The Catch-Up
The Catch-Up Vol. 4

Sprechen wir über Aufmerksamkeit: Wie erzeugt man sie beim Publikum (Stichwort „Storytelling“)? Und: Wer Print aufgibt, verliert Aufmerksamkeit. Das alles und mehr in der vierten Ausgabe von The Catch-Up.

von Jonathan Gruber

In Kürze:

  • Journalismus bedeutet auch, Geschichten zu erzählen – oder etwa nicht? (Boesman & Costera Meijer, 2018)
  • Wer sein Printgeschäft aufgibt und nur noch digital publiziert, schreibt vielleicht wieder schwarze Zahlen, verliert aber eine Menge Aufmerksamkeit. (Thurman & Fletcher, 2018)

The Catch-Up ist eine Message-Reihe, die über aktuelle Forschungsergebnisse und Diskussionen aus der Journalistik berichtet. Sie richtet sich sowohl an Forschende und Studierende des Fachbereichs als auch an Journalistinnen und Journalisten sowie alle anderen Interessierten. Ziel ist eine Verknüpfung von Wissenschaft und journalistischer Praxis.
Sie haben Feedback und Anregungen, was The Catch-Up aufgreifen könnte? Schreiben Sie uns!

Von Fakten und Geschichten. Wenn ich für Sie eine Studie aussuche und hier kurz präsentiere, warum entscheide ich mich dann für die eine und gegen die andere Studie? Geht es alleine um die Qualität der jeweiligen wissenschaftlichen Arbeit? Die Qualität der Methodik? Die Aussagekraft der Ergebnisse? Oder wähle ich bloß ein Paper aus, von dem ich glaube, dass Sie sich dafür interessieren? Oder dessen Inhalt mir genug Material für eine unterhaltsame, anregende Geschichte liefert?

Ich würde all diese Fragen mit „Jein“ beantworten. Natürlich schaue ich immer mit einem Auge auf die „Unterhaltsamkeit“ einer Studie. Ich möchte Sie ja nicht langweilen. Andererseits hoffe ich doch, Ihnen keinen Unfug zu präsentieren und überprüfe deshalb immer nach bestem Gewissen die Qualität der jeweiligen vorgestellten Arbeit. Es ist also ein Mix aus Recherche (und den damit einhergehenden Fakten) und einer guten Story. Glaubt man Boesman und Costera Meijer (2018), dann verhält es sich im Journalismus ganz ähnlich:

“Greatly simplified, the practice of making news stories consists of two practices: being able to ‘recognize the news’ and to ‘make a story’ out of it” (S. 1004).

Die Autoren haben 49 belgische und niederländische Journalistinnen und Journalisten mit dieser Aussage konfrontiert. Deren Antwort: Jein. „[…] the interviewed journalists consider ‘news making’ and ‘storytelling’ often as distinct, and sometimes opposing, practices” (S. 1004).

Mit anderen Worten: Es gibt Fakten, die recherchiert und berichtet gehören und es gibt Geschichten, die diese Fakten gut verpacken und transportieren können. Dabei kann ersteres durchaus ohne letzteres bestehen, eine Geschichte aber niemals ohne gut recherchierte Fakten. Welche Form wann angemessen ist, so die Befragten Journalistinnen und Journalisten, richte sich ganz nach dem jeweiligen Publikum und dem eigenen Glauben, wie man dieses am besten über „Wichtiges“ informiert.

All […] have a different relationship to audiences: ignoring them or even showing aggressive behaviour towards them (don’t fool me), letting them “think for themselves” (facts not stories), making it easier for them (toolkit), making a space for them (voice), and immersing them (truthful not accurate). (S. 1005)

Ich frage mich: Basiert nicht jede kurze Meldung, jede Nachricht und jeder Bericht auf einem Selektionsprozess? Und geht es bei diesem Selektionsprozess nicht immer um eine Geschichte? Wer berichtet schon gerne Fakten, für die sich niemand interessiert? Funktioniert Journalismus also überhaupt ohne Storytelling? Was meinen Sie?

 

Wer Print liest, liest länger. Wenn man eine Zeitung aufschlägt, dann wird man sprichwörtlich von ihr eingenommen. Zwar hat nicht jedes Printprodukt die Ausmaße der ZEIT, aber sie beanspruchen allesamt einen überwiegenden Teil des Sichtfelds für sich. Das hat einen ganz besonderen Vorteil: Sie sind sich der Aufmerksamkeit ihrer Leserinnen und Leser im Moment der Rezeption (zumindest visuell) sicher. Davon können digitale Produkte nur träumen. Ein Klick, ein Wischen mit dem Finger oder auch nur eine eingehende Push-Mitteilung und schwuppdiwupp ist die Aufmerksamkeit des Lesers oder der Leserin schon wieder ganz woanders.

Thurman und Fletcher (2018) haben diese Unterschiede am Beispiel der britischen Zeitung The Independent untersucht. Am 26. März 2016 wurde die letzte Ausgabe des Independent gedruckt – als Folge stetiger Verluste im Printgeschäft (S. 2). Fortan existierten die Angebote der Redaktion nur noch digital.

Statt Ressourcen für die Printzeitung zu „verschwenden“, konnten nun alle Redakteurinnen und Redakteure mit voller Power an den digitalen Produkten werkeln. Die Hoffnung: Reichweite und Abonnementzahlen deutlich anzuheben (S. 2–3).

Tatsächlich stieg die Anzahl der monatlichen Leserinnen und Leser des digitalen Independent. Dieser Erfolg wurde jedoch teuer bezahlt:

Despite increases in net monthly readership, our results show a dramatic drop in the attention received by The Independent from its British audience after it stopped printing and went online-only […]. We estimate that, in the 12 months before the switch, its print editions were responsible for 81% of the time spent with the brand by its British readers, and the online editions just 19%. After the switch, the attention it received via PCs and mobiles changed little. […] Comparing the time spent with The Independent’s digital editions in the 12 months after its move to online-only against the 12 months before shows an increase of less than half a percent. (S. 6)

All die schöne Zeit mit der gedruckten Version des Independent wurde also nicht eins zu eins in die Lektüre der digitalen Version investiert. Wer verbringt schon 15 oder 20 Minuten am Stück auf der Website oder der App einer einzigen Zeitung? Die interessante Frage lautete doch nun: Woran liegt es, dass Print „mehr“ (zumindest beim Independent) Aufmerksamkeit bindet? Und wie lässt sich das auf digitale journalistische Produkte übertragen?

 

Außerdem neu aus der Forschung:

  • Viele Journalistinnen und Journalisten in China lehnen die strenge Kontrolle ihrer täglichen Arbeit durch den allmächtigen chinesischen Staat ab. Überraschenderweise sind sie trotzdem ganz zufrieden mit ihrem Job (Liu, Xiaoming & Wen, 2018).
  • Den Öffentlich-Rechtlichen sei Dank: Sie sorgen (so eine Fallstudie aus sechs Ländern) für mehr Diversität bei Online-Nachrichten (Humprecht & Esser, 2018).
  • Dokumentarfilme erforschen? Geht jetzt einfacher – dank einer neuen Datenbank mit Metadaten zu 15.000 deutschen Filmen.
  • Wie sah Onlinejournalismus vor 15 Jahren aus? Wie vor zehn? Vor fünf? Was hat sich in den Darstellungsweisen verändert? Hinweise bieten Web-Archive. Wie man diese für die eigene Forschung verwenden kann, erläutern Weber und Napoli (2018).
22. November 2018