#nr19 | Datenjournalismus
Daten von Bürokraten

Die Bedeutung von Datenjournalismus nimmt weiter zu. Dank neuer Tools sollen bald auch Kollegen ohne einschlägige Vorerfahrungen umfangreiche Datensätze durchwühlen können.

von Clara-Franziska Kopiez

„Wir leben in einer datafizierten Welt“, erklärt Felix Irmer, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Kommunikations- und Medienwissenschaft der Universität Leipzig, wo er zu Prozessen und Strukturen des Datenjournalismus forscht. „Heutzutage müssen Journalisten über eine gewisse Datenkompetenz verfügen, um relevante und interessante Geschichten zu erzählen“, erklärt Irmer. „Wenn Journalisten nicht die Fähigkeit besitzen, Daten kritisch zu hinterfragen, dann überlässt man die Steuerung von The/ Foto: Raphael Hünerfauthmen schnell denen, die diese Methoden beherrschen, und das können auch PR-Abteilungen sein.“

Eine verschworene Gemeinschaft

Im Panel „Der Daten-Bias“ diskutierte Datenjournalistin Martina Schories (Süddeutsche Zeitung) mit anderen die Frage: Brauchen wir mehr Diversität im Datenjournalismus? / Foto: Raphael Hünerfauth

Seinen Ursprung hat der Datenjournalismus in den USA. Aber auch in Deutschland gebe es „eine aktive Szene von Datenjournalisten, sowohl in großen Medienhäusern als auch bei kleineren Zeitungen“, sagt Irmer. Dabei mache es keinen Unterschied, ob es sich um private oder öffentlich-rechtliche Medienunternehmen handele. Strukturell seien größere Medienhäuser aber im Vorteil: Sie hätten oft ein festes Team von Datenjournalisten, die als eigenes Ressort agierten.

In seiner Forschung fand Irmer heraus, dass sich Datenjournalisten stark von anderen Journalisten unterscheiden. „Datenjournalisten sind oftmals jünger als ihre Kollegen, besser ausgebildet und haben eine sehr starke Gruppen­identität über Redaktionsgrenzen hinweg.“ Es handele sich um eine kollaborative Community, in der man miteinander und voneinander lerne. „Es gibt weniger Konkurrenzkampf“, stellte der Leipziger Forscher fest.

Für jedes Thema geeignet

Daten würden in allen gesellschaftlichen Bereichen anfallen und entsprechend erhoben, sagt Irmer. Deshalb sei Datenjournalismus prinzipiell für jedes Thema geeignet. Tatsächlich gebe es in der Praxis aber eine thematische Häufung in den Bereichen Politik, Soziales und Wirtschaft.
Auch wenn der Umgang mit Daten eine wichtige journalistische Fähigkeit geworden sei, müsse nicht jeder Journalist selbst programmieren, sagt Irmer. Eine gewisse Datenkompetenz biete aber die Chance, nicht mehr basierend auf Einzelfällen zu berichten, sondern fundierte und überprüfbare Schlüsse auf der Basis von quantitativen Daten zu ziehen.

Bleibt das Problem, das „rohe“ Datensätze für Journalisten schwer zu durchdringen sind. Wie also können Journalisten effizient Daten beschaffen? Gerade das Erheben von Daten sei sehr aufwändig, sagt Irmer (siehe Sensorjournalismus, S. 3). Eine Alternative sei, mit bereits vorhandenen Daten zu arbeiten. Die Statistik-Ämter in Deutschland veröffentlichen zum Beispiel regelmäßig deskriptive Daten, die Journalisten auswerten können.

Datenjournalismus für alle?

Dabei helfen könnten zum Beispiel Tools wie die webbasierte Anwendung „datengui.de“. Datenguide will die großen Datenmengen, die die Ämter in Deutschland veröffentlichen, für alle verständlich aufbereiten. Denn noch können die wenigsten Journalisten mit den amtlichen Statistiken etwas anfangen. Die entsprechenden Behörden-Webseiten seien eben „von Bürokraten für Bürokraten gemacht“, kritisiert Datenguide-Gründer Simon Jockers, der zuvor für Correctiv arbeitete. Nicht-Datenjournalisten seien oft überfordert von den Portalen. Dabei seien genau diese Statistiken wichtige Werkzeuge für sie. Datenguide entwickelt deshalb eine Webseite, die alle Daten klar und einfach darstellt, vergleichbar macht und erklärt.

Noch ist das Open-Source-Projekt in der Entwicklung, der Prototyp soll im September 2019 auf den Markt kommen. Jockers erklärt: „Die Idee ist, dass Journalisten über unsere Plattform auf alle Daten, die von den statistischen Ämtern über ihre Region zur Verfügung gestellt werden, zugreifen können.“

Netzwerk Recherche (NR) hat diese Idee von Anfang an unterstützt: 2018 erhielt der Datenguide das Grow-Stipendium von NR und der Schöpflin Stiftung. Aktuell wird das Projekt außerdem vom Medieninnovationszen­trum Babelsberg unterstützt.

Regelrechte Euphoriewelle

Der Datensatz vom Datenguide schließt laut Jockers mehr als 400 Regionalstatistiken ein. Dabei handele es sich zum Beispiel um Daten zu Tierhaltung, Einbürgerung oder Recycling. Alles sei deskriptive Statistik, es könnten also keine Analysen oder Prognosen getroffen werden.

„Journalisten können mit Hilfe vom Datenguide Fakten sammeln zu Fragen wie ‚Wie viele Rinder gibt es in dieser Stadt?‘ und ‚Wie groß ist die Abfallmenge, die 2018 recycelt wurde?‘“, so der Datenjournalist.

Noch in diesem Jahr wollen die Macher von Datenguide gemeinsam mit Medienpartnern zwei Fallstudien veröffentlichen, deren Datenrecherche auf amtlichen Statistiken basiert. Außerdem erstellt das Team gerade einen How-To-Guide, der Interessenten anschaulich erklärt, wie man die Daten nutzen kann.

Kommunikationswissenschaftler Irmer glaubt, dass datenbasierter Journalismus in den Redaktionen immer mehr zunehmen wird. „Es gab in den letzten Jahren eine regelrechte Euphoriewelle, was den Datenjournalismus angeht“, sagt er. Mittlerweile habe der Datenjournalismus in der Breite der Medienbranche Einzug erhalten. Aktuelle Zahlen, wie viele Datenjournalisten in Deutschland arbeiten, gibt es jedoch nicht. Vor sechs Jahren hat es laut einer Studie von Stefan Weinacht und Ralf Spiller etwa 30 Datenjournalisten in Deutschland gegeben. Diese Zahl dürfte inzwischen jedoch veraltet sein. Irmer ist sich sicher: „Datenjournalismus ist bereits heute routinierte Praxis.“

15. August 2019