Interview | Sprache
»Nicht zum ›Sprachrohr‹ machen lassen«

Terror, Krieg und Völkermord – Andreas Werner ist der oberste Sprachpfleger der Tagesschau-Redaktion und hat als Hüter der Richtlinien die Aufgabe, den Gebrauch von Wörtern wie zu kontrollieren. Ein Gespräch mit dem Chef vom Dienst über die Feinheiten der Nachrichtensprache.

Herr Werner, was muss man tun, um von der Tagesschau als Terrorist bezeichnet zu werden?

Werner: Terror herrscht nicht nur, aber vor allem dort, wo Menschen getötet werden, die nicht unmittelbar etwas mit einem Konflikt zu tun haben. Jeder, der einen Anschlag mit politischem Hintergrund verübt und Unschuldige, insbesondere Zivilisten tötet, muss als Terrorist gelten und darf auch Terrorist genannt werden. Es gibt aber auch Gewalt im Zuge militanter Auseinandersetzungen, die nicht bloß terroristische Züge trägt, bei der man es sich mit dem Begriff Terrorismus zu einfach machen würde – beispielsweise im Nahen Osten oder früher in Nordirland.

Was hat sich seitdem geändert?

Man hat – insbesondere nach »9/11« – gesehen, wozu Menschen in der Lage sind, die sich mit Gewalt politisches Gehör verschaffen wollen. Seitdem hat der Terror und damit auch der Begriff des Terrorismus eine neue Dimension. Terror gab es schon immer. Aber der Terror scheint bei extremistischen Kräften »hoffähiger« geworden zu sein. Er gilt radikalen Gruppierungen heute als legitimes Mittel der politischen Auseinandersetzung. Mithin taucht auch in der Nachrichtenwelt der Begriff des »Terrorismus« und des »Terroristen« häufiger auf.

In einigen Regionen ist »Terrorismus« ein Kampfbegriff. Eine verbindliche UN-Definition gibt es nicht, weil der Begriff so stark politisch aufgeladen ist. Warum hält die Tagesschau dennoch an seiner Benutzung fest?

Andreas Werner, 58, ist seit 30 Jahren Redakteur, zuerst bei der Frankfurter Rundschau und Die Woche, seit 1993 arbeitet er bei ARD-aktuell. Dort ist Werner seit 2001 Chef vom Dienst der Tagesschau und vor allem für die Tagesschau um 20 Uhr verantwortlich.

Andreas Werner, 58, ist seit 30 Jahren Redakteur, zuerst bei der Frankfurter Rundschau und Die Woche, seit 1993 arbeitet er bei ARD-aktuell. Dort ist Werner seit 2001 Chef vom Dienst der Tagesschau und vor allem für die Tagesschau um 20 Uhr verantwortlich.

Ich glaube nicht, dass der Terrorismus nur ein »Kampfbegriff« ist. Der Begriff impliziert eine besonders grausame Form, Konflikte auszufechten; Konflikte, die es ja in der Tat gibt. Die aber immer häufiger abseits dessen ausgetragen werden, was wir ehemals »Krieg« oder »Bürgerkrieg« nannten. Dabei muss immer wieder erwähnt werden, dass Terror ja nicht nur von militanten Gruppen ausgeübt wird, sondern auch von autoritären, totalitären und diktatorischen Regierungen. Terror ist also nicht exklusiv bei Al-Kaida oder dem »Islamischen Staat« verortet. Und auf der
anderen Seite ist etwa die »Hamas« nicht per se terroristisch.

Die Hamas schickte Menschen in Busse, und die sprengten sich darin in die Luft – unabhängig davon, ob Soldaten oder Zivilisten im Bus saßen.

Wir waren nicht zurückhaltend damit, diese Anschläge »Terroranschläge« zu nennen – weil sich die Attentate gegen unschuldige Menschen gerichtet haben.

Es gibt also Organisationen, die die Tagesschau nicht als Terrororganisation bezeichnet, ihre Anschläge aber als terroristisch?

Nehmen wir die IRA, die ETA oder meinetwegen auch die »Hamas«. Das waren oder sind Organisationen oder »Parteien«, die aus legitimen politischen Bewegungen heraus entstanden sind; diese Bewegungen hatten und haben sich teils massiv militarisiert. Gleichwohl lässt sich hier nicht so einfach mit Begriffen wie »Terrororganisation« operieren – wenngleich von diesen Organisationen, Bewegungen, Gruppierungen Terror ausging und ausgeht.

Die Hamas wird aber doch nicht nur von Israel als Terrororganisation geführt, sondern auch von der Europäischen Union.

Wir Nachrichten-Journalisten sind nicht die Europäische Union. Wir übernehmen nicht Begriffe automatisch in die eigene Sprache. Wir wägen ab, wo Begriffe wie »Terrorismus« interessengesteuerte Kampfbegriffe sind – und wo sie einer allgemein anerkannten demokratischen Wertebegrifflichkeit erwachsen.

Wie muss man sich eine Begriffsdiskussion bei der Tagesschau vorstellen?

Wir haben jeden Tag mehrere Konferenzen mit den Redakteuren, die an unseren Nachrichtensendungen beteiligt sind. Auf diesen Konferenzen werden Themen, aber auch Begriffsfragen geklärt. Dies ist gerade heute wichtig, wo politische Auseinandersetzungen immer komplexer werden.

Wer entscheidet denn letzten Endes bei der Tagesschau?

Die Entscheidung fällt, nach ausführlicher Diskussion, im breiten Konsens. Am Ende hat natürlich die Chefredaktion auch die Begriffshoheit. Begriffe, auf die wir uns verständigt haben, landen im so genannten Redaktions-Wiki, das für die gesamte Redaktion zugänglich ist.

Was wurde zuletzt diskutiert?

Im Zusammenhang mit dem Ukraine-Konflikt gab und gibt es Begriffe, die wir immer wieder hinterfragen und klären müssen. Wie nennt man zum Beispiel die von pro-russischen Separatisten gehaltenen Gebiete? Abtrünnig? Oder sind sie schon quasi »autonom«? Ist die Krim von Russland bloß »annektiert« worden? Schließlich gab es ein Referendum. Die Lage ist oftmals zu kompliziert, um sie auf einen Begriff zu bringen. Im Konflikt zwischen der »Hamas« im Gazastreifen und Israel haben wir beispielsweise eingehend diskutiert, wann wir diesen Konflikt »Krieg« nennen sollen. Es stehen sich ja nicht im klassischen Sinne zwei Armeen gegenüber. Alles Fragen, die sich nicht so leicht beantworten lassen.

Konsultieren Sie denn auch Experten wie zum Beispiel Völkerrechtler?

Wir ziehen Experten, zum Beispiel Völkerrechtler, zu Rate. Aber auch unter ihnen gehen die Ansichten über Begriffe und wann sie benutzt werden dürfen oder müssen, bisweilen weit auseinander.

Wie war dann die Begründung der Tagesschau beim Gazakrieg, ihn als solchen zu bezeichnen?

Wir haben »Gazakrieg« gesagt, als sich die Auseinandersetzungen zwischen der Hamas im Gazastreifen und der israelischen Armee von einzelnen Anschlägen und Attacken zu einer breiten Welle gegenseitiger Angriffe auswuchsen. Es war ja daraus ein »Krieg« zwischen zwei quasi Armeen geworden, von denen eine zwar nicht zu einem Staat gehört, aber zu einem staatsähnlichen Gebilde. Dem tragen inzwischen auch die Vereinten Nationen Rechnung. Der Kriegsbegriff hat sich
längst einer erweiterten Interpretation des Völkerrechts angepasst.

Wenn die Politik auch freigiebiger mit dem Begriff Terrorismus geworden ist, dann besteht doch zumindest die Wahrscheinlichkeit, dass auch die Tagesschau das Etikett häufiger verwendet, oder nicht?

Die Politik bewegt sich ja nicht im »luftleeren« Raum und verwendet diesen Begriff bloß willkürlich. Vor allem dadurch, dass der »Terror«, wie jüngst durch den Anschlag auf die Redaktion von »Charlie Hebdo«, näher und immer massiver an unsere westliche Welt herangerückt ist, hat der Begriff »Terror« einen anderen Stellenwert bekommen; auch in seiner Verwendung.

Muss ein Anschlag gegen Zivilisten gerichtet sein, um als Terroranschlag zu gelten?

Nein, der kann sich zum Beispiel auch gegen Polizeistationen richten, wie in Afghanistan. Das ist natürlich Taliban-Terror, obwohl auch die Taliban bestimmt die Rückendeckung eines nicht so kleinen Teils der afghanischen Bevölkerung haben.

Es gibt aber auch ein Gegennarrativ: nämlich dass Gruppen aufgrund der schieren Überlegenheit des Gegners gar nicht anders kämpfen können als mit Terroranschlägen.

Terror bleibt Terror. Auch wenn die Hintergründe unterschiedlich sind.

Gibt es in der Tagesschau eine Richtlinie, wonach der Begriff Terrorismus sparsam verwendet werden soll?

Nein, eine solche Richtlinie gibt es nicht. Manchmal herrscht spontanes Einvernehmen, oftmals bedarf es der Klärung. Grundsätzlich ist es wichtiger, zu beschreiben, was passiert, als dem Ganzen ein Etikett aufzukleben.

Ist die politische Weltanschauung desjenigen, der den Anschlag ausführt, relevant?

Nein, Terror kann es von vielen Seiten geben, von rechts wie von links. Von, ich sagte es schon, Gruppierungen wie Al-Kaida oder dem »IS«, aber auch seitens Regierungen; die Militärjunta in Chila beispielsweise hat ehedem auch Terror gegen die Bevölkerung betrieben, und es gibt nach wie vor auch Staatsterror.

Wagen wir einen düsteren Blick in die Zukunft: Was, wenn sich das Kalifat des Islamischen Staats noch sieben oder acht Jahre lang hält und zu einem Staat wird? Müsste man sich dann auch von dem Begriff »Terrororganisation« verabschieden?

Ich denke nicht, dass sich der »Islamische Staat« tatsächlich verwirklicht. Es kann aber, ohne hier irgendwie eine Art Vergleich anstellen zu wollen, sein, dass es eines Tages einen Kurdenstaat gibt, für den die PKK lange gekämpft hat, auch mittels terroristischer Gewalt. Das delegitimiert einen Kurden-Staat nicht, denn die Kurden stützen sich seit jeher auf viele, auch friedliche Bewegungen. Das sehe ich beim »Islamischen Staat« nicht; insofern bleibt der »IS«-Terror »IS«-Terror und der »Islamische Staat« eine Terror-Organisation.

Der Begriff Terror wird hauptsächlich für nichtstaatliche Akteure gebraucht. Wie kann man es vermeiden, dass man sich zum Sprachrohr der größeren und stärkeren, also meist staatlichen Institution macht?

Man sollte sich überhaupt nicht zum »Sprachrohr« machen lassen – weder zum Sprachrohr eines größeren Akteurs, etwa eines Staates, noch zum Sprachrohr eines kleinen Akteurs, etwa einer nichtstaatlichen politischen Organisation. Das ist ein Credo unserer Redaktion!

Was ist mit dem Begriff Völkermord? Er ist zwar von der UN definiert, aber die Begriffsbestimmung ist recht offen. Was war das Räsonnement der Tagesschau in Bezug auf die Jesiden?

Ich würde zunächst immer eher von Verfolgung, Flucht, Mord sprechen. Mit dem Begriff des Völkermordes sollte man vorsichtig umgehen – er misst sich unter anderem an der deutschen Geschichte und dem Mord an sechs Millionen Menschen. Aber wenn Politiker von »Völkermord« sprechen, dann muss es erlaubt sein und ist es erlaubt, sie zu zitieren. Wichtig ist, zu thematisieren, dass sich der »IS« anschickt, hier eine religiöse Minderheit, zu der allerdings hunderttausende Menschen gehören, mit Gewalt zu vertreiben. Das ist massiver Terror gegen ein Volk, wie immer man diesen »Terror« über diesen Begriff hinaus nennen mag.

Das Interview führte Message-Redakteur Jan Ludwig.

18. März 2015