#NR23 | Datenjournalismus
»Absoluter Game Changer«

Die Pandemie bescherte dem Datenjournalismus einen Boom. Nachfrage bei Übermedien-Redaktionsleiter Frederik von Castell, welche Potenziale jenseits von Dashboards noch brachliegen.

 

Frederik, was ist das Besondere an Datenjournalismus?
Vor allem, dass man eine ganze Quellen-Sorte mehr hat, für die man ein eigenes Know-how braucht. Du musst verstehen, wie Daten entstehen, wie man sie untersuchen und analysieren kann. Und man muss extrem viel Frustrationstoleranz mitbringen, weil mit Daten arbeiten schwierig ist. Du bekommst nie das, was Du eigentlich haben wolltest, sondern musst sie mit sehr viel Handarbeit nutzbar machen.

von Castell by Joel Souza Cabrera 7Wird das in Zukunft zu einer Kernkompetenz für alle Journalist*innen werden?
Nicht jeder Journalist muss sich das technische Knowhow draufschaffen. Aber es wäre trotzdem wichtig, sich nicht zu verschließen, weil kein Journalismus schlechter ist als der, der einfach wartet, bis eine Pressemitteilung reinkommt. Sich vor Zahlen und Daten zu verschließen, kann keine Lösung sein. Dann kann ich keinen ernsthaften, sauberen Journalismus machen. Inzwischen gibt es selbst in kleinen Häusern, im Lokalen, eigentlich immer irgendjemanden, der wenigstens auf einer halben Stelle der ist, der für die Daten zuständig ist. Das hat sich etabliert und jetzt ist gerade so ein bisschen die Frage, wie geht es nach der Corona-Pandemie damit weiter?

In der Pandemie hatte der Datenjournalismus seinen großen Auftritt. Hat die Krise diese journalistische Disziplin verändert?
Corona, klar, war der Riesen-Boost. Das war einfach so ein Thema, das ging durch alle Ressorts. In allen Themenbereichen war es wichtig, in irgendeiner Art und Weise zu verstehen, was da passiert. Gleichzeitig war es halt auch so, dass man immer wieder versuchen musste, Herr oder Frau über die Lage der Daten zu werden. Und da hat man natürlich wahnsinnig dazulernen und auch seine Skills ausbauen müssen. Der eigentlich mal »langsame«, also auf ausgeruhte Recherchen ausgerichtete Datenjournalismus musste plötzlich unfassbar schnell sein. Früher war Datenjournalismus »Indie«. Mit Corona kam so ein bisschen der Plattenvertrag dazu. Quasi der Mainstream. Du baust Dashboards und das wird natürlich auch geklickt, weil es das ist, was die Leute für ihren Alltag brauchen. Aber viele haben sich deswegen zu sehr eingenistet in dieses automatisierte Berichten.

Ist durch die ganzen Dashboards ein falsches Bild vom Datenjournalismus entstanden?
Ja! Und das ist super bitter. Wir haben damals den Leuten erklären müssen, warum wir anders arbeiten als etwa ein*e Infografiker*in, die fertige Zahlen bekommen hat, eine Grafik gebaut hat, und die veröffentlicht hat. Wir fangen ja viel früher an, wir holen uns Rohdaten, wir recherchieren in den Daten. Wir sind eigentlich nicht dafür da, den Weg nur zu bereiten, zu sagen von hier kommen die Zahlen und hier sind sie auf der Seite. So simpel ist es bei Dashboards nicht. Aber dadurch ist so ein Grafik-Overflow entstanden. Das ist für mich viel zu wenig. Mir fehlt die Recherche dahinter. Was können wir mit Daten anfangen? Um mehr an die Problematik an sich heranzugehen und sie nicht nur in Grafiken abzubilden. Das finde ich super absurd, weil das das ist, was Datenjournalist*innen früher nie wollten.

Kritiker*innen merken an, dass durch die Prozessautomatisierung intensivere Recherche und Storytelling auf der Strecke geblieben seien. Stimmt das?
Datenjournalist*innen müssen sich jetzt ein zweites Mal emanzipieren und sagen: Wir haben die letzten drei Jahre sehr erfolgreich Dashboards und sowas gebaut. Wir haben sehr viel reingehauen, wir waren ständig Tag und Nacht verfügbar. Jetzt ist es wichtig zu sagen: Wir wollen wieder Zeit für Recherche haben, wollen mehr Themen machen. Wir wollen nicht nur dafür da sein, eine Infrastruktur zu warten. Rein ins Storytelling, sich wieder Sachen überlegen, wie kann ich eine Geschichte am besten erzählen? Das passiert ja alles in Wahrheit auch, aber deutlich seltener als vorher. Ich glaube, dafür muss man sich konkret wieder Ressourcen schaffen.

Welche Rolle spielt Künstliche Intelligenz im Datenjournalismus?
Datenjournalist*innen arbeiten in ihren Workflows schon längst mit beispielsweise Automatisierungen. Und das ist ein Riesenvorteil, wenn man bestimmte Prozesse nicht immer wieder machen muss. Datenjournalist*innen neigen meiner Erfahrung nach am ehesten dazu, das maßvoll, sorgfältig und intelligent einzusetzen. Das größte Problem mit KI im Journalismus ist da, wo sie Leute einsetzen, ohne zu kapieren, was sie tun. Ich bin super optimistisch, dass das in der Hand von Datenjournalist*innen eine gute Sache ist. Ansonsten bin ich eher skeptisch, wie viel KI im Journalismus insgesamt sinnvoll ist.

Wie – die FDP würde sagen – »technologieoffen« müssen Journalist*innen sein?
Journalismus muss grundsätzlich mit der Technologie gehen. Zum einen, weil man darüber berichten muss und zum anderen, weil man das nutzen muss. Du kannst ja nicht sagen, ich verweigere mich allen technischen Möglichkeiten und kann am Ende nicht mehr nachvollziehen, was woanders auf der Welt passiert, wo die technischen Möglichkeiten genutzt werden. Es ist erstmal egal, mit was man arbeitet, solange man die journalistischen Grundprinzipien beibehält und dafür sorgt, dass es kontrollierbar und transparent bleibt. Und solange es natürlich auf legalen Füßen steht und moralisch vertretbar ist. Nicht zu viel Angst haben, finde ich auch immer wichtig.

Worin siehst Du die Zukunft des Datenjournalismus?
Ich wünsche mir, dass man die Dunkelfelder ein bisschen mehr erschließt. Die Themen, in denen Zahlen und Empirien bis jetzt weniger eine Rolle gespielt haben. Ressorts zu stärken, die früher einfach nicht in den Genuss von Daten gekommen sind, z. B. das Feuilleton etc. Das ist, glaube ich, auch für die Leserschaft spannend, wenn es mal anders zugeht. Es würde mir gut gefallen, wenn sich der Datenjournalismus noch breiter aufstellt. Im Moment agieren mir zu viele in der Branche nach dem Motto: Das ist der heiße Scheiß, das müssen wir jetzt machen. Mir wäre es lieber, man würde den Recherchen wieder mehr Lust an neuen Themen und Zugängen ansehen.

Die Fragen stellte Hannah Amelie Scherf.

16. August 2023