#nr19 | Interview | Lokaljournalismus
„Bei Gegenwind nicht umpusten lassen“

Benjamin Piel, Chefredakteur des Mindener Tageblattes, über investigative Recherchen im Lokalen, neue Chancen durch Kooperationen und die Herausforderungen, Datenjournalisten nach Ostwestfalen zu locken

 

Investigativer Journalismus – spielt der im deutschen Lokaljournalismus überhaupt eine Rolle?
Piel: Ein Pauschalurteil abzugeben wäre vermessen. Es gibt Lokalmedien, die sich darum bemühen und solche, für die das keine Rolle spielt. Klar dürfte sein: Bei vielen Lokalmedien hat Investigation eine zu geringe Bedeutung.

Wo fängt Investigation im Lokalen an?
Ich würde da nicht zu hoch ansetzen wollen. Wenn Lokaljournalisten Informationen verarbeiten, die nicht auf der Straße liegen, die Informanten ihnen zugesteckt und die sie mit einer weiteren Quelle gegengecheckt haben und von denen das Rathaus oder andere Institutionen nicht wollen, dass sie veröffentlicht werden, dann würde ich das für Lokalmedien durchaus schon als investigativ bezeichnen. Aber selbst das geschieht viel zu selten.

Warum?

Benjamin Piel hat Lokaljour­na­lismus von der Pike auf gelernt: Der einstige Volontär der Schweriner Volkszeitung und Redaktionsleiter der Elbe-Jeetzel-Zeitung in Lüchow/Wendland ist seit 2018 Chefredakteur des Mindener Tageblatts. / Foto: Norbert Erler

Jahrzehntelang brauchte es in den meisten Lokalmedien keine Investigation – es lief auch so wirtschaftlich extrem profitabel. Es reichte, mehr oder weniger das abzubilden, was so passierte in einer Region. Früher hatten wir das Veröffentlichungsmonopol, das eine Art Konkurrenzlosigkeit garantierte. Der Inhalt spielte eine untergeordnete Rolle. Das hat sich komplett verändert.

Inwiefern?
Das Straßenfest oder der neue Vereinsvorsitzende – das machen die Betreffenden inzwischen selbst auf ihren Online-Kanälen. Uns wird es in Zukunft nur noch brauchen, wenn wir etwas anbieten, das nur wir können – Journalismus mit möglichst starken investigativen Anteilen, der etwas zeigt, das sonst niemand zeigen würde.

Wie schaffen Sie es, Ihren Redakteuren den nötigen Freiraum für aufwändige Recherchen zu verschaffen?
Das ist nicht nur bei uns, sondern im Allgemeinen eine große Herausforderung. Wir müssen erkennen, dass wir nicht weitermachen können wie bisher. Wir haben täglich zu viele Seiten zu füllen, um Themen zu bearbeiten, die Zeit brauchen. Wir müssen deshalb unsere Quantität verringern, um die Anzahl an Inhalten, die wir exklusiv haben, zu erhöhen.

Klingt vernünftig…
… ist aber ein schwieriges Unterfangen. Denn alte Zöpfe abzuschneiden, tut weh. Weniger Seiten, weniger Pflichttermine, weniger Kulturberichterstattung usw. – das ist der Weg (Gegenwind inklusive). Wir haben schon heute eine Struktur, in der zumindest ein Kollege am Tag den Rücken frei hat, um an einer Geschichte zu arbeiten, ohne irgendetwas anderes tun zu müssen. Aber das ist noch viel zu wenig.

Im lokalen Nahraum kennt man sich: Ist das eine Chance oder eher eine Herausforderung für schwierige Recherchen?
Beides. Es kommt immer darauf an, den Rücken gerade zu machen. Wer sich mutig und ehrlich durch die Region arbeitet, niemanden schont, niemanden bevorzugt, aber auch niemanden genussvoll in den Dreck tritt, der wird – manchmal vielleicht zähneknirschend– in seiner Rolle akzeptiert. Meine Erfahrung ist: Es kommt schnell Gegenwind im Lokalen, aber wer sich nicht umpusten lässt, der kann dauerhaft kritisch und nach journalistischen Kriterien arbeiten. Wichtig ist mir, dass Chefredaktionen und Redaktionsleitungen zu ihren Leuten stehen, wenn Angriffe kommen, und nicht sagen: „Mensch, jetzt hast du uns wieder einen Ärger mit Anzeigenkunde XY und Bürgermeister Z gemacht.“ Wo das passiert, ist sofort alles vorbei.

Das „Mindener Tageblatt“ ist bei #Wemgehört… dabei, kooperiert also mit Correctiv. Ist journalistische Zusammenarbeit mit anderen Medien ein Zukunftsmodell?
Eindeutig ja. Mehr noch: Es könnte ein Weg sein, der in der Zukunft noch viel wichtiger wird als heute. Viele Probleme und Herausforderungen gibt es in beinahe allen Regionen. Wenn sich Medien gegenseitig bei Recherchen unterstützen, sich mit Informationen unter die Arme greifen, sich gegenseitig Tipps geben und Themenideen sprudeln lassen, dann steckt da viel Potenzial drin.

Was bringt ihnen die Zusammenarbeit mit Correctiv konkret?
Es ist nicht so, dass Correctiv uns unendlich viel Arbeit abnehmen würde, aber alleine die Anstöße, die uns das Projekt gegeben hat, waren Gold wert.

Zum Beispiel?
Wir sind beim Thema Wohnungs- und Immobilienmarkt auf Themen gestoßen, auf die wir ohne das Projekt vermutlich nie gekommen wären. Wir hätten nicht gedacht, dass ausländische Investmentfonds so eine große Rolle auf dem Mindener Markt spielen. Auch hätten wir von vielen Fällen, in denen Mieter Probleme mit ihren Vermietern haben, nie erfahren.

#WemgehörtMinden steht auch für Datenjournalismus. Hat Ihre Zeitung in dieser Disziplin schon viel Erfahrung?
Absolut nicht. Unser Potenzial bei diesem Thema ist gewissermaßen uneingeschränkt groß. Ein Problem, das ich in diesem Zusammenhang sehe: Woher soll das hochspezialisierte Personal in diesem Bereich kommen? Ist so jemand überhaupt bereit, in eine Stadt wie Minden zu kommen?

Wird ein kritischer Lokaljournalismus von den Leserinnen und Lesern überhaupt honoriert?
Mit absoluter Sicherheit ja. Die Leser und Nutzer honorieren kritischen und investigativen Journalismus sehr, sie fordern ihn auch ein, wenn er nicht stattfindet. Die Leute nennen das meistens nicht „investigativ“, sondern „anders“, „besser“, „mutiger“, „wahrer“. Wer sich bemüht, Dinge herauszufinden, zu beschreiben und kritisch zu kommentieren, der bekommt zwar einerseits reichlich Kritik von jenen, die nicht aufzufliegen wünschten, aber auch viel Unterstützung von den Menschen, die eigentlich unser Zielpublikum sind: ganz normalen Bürgern.

Das Interview führte Paulina Marciniec

15. August 2019