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Nahbare News

Immer mehr Medienhäuser platzieren journalistische Inhalte auf Tiktok – doch zu welchem Preis?

von Florian Görres und Yaejun Rhee

Anna Albrecht steht seit etwa drei Jahren für den TikTok-Account der Tagesschau vor der Handykamera, sie hat das Konzept mitentwickelt. Zusammen mit zwei Kolleg*innen präsentiert sie dort aktuelle Informationen über Ereignisse auf der ganzen Welt. Auch bekannte Fernsehgesichter sind gelegentlich auf dem Account zu sehen – ein Video, in dem Susanne Daubner die Anwärter auf die Jugendwörter des Jahres präsentierte, wurde zum viralen Hit. So könne das „perfektionistische und dadurch auch oft sehr steife Image“ der Tagesschau-Sprecher*innen aufgelockert werden, sagt Albrecht. „Wenn wir von Fakten sprechen, dann ist es auch gut, da so perfektionistisch zu sein. Aber trotzdem arbeiten hier auch Menschen, die Sport machen oder Computerspiele daddeln“, erklärt Albrecht weiter.

Stefan Düsterhöft, stellvertretender Digitalchef der Hamburger Morgenpost (MOPO), sieht die Nutzung von TikTok eher als eine Möglichkeit, die eigene Marke bekannter zu machen und sie den Menschen näherzubringen. Journalistische Inhalte geraten dabei anfangs eher in den Hintergrund. Damit auch kleinere Medienhäuser erfolgreich auf TikTok journalistisch arbeiten können, benötigt man seiner Meinung nach geeignetes Personal. „Um das vernünftig und gut zu machen, braucht man mindestens eine*n Redakteur*in, der/die sich fulltime darum kümmert“. Aktuell folgen etwas mehr als 3.000 Menschen der MOPO auf TikTok.

Nachrichtennutzung auf TikTok

Susanne Daubners Video über die
Jugendwörter des Jahres 2021 ging viral. // Quelle: TikTok @tagesschau

TikTok ist inzwischen eine relevante Plattform für Journalist*innen. Nachrichten können dort schnell eine junge und diverse Zielgruppe erreichen. Aus dem neuesten Reuters Digital News Report geht hervor, dass visuell akzentuierte Plattformen wie TikTok für Nachrichten immer beliebter werden. Die Medien- und Kommunikationswissenschaftlerin Kirsten Eddy, die am Report mitgewirkt hat, beobachtet, dass sich die News-Nutzung von TikTok bei den britischen „Social Natives“ in nur drei Jahren verfünffacht hat. Während in 2020 nur drei Prozent TikTok genutzt haben, um Nachrichten zu konsumieren, sind es heute 15 Prozent.

Vor der Kamera stehen zumeist junge Journalist*innen. Für MOPO-Mann Düsterhöft ist das logisch, da diese näher an der Zielgruppe sind. Er kann es sich nur schwer vorstellen, „einen TikTok-Kanal von einer Kollegin oder einem Kollegen Mitte 40 machen zu lassen“.

Die Reichweite der Videos wird bei TikTok natürlich von den Algorithmen bestimmt. Diese honorieren laut Albrecht vor allem kurze Videos. Dem Zwang zur Kürze muss sich der Journalismus anpassen, damit seine Produkte User*innen überhaupt angezeigt werden. Heißt das, dass Redaktionen in Zukunft nur noch Kurzvideos produzieren sollten? Für Albrecht steht das nicht im Widerspruch zum Qualitätsanspruch der Tagesschau. So könne man zu einem Thema auch mehrere Videos veröffentlichen. Auch Beiträge in einer normalen Nachrichtensendung seien oft nicht länger als die – bei TikTok übliche – Zeitmarke von einer Minute.

Trendsetter

TikTok ist die Plattform, „die den Weg weist, wie vertikales Video auf mobilen Endgeräten funktioniert“, so Medienforscher und TikTok-Experte Marcus Bösch. „Im Moment versuchen alle Plattformen so zu sein wie TikTok“, führt er aus. Das zeigen auch die jüngeren Updates von Konkurrenzplattformen: Instagram führte Reels ein und YouTube sogenannte Shorts – beides mehr oder weniger direkte Kopien des TikTok-Erfolgsmodells. Die Plattformen wandeln sich also und passen sich den Nutzungsgewohnheiten an. Für Albrecht müssen Journalist*innen hier nachziehen: „Wir als Öffentlich-Rechtliche können ja nicht bestimmen, wie die Mediennutzung aussieht.“

Gewandelter Zeitgeist

Wie also entwickelt sich der Journalismus durch TikTok? Eine aktuelle Studie des Journalisten und Medienforschers Henning Eichler offenbarte bei öffentlich-rechtlichen Redaktionen „eine deutliche Orientierung an algorithmischen Funktionsweisen“. Journalistische Arbeit werde von den Erfolgsmodellen der jeweils bespielten Plattform mitbestimmt. Anna Albrecht glaubt, dass „ein Wandel im Zeitgeist stattgefunden hat, wo die User*innen wollen, dass auf Augenhöhe kommuniziert wird“. TikTok sei zudem „eine Plattform, wo Nahbarkeit eine sehr große Rolle spielt“.

Diese nahbare Mischung aus Unterhaltung und Information scheint sich auszuzahlen: Die Tagesschau gehört mit 1,3 Millionen Followern zu den erfolgreichsten journalistischen Produkten auf TikTok.

Problemen produktiv begegnen

Dennoch ist TikTok mit Vorsicht zu genießen: Immer wieder wird den chinesischen Betreibern der App vorgeworfen, dass sie persönliche Informationen von Nutzer*innen ohne Erlaubnis sammelten und regierungskritische Beiträge gegen die VR China zensierten. Im März fand die Tagesschau-Redaktion heraus, dass TikTok bestimmte Wörter aus Kommentaren herausfilterte. So wurden bestimmte Stichwörter, überwiegend aus der LGBTQI-Community, anderen Nutzer*innen nicht angezeigt. Eine Sprecherin von TikTok erklärte der Tagesschau gegenüber, dass die Plattform Mechanismen benutze, um „potenziell schädliche Kommentare automatisiert herauszufiltern“. Inzwischen sind Inhalte, die Begriffe aus der LGBTQI-Community enthalten, wieder häufiger aufzufinden.

Tagesschau-Chefredakteur Markus Bornheim sagte 2019: „Wenn wir merken, dass unsere Inhalte rausgenommen werden durch irgendeine Form von Moderation von TikTok, dann werden wir den Kanal sofort zumachen“. Obwohl die letzten Enthüllungen dieser roten Linie sehr nahekommen, will die Tagesschau den Kanal TikTok weiter nutzen.

Die Macht der Algorithmen stellt für Albrecht durchaus ein Problem dar. Sie wünscht sich Regularien für die Ausspielung öffentlich-rechtlicher Inhalte auf sozialen Plattformen. Es müsse gewährleistet werden, dass der öffentlich-rechtliche Content von den Algorithmen angemessen berücksichtigt werde. In diesem Punkt sei aber vor allem die Politik gefragt. Um die Arbeit von Journalist*innen zu vereinfachen, wünscht sich Albrecht von TikTok bessere Reichweite-Analysen. Diese seien wichtig, um „besseren Content, mit der Plattform zusammen, zu produzieren“.

Auch Medienexperte Bösch wünscht sich stärkere Gestaltung durch die Medienpolitik. Es seien Regelungen notwendig, „die dafür sorgen, dass Nutzer*innen besser geschützt werden und Fehlinformationsverbreitung eingedämmt wird“. Aber auch TikTok setze die eigenen Community-Guidelines nicht ausreichend um. Eine „Plattform in der Größe, mit so vielen Nutzerinnen und Nutzern, hat natürlich eine riesige Verantwortung und der wird TikTok im Moment noch nicht gerecht“, so Bösch.

5. Oktober 2022