Forschung | Sprache
Emotion statt Information

Einst galt die Zeitung von gestern als alt, heute sind es die Posts von vorhin. Wie aber schreiben, wenn die Konkurrenz keine Zeitungen, sondern soziale Netzwerke sind? Über journalistisches Texten in Zeiten von Heftig, Facebook & Co.

von Kerstin Liesem

Köln, Dienstag, 8.23 Uhr. Beobachtung in der Linie 15 vom Chlodwigplatz zum Barbarossaplatz. 22 Studierende stehen, sitzen oder lehnen im Straßenbahnabteil. Alle haben Smartphones in den Händen. Sieben von ihnen beschäftigen sich mit Facebook. Sie scrollen sich durch die Neuigkeiten ihrer Facebook-Community. Was ihnen gefällt, bekommt ein »Like«. Neun tippen SMS oder beantworten Whatsapp-Nachrichten. Zwei telefonieren. Einer schießt ein Selfie. Drei hören Musik, die von Spotify kommt. Ein ganz normaler Morgen für Angehörige der Generation »always on«.

Ständige Aufmerksamkeit bedeutet auch Stress. Glenn Wilson, Psychiater am King’s College in London, hat nachgewiesen, dass die Ablenkung durch ständige Text- und Telefonbotschaften eine größere Gefahr für den Intelligenzquotienten und die Konzentration des Menschen darstellt als der Konsum von Cannabis.

So krass, bei diesem Screenshot musste ich weinen: Mit Babys, Drogen und Riesenspinnen fangen Websites wie heftig.co und BuzzFeed Klicks; statt Berichterstattung gibt es Rührgeschichten.

So krass, bei diesem Screenshot musste ich weinen: Mit Babys, Drogen und Riesenspinnen fangen Websites wie heftig.co und BuzzFeed Klicks; statt Berichterstattung gibt es Rührgeschichten.

Dennoch: Wer Studierende befragt, wird kaum jemanden finden, der angibt, sein Smartphone nicht ständig im Blick zu haben. Besonders hoch im Kurs bei den Studierenden steht Facebook. Den hohen Stellenwert dieser Social-Media-Plattform – besonders bei der Generation der 14- bis 29-Jährigen – belegt auch die ARD/ZDF-Onlinestudie 2013: Danach verbringt diese Zielgruppe im Durchschnitt 218 Minuten täglich im Netz, die Hälfte davon in sozialen Netzwerken. Mehr als ein Drittel dieser Zeit (37 Prozent) entfällt allein auf Facebook. Aber längst nicht nur die Digital Natives nutzen das Netzwerk. 27,38 Millionen Menschen in Deutschland waren laut dem Blog allfacebook.de im Januar 2014 auf Facebook aktiv.

Überschrift in Cliffhanger-Manier

Dieser Trend hat auch Auswirkungen auf journalistische Texte. Sie müssen mit Facebook-Einträgen, Selfies und selbst gedrehten Videos um die Aufmerksamkeit konkurrieren. Einer Studie des Pew Research Centers und der Knight Foundation zufolge sucht die Mehrzahl der Facebook-Nutzer nicht gezielt nach Nachrichten. Nur 22 Prozent der Befragten gaben an, Facebook dafür zu nutzen. Im Vordergrund stehe ein anderer Grund: »Die Leute gehen zu Facebook, um persönliche Momente zu teilen«, sagt die Pew-Direktorin für Medienforschung, Amy Mitchell.

Bei sozialen Netzwerken wie Facebook steht die Emotionalisierung im Vordergrund. Auf Emotionen setzt auch die Plattform heftig.co. Das Geschäftsmodell: Die Macher der Seite spüren im World Wide Web Geschichten, Fotos und Videos auf, die emotional besonders anrühren. Diese versehen sie mit reißerischen Überschriften, die zum Weiterlesen anregen sollen. Meist funktioniert das in Cliffhanger-Manier. Zum Beispiel: »Ein Mann fuhr mit seinem Boot auf den See. Als er etwas im Wasser entdeckte, traute er seinen Augen nicht.« Oder: »Er war mit Freunden unterwegs. Als er in den Spiegel schaute, blieb ihm das Herz stehen.«

Mehr likes für Hypes

Ähnlich wie die US-Plattformen BuzzFeed (seit Oktober 2014 Jahr auch auf deutsch), Upworthy und ViralNova setzt auch heftig.co darauf, dass die Web-Gemeinde die Artikel selbst verbreitet. Und das Konzept geht auf. Die Facebook-Seite von heftig.co hat bereits über eine Million Likes. Dabei ist die virale Plattform heftig.co noch relativ jung. Sie ist erst im Dezember 2013 an den Start gegangen. Zwar verstehen sich die beiden Gründer, Peter Schilling und Michael Glöß, nicht als Journalisten. »Wir betreiben keinen Journalismus, sondern sind Teil einer Medienrevolution«, sagte Michael Glöß im Interview mit der Wirtschaftwoche. Dennoch haben Plattformen wie heftig.co das Potenzial, den etablierten Medien den Rang abzulaufen. So hatte im Monat Juni lediglich bild.de mit 2,76 Millionen mehr Shares, Tweets und Likes als heftig.co mit 2,64 Millionen. In den beiden Monaten zuvor war heftig.co der Spitzenreiter. Dies ist das Ergebnis der Social-Media-News-Charts »10000 Flies«.

In Zeiten, in denen Emotionalisierung Trumpf ist, wird es für Journalisten immer schwerer, die Aufmerksamkeit (potenzieller) Leser auf eigene Texte zu ziehen.

Die Konkurrenz ist groß. Deshalb gilt: Wer will, dass sein Text gelesen wird, muss sich noch viel mehr als früher an den Bedürfnissen seiner Leser orientieren. Er muss durch deren Brille blicken und sich fragen: Welche Informationen könnten für meinen Leser interessant sein? Um diese Fragen beantworten zu können, muss der Autor aber zunächst einmal wissen, für wen er überhaupt schreibt, wer seine Zielgruppe ist.

Alte Annahmen über den Haufen geworfen

Um herauszufinden, wie Texte auf den Leser wirken, verlassen sich viele Verlage mittlerweile nicht mehr nur auf ihr Bauchgefühl. So hat der Schweizer Unternehmensberater Carlo Imboden bereits 2004 die sogenannte Readerscan-Methode entwickelt. Das Institut für Praktische Journalismusforschung in Leipzig nutzt die Blickverlaufsanalyse. Mit einem Scanner in Stiftform oder einer Brille, die den Blickverlauf registriert, markieren die Leser die Artikel in Zeitungen und Zeitschriften, die sie lesen. Analysiert werden kann somit u.a., an welchen Stellen sie aus dem Text wieder ausgestiegen sind.

Solche Analysen liefern teils erstaunliche Resultate: So sind die Leser zum Beispiel durchaus bereit, sich auch mit längeren Texten auseinanderzusetzen. Voraussetzung ist jedoch, dass diese gut geschrieben sind und Vertiefung bieten. »Kürzere Texte werden lieber gelesen als längere«: Diese Faustregel, die so manchem angehenden Journalisten eingebläut wird, hat sich nicht bewahrheitet. Anders sieht es mit Elementen wie Kästen und Statistiken aus. Journalisten und Layouter setzen sie gerne ein, um Texte aufzulockern. Die meisten Leser goutieren dies nicht. Sie empfinden Kästchen und Statistiken als störend. Auch freigestellte Bilder und farbige Hintergründe stören den Lesefluss, so das Votum vieler Testleser (Message berichtete ausführlich über Analyseergebnisse in den Ausgaben 1/2007 und 1/2009). Außerdem bevorzugen die Leser den Untersuchungen zufolge sachliche, informierende Überschriften, an denen der Leser gleich erkennen kann, worum es sich in dem Beitrag handelt.

Nur scheinbar im Widerspruch zu diesem Ergebnis steht der Erfolg der emotionalisierten Überschriften von heftig.co. Sie lassen zwar den Leser bewusst im Unklaren darüber, worauf der Text hinausläuft. Aber das Thema wird oft klar benannt. Auch die Autorin dieses Beitrags hat Testpersonen denselben Artikel mit zwei verschiedenen Überschriften vorgelegt. Eine war sachlich-informierend geschrieben, die andere im Heftig-Stil abgefasst. Das Ergebnis: Der Text mit der heftig.co-Überschrift hat knapp 30 Prozent mehr Leser in den Text hineingezogen.

Erzähltexte sind sehr beliebt

Bei der Untersuchung von Agenturmeldungen mit der Readerscan-Methode fand Imboden außerdem heraus, dass Leser die Artikel nicht zu Ende lesen, die dem klassischen Pyramiden-Aufbau folgen. Daraus folgerte er: »Das Storydesign von Agenturmeldungen ist falsch. In vielen Fällen steigen die Leser schon beim ersten Satz aus – in der Regel ein mehrzeiliger Schachtelsatz, der die ganze Geschichte schon erzählt. Entweder versteht der Leser den Satz gar nicht und ist dann weg, oder er fragt, warum soll ich jetzt noch den Rest lesen? Wenn im ersten Satz schon die Geschichte erzählt ist, interessiert man sich für den zweiten und dritten Satz nicht mehr.«

Bei Artikeln hingegen, die wie Geschichten aufgebaut sind, blieben die Leser länger am Ball. So dürfe der Autor nach dem Titel nicht preisgeben, wo ein Ereignis stattgefunden habe, wolle er den Leser nicht gleich verlieren. »Wir können feststellen, dass ein Leser jene Beiträge am besten nutzt, die er als Geschichten weitererzählen kann. Dort, wo ein Journalist aus einem Wirtschaftsstoff, aus einem Politikstoff eine Geschichte macht, hat er eine hohe Chance, dass er auch gelesen wird. Demgegenüber sind die klassischen Agenturmeldungen geradezu leserfeindlich, aber viele Zeitungen sind vollgepflastert damit«, so Imboden.

Nicht kurz, einfach müssen Texte sein

Gibt es noch weitere Grundregeln, an die ich mich halten kann, um einen verständlichen Text zu verfassen? Gibt es Kriterien für verständliche Texte? Dieses Thema hat Wissenschaftler schon in den 1960er Jahren beschäftigt. So haben die Hamburger Psychologen Langer, Schulz von Thun und Tausch ab 1969 untersucht, ob es objektive Kriterien gibt, die einen Text verständlich machen. Dazu ließen sie mehrere hundert Testpersonen – Erwachsene und Schüler – verschiedene Texte lesen. Anschließend mussten die Versuchsteilnehmer die Texte nach 18 Qualitätsmerkmalen bewerten. Daraus entwickelten die Forscher das Hamburger Verständlichkeitsmodell. Demnach gibt es vier wichtige Kriterien (Verständlichkeitsdimensionen): Einfachheit, Ordnung/Gliederung, Kürze/Prägnanz und zusätzliche Stimulanz.

Sätze müssen demnach kurz und außerdem allgemein verständlich formuliert sein. Außerdem muss der Autor geläufige Wörter verwenden und Fachbegriffe erklären. Nicht nur die Anzahl der Wörter spielt eine wichtige Rolle bei der Frage, ob ein Leser einen Text als verständlich einstuft oder nicht. Linear aufgebaute Sätze sind für den Leser leichter zu verstehen als nichtlinear angeordnete Sätze. Charakteristisch für lineare Sätze ist, dass der Autor Informationseinheit an Informationseinheit fügt. Die Folge: Das Gehirn kann auch längere Sätze gut verarbeiten, weil ihm die Informationen häppchenweise und geordnet dargereicht werden.

Die zweite wichtige Verständlichkeitsdimension heißt Ordnung/Gliederung. Auch diese Dimension muss den Hamburger Wissenschaftlern zufolge stark ausgeprägt sein, will der Autor einen verständlichen Text verfassen. Dabei kann zwischen der formalen und der inhaltlichen Ordnung unterschieden werden.

Zur formalen Ordnung gehören Überschriften, Zwischenüberschriften, Absätze, Aufzählungen. Daneben gibt es die inhaltliche Ordnung. Ist der rote Faden der Gedankenführung von einem Satz zum nächsten, von einem Abschnitt zum nächsten sichtbar? Als besonders unverständlich empfindet es der Leser, wenn der Autor nicht logisch und strukturiert formuliert.

Die dritte Verständlichkeitsdimension ist mit Kürze und Prägnanz überschrieben. Die Hamburger Verständlichkeitsforscher haben herausgefunden, dass ein Text, will er verständlich bleiben, keine überflüssigen Informationen enthalten darf, die vom Thema wegführen.

Die vierte Verständlichkeitsdimension ist mit »zusätzliche Stimulanz« überschrieben. Gemeint sind damit Ausrufe, rhetorische Fragen, Reizwörter, witzige Formulierungen, Bilder, lebensnahe Beispiele, direktes Ansprechen und der Auftritt von Menschen. Wie viel »zusätzliche Stimulanz« ein Text verträgt, hängt von Art und Inhalt des Textes ab.

Langer, Schulz von Thun und Tausch zufolge ist ein optimaler Text durch folgende Merkmalszusammensetzung gekennzeichnet:

tabelle

Dabei bedeutet ++, dass die Dimension besonders ausgeprägt ist. + heißt, dass die Dimension ausgeprägt ist. 0 bedeutet, dass eine Ausgewogenheit zwischen diesem Kriterium und dem Gegenteil herrschen muss.

Nach empirischen Untersuchungen von Ursula Christmann und Norbert Groeben aus dem Jahr 1999 erwies sich die Dimension der inhaltlichen beziehungsweise kognitiven Strukturierung als die wichtigste und rangierte deutlich vor der stilistischen Einfachheit. Ein verständlicher Satz muss also nicht unbedingt kurz sein, sondern vor allem stringent formuliert. Zwischenüberschriften braucht der Leser demnach eher nicht.

Köln, Dienstag 8:40 Uhr. Befragung in der Linie 15 vom Chlodwigplatz zum Barbarossaplatz: Wie muss ein attraktiver Text aufgebaut und gestaltet sein? Darüber haben sich die Studierenden aus dem Straßenbahn-Abteil bisher keine Gedanken gemacht. Aber den heftig.co-Text mit der Überschrift »Diese Frau sieht mindestens 20 Jahre jünger aus, als sie ist. Ihr Geheimnis: Gemüse« würden 20 von 22 Studierende lesen.

zur PDF-Version des Artikels

Kerstin Liesem HoffotografenKerstin Liesem ist Professorin für Journalismus und Unternehmenskommunikation an der Hochschule für Medien, Kommunikation und Wirtschaft (HMKW) in Köln.

19. März 2015