#nr19 | Innovation
Kollege Algorithmus

Ob Börse, Wetterbericht oder Fußballergebnisse der Kreisliga B – überall, wo Daten ­entstehen, bekommen Journalisten Konkurrenz von Algorithmen. Ein Grund zur Sorge?

von Wiebke Knoche

„Wenn Journalisten in der Medienwelt von morgen noch ihren Platz finden wollen, müssen sie sich auch den Herausforderungen von morgen stellen“, sagt Thomas Hestermann, Professor für Journalismus an der Hochschule Macromedia in Hamburg. Er meint damit den technischen Fortschritt durch Künstliche Intelligenz (KI), die auch im Journalismus immer häufiger zum Einsatz kommt.

Bereits heute können Algorithmen journalistische Inhalte produzieren, wenn diese Nachrichten allein auf Daten basieren. „Wetter, Sport, Finanzen oder Kriminalität sind nur einige Felder, in denen Algorithmen sinnvoll eingesetzt werden können und sollten“, sagt Hestermann.

„Trend zur Kleinteiligkeit“

Vorreiterin im Bereich automatisierter Texterstellung in Deutschland ist die Stuttgarter Zeitung/Stuttgarter Nachrichten. 2017 setzte das Medienhaus in Zusammenarbeit mit der Software-Firma AX Semantics erstmals einen Algorithmus ein, der anhand von Feinstaubdaten 80 Texte produziert, die den Leser aktuell über die Feinstaubbelastung in seinem Wohngebiet informieren. „Mit Hilfe von Algorithmen ist es uns gelungen, diese Unmengen an Daten zu verwerten“, erklärt Stefanie Zenke, Ressortleiterin Multimediale Reportagen bei der Stuttgarter Zeitung/Stuttgarter Nachrichten.

Das Beispiel zeigt: Mit Hilfe von Algorithmen lassen sich manche im Redaktionsalltag bislang vernachlässigte Themenfelder journalistisch erschließen und leichter aufbereiten. Zudem sei eine verstärkt personalisierte Berichterstattung möglich, so Zenke. Frank Feulner, Gründer von AX Semantics, einem führenden Anbieter im KI-Bereich, spricht von einem „Trend zur Kleinteiligkeit: Unterstützt von Algorithmen können Texte schnell und günstig für ganz viele verschiedene Leser geschrieben werden“. So könne man auch über Ereignisse wie Gemeinderatswahlen oder Fußball-Kreisliga­partien berichten, die nur für eine geringe Leserschaft relevant seien. „Wo ein Redakteur niemals hingeschickt werden würde, übernehmen Algorithmen auf der Basis von Daten die Berichterstattung“, sagt Feulner.

Etabliert hat sich der Einsatz von Algorithmen beispielsweise in der Wirtschaftsberichterstattung. Während Redakteure von Nachrichtenagenturen wie Associated Press früher pro Quartal rund 300 Unternehmensberichte schreiben mussten, lässt sich mit Hilfe von Software heutzutage die zehnfache Menge an Quartalsberichten und Finanzmeldungen generieren.

Werden Algorithmen den Journalisten also irgendwann ersetzen? „Das ist so ähnlich, als würde man sagen: Wird die neue vollautomatische Espressomaschine alle Köche arbeitslos machen?“, beruhigt Wissenschaftler Hestermann. Auch Ressortleiterin Zenke sagt, Algorithmen seien weniger eine Bedrohung als vielmehr ein Werkzeug, das neue Themenfelder eröffne und Journalisten von Routinearbeit befreie. „Wenn Zeit gespart wird, können andere Themen umgesetzt werden. Journalisten können sich auf investigative Recherchen konzentrieren oder rausgehen und neue Geschichten aufspüren.“ Denn dazu seien Maschinen bislang nicht in der Lage. „Die soften Bauchgefühle sowie Wertvorstellungen und Normen sind schwer in Daten auszudrücken und lassen sich einer Maschine nicht beibringen“, erklärt Software-Experte Feulner. Während sich im Sport nahezu jeder Spielverlauf beschreiben lasse, stellen nicht datafizierbare Ereignisse wie Ausschreitungen in Fanblöcken den Algorithmus vor unüberwindbare Herausforderungen.

Auch bei politischen Analysen stoßen Algorithmen (noch) an ihre Grenzen. Anhand der Ergebnisse von vergangenen Wahlen können sie Wahlausgänge zwar prognostizieren, nicht jedoch zwischen den Zeilen lesen: Algorithmen können weder parteipolitische Inhalte interpretieren noch Taktiken erkennen, die hinter bestimmten Aussagen von Politikern stehen. „Hier ist das menschliche Talent unersetzlich“, so Feulner.

Kaum unterscheidbar

Medienforscher Thomas Hestermann traut den Maschinen da schon deutlich mehr zu: „Eine Meinung zu entwickeln ist durchaus keine exklusiv menschliche Tätigkeit mehr.“ Eine Reduzierung der Algorithmen auf nachrichtliche Darstellungsformen hält er für zu eng gedacht: „Anhand von persönlichen Daten und Merkmalen lassen sich durchaus auch Kommentare schreiben, die plausibel sind.“

Die Leser können laut aktuellen Studienergebnissen ohnehin kaum Unterschiede zwischen automatisch erzeugten und von Menschen geschriebenen Texten erkennen. Im direkten Vergleich schneiden Computertexte sogar sehr gut ab. Für den Software-Entwickler Feulner sind diese Ergebnisse einleuchtend: „Wir sollten nicht vergessen, dass der Mensch der Maschine das Schreiben beigebracht hat und die Texte daher alles besitzen, was das look and feel eines menschlich verfassten Textes ausmacht.“

Fest steht: Der Einsatz von Algorithmen wird Journalistinnen und Journalisten in naher Zukunft nicht verdrängen, sehr wohl aber ihr Berufsbild stark verändern und Zuständigkeits- sowie Kompetenzbereiche verschieben. „Der Journalist von morgen kann alles“, prognostiziert Wissenschaftler Hestermann, „man kann sich ihn als Rucksackjournalist vorstellen, der nicht nur schreiben, sondern auch programmieren und selbständig mit Software arbeiten kann.“

15. August 2019