sollten die Sender sensibilisie­ren und interne Kontrollmechanismen von Zeit zu Zeit neu justiert werden. Der Dokumentarfilm-Professor und Publizist Dietrich Leder meint: „Der Do­kumentarfilm bleibt eine prekäre Film­sorte, die um Aufmerksamkeit kämp­fen muss.“ Er entstehe letztlich als ein „subjektiv geprägtes Bild der gesell­schaftlichen Wirklichkeit mit Grauzo­nen, blinden Flecken und Grenzen der Darstellbarkeit“. Das erklärt vielleicht auch, warum ausgerechnet das Genre Dokumentarfilm so anfällig ist.

1. Juli 2021