#nr20 | Innovation
Realität in virtuellen Welten

Den Krieg im Kongo oder als Gefangene*r ein Stasi-Verhör erleben: Virtual-Reality-Journalismus bietet noch nie ­dagewesene Möglichkeiten. Allerdings kämpft er mit großen Herausforderungen

von Fabian Sigurd Severin

„Mich hat an Kriegsbildern immer interessiert, was außerhalb dieser Fotos passiert“, erklärt die Foto- und Videojournalistin Julia Leeb. Sie dreht 360-Grad-Dokus in Kriegs- und Krisengebieten wie dem Sudan oder Kongo. Virtual Reality (VR) erlebt sie als „absolute Befreiung“, denn damit kann sie nicht mehr nur Ausschnitte, sondern die ganze Umgebung zeigen. Den journalistischen Filter, was wichtig ist, überlässt sie ihren Zuschauer*innen: Sie entscheiden selbst, in welche Richtung sie blicken, und beeinflussen damit, wie sie beispielweise das Leben in einem afrikanischen Dorf wahrnehmen.

Für VR-Produktionen reisen Journalist*innen oft an abgeschiedene Orte. Hier dreht die Foto- und Videojournalistin Julia Leeb im Kongo.

Für VR-Produktionen reisen Journalist*innen oft an abgeschiedene Orte. Hier dreht die Foto- und Videojournalistin Julia Leeb im Kongo. //Foto: Julia Leeb

Die Zuschauer*innen werden somit „ihre eigenen Regisseure“, ergänzt Christiane Wittenbecher, Geschäftsführerin des Berliner Produktionsunternehmens Into VR & Video. Das Eintauchen in virtuelle Welten erleichtert es, sich in Situationen hineinzuversetzen – wie in der VR-Produktion „Was wollen Sie in Berlin?!“. Dabei erleben die Zuschauer*innen als Gefangene ein Stasi-Verhör, und damit einen Teil der DDR-Vergangenheit, interaktiv mit.

Fehlendes Know-how

„Tatsächlich haben nahezu alle großen Medienhäuser begonnen, mit Virtual Reality zu experimentieren“, sagt Alexander Godulla, der sich als Professor für Empirische Kommunikations- und Medienforschung an der Universität Leipzig schwerpunktmäßig mit VR befasst. Allerdings verfügen die Medienhäuser häufig nicht über das nötige Know-how. Daher beauftragen sie meist kleinere Produktionsunternehmen.

Anders war es bei der britischen BBC: Um erste Erfahrungen mit der Technologie zu sammeln, gründete sie 2017 eine eigene VR-Abteilung. Nach zwei Jahren wurde sie trotz einiger preisgekrönter Beiträge wieder eingestellt. Grund dafür war dem Sender zufolge eine zeitlich befristete finanzielle Förderung. Der Abschlussbericht des „BBC VR Hubs“ verweist außerdem auf hohe Produktions- und Marketingkosten sowie noch immer ungeklärte Lizenz- und Vertriebsvereinbarungen. Diese müssten derzeit jedes Mal neu mit Museen oder Festivals ausgehandelt werden. Die Produktionen seien zudem viel zeitaufwändiger und die Archivierung der riesigen Datenmengen komplexer.

Das größte Hindernis für den Durchbruch von VR sieht Wissenschaftler Godulla wie die Praktikerinnen Leeb und Wittenbecher aber nicht in den Kosten, sondern in der Technik. Die VR-Brillen seien inzwischen zwar für jeden zugänglich und bezahlbar, ihre Qualität allerdings immer noch zu schlecht, um ein optimales Nutzererlebnis zu schaffen.

Welche langfristigen Auswirkungen VR-Inhalte auf Rezipient*innen haben, ist noch weitestgehend unerforscht. Die Philosophie-Professoren Michael Madary von der University of the Pacific in Kalifornien und Thomas Metzinger von der Universität Mainz erläutern in ihrem 2016 gemeinsam verfassten VR-Ethikkodex aber bereits, dass das Aufsetzen von VR-Brillen zu einer Abschottung vom sozialen Umfeld führe. Darüber hinaus könne das Eintauchen in die virtuelle Welt sogar „soziale Halluzinationen“ und Traumata auslösen.

Um traumatische Erfahrungen durch VR-Produktionen zu verhindern, ist laut Wittenbecher ein direkter Dialog mit den Zuschauer*innen nötig. In VR-Kinos könnten die Produzent*innen mit ihnen über das Erlebte sprechen und Einblicke in die Entstehung des Beitrags liefern. Besonders belastend kann für Zuschauer*innen die Darstellung von Anschlägen und Unfällen sein, da sie bei VR-Produktionen stärker als beim Fernsehen in Situationen eintauchen, erklärt Stefan Gensch, Produktentwickler der Berliner VR-Firma Vragments. Die Wirkung könne jedoch durch einen Perspektiv- bzw. Rollenwechsel oder eine abstrakte Darstellung der Umgebung abgeschwächt werden. Konkret könnten die Zuschauer*innen einen Bombenanschlag anstatt auf Augenhöhe aus sicherer Entfernung wie ein Vogel aus der Luft beobachten. Unklar ist, inwieweit die entrückte Perspektive die Auseinandersetzung mit dem Gesehenen beeinflusst.

Gerade in Kriegs- und Krisengebieten entstünden viele Aufnahmen wegen der gefährlichen Situationen aber ohnehin spontan, erklären die VR-Pionierinnen Leeb und Wittenbecher. Zudem sei oft nicht vorhersehbar, auf welche Pro­ta­go­nis­t*innen sie dort treffen. Der Informatiker Gensch resümiert: „Auch wenn wir schon sehr viel Erfahrung gesammelt haben, es ist immer noch ein Experimentierfeld.“

Durchbruch oder Einbruch?

Mit VR experimentiert in Deutschland unter anderem der WDR. Er sieht darin die Chance, „journalistische Themen auf innovative Art und Weise zu erzählen und besonders jüngere Zielgruppen für diese Themen zu interessieren“, erklärt der Sender. Trotzdem sind VR-Produktionen der Videojournalistin Wittenbecher zufolge eher etwas „Exklusives, was man auf Events oder in VR-Kinos macht“, denn das Budget dafür sei knapp und VR-Brillen seien nicht weit verbreitet. So wird auch das „Virtuelle Bergwerk“ des WDR nicht nur als Web-Projekt, sondern zugleich an Bord eines speziellen Trucks auf Messen vorgeführt. Während der Corona-Pandemie stieg laut Wittenbecher zwar die Nachfrage von Museen an VR-Produktionen, einen endgültigen Durchbruch von VR-Journalismus vermutet Leeb aber erst „in dem Moment, in dem sich die Wiedergabegeräte sehr viel verbessern“.

17. August 2020