Rechtsextremismus
„Da stehen noch Recherchen an“ – Der NSU-Prozess in Protokollen

Manchmal werden große journalistische Leistungen von Leuten vollbracht, die sich selbst gar nicht als Journalisten bezeichnen. Die Initiative „NSU-watch: Aufklären und Einmischen“ ist so ein Fall. Dahinter steht ein Bündnis antifaschistischer Projekte und Einzelpersonen – keine Journalisten im eigentlichen Sinne also und dennoch erfüllen sie die ureigenste Aufgabe des Journalismus in einer Demokratie. Sie schaffen Transparenz im bedeutendsten Prozess der deutschen Gegenwart. Dafür wurden sie nun mit dem Otto Brenner Preis ausgezeichnet. Message Online hat zwei Mitglieder von NSU-watch getroffen. 

von Astrid Hansen

Hinweis: Um die Interviewpartner zu schützen, verzichtet Message Online auf die Nennung ihrer Namen.

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Schon vor dem eigentlichen Prozessbeginn sorgte die Vergabe von Presseplätzen für das Verfahren gegen Beate Zschäpe und mutmaßliche Unterstützer des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU) für großen Unmut. Der Andrang von Journalisten war größer als der Gerichtssaal. So erhielten nur wenige türkische Medien die begehrte Akkreditierung und auch große deutsche Zeitungen hatten kein Losglück. Doch es gibt weitere Gründe, sich um die Transparenz des NSU-Prozesses zu sorgen. Denn selbst jene Journalisten, die einen Platz im Gerichtssaal ergattern, können nur einen Bruchteil des Geschehens wiedergeben: Ihr Medium gibt die Länge des Beitrags vor, ihr Publikum erwartet die Highlights aus dem Prozess und ihr Terminkalender verhindert womöglich eine ständige Anwesenheit. Und schließlich können Journalisten keine detaillierten Protokolle des Gerichtsgeschehens anfertigen…

Dass es diese Protokolle dennoch gibt, frei zugänglich im Web, in Deutsch, Türkisch und in kürzerer Form auch in Englisch, das ist NSU-watch zu verdanken. Mehr als zwanzig Menschen haben sich zu diesem bundesweiten Netzwerk um das antifaschistische pressearchiv und bildungszentrum berlin e.V. (apabiz) und die Antifaschistische Informations-, Dokumentations- und Archivstelle München e.V. (a.i.d.a) zusammengefunden. Seit Beginn des Prozesses im April 2013 ist an jedem Prozesstag mindestens ein Mitglied von NSU-watch im Oberlandesgericht München dabei.

Juristisch vorgebildet sind sie nicht, dafür bringen sie zum Teil Erfahrungen aus vorangegangenen Prozessbeobachtungen mit und nicht zuletzt breites Wissen zum Rechtsextremismus. „Hilfreich ist, dass wir uns schon vorher intensiv mit dem NSU auseinandergesetzt haben. Es hapert manchmal bei juristischen Formulierungen, dafür wissen wir immer, wer gemeint ist“, erklärt ein Mitglied von NSU-watch.

Die online abrufbaren Protokolle umfassen mittlerweile über tausend Seiten. Noch aufwendiger als deren Niederschrift ist die Übersetzung ins Türkische und Englische. Doch während laut NSU-watch die deutschsprachigen Protokolle rund 300 bis 1000 Mal gelesen werden, bewegen sich die Leserzahlen der fremdsprachigen Protokolle lediglich im zweistelligen Bereich. Wie die Initiative in einem Zwischenresümee verkündet, soll die Website daher in türkischsprachigen Medien und Netzwerken noch stärker bekannt gemacht werden. Die Übersetzung ins Englische hingegen wird angesichts des finanziellen Aufwands eingestellt.

Von der Otto Brenner Stiftung als Medienprojekt 2013 ausgezeichnet zu werden, bedeutet für das Team von NSU-watch daher mehr als nur Anerkennung. Die 2000 Euro Preisgeld sind schließlich auch eine finanzielle Unterstützung für die spendenfinanzierte Initiative. Auf der Preisverleihung im November 2013 in Berlin lobte Jury-Mitglied Volker Lilienthal, Journalistik-Professor der Universität Hamburg, insbesondere die Ausführlichkeit der Protokolle: „Kein großer Moment geht verloren, kein profaner wird vergessen.“

Vielleicht mag es auf den ersten Blick verwundern, dass mit NSU-watch ausgerechnet ein offenkundig politisches Projekt für seine „radikale Transparenz“ ausgezeichnet wurde. Beim Blick in die Protokolle wird allerdings schnell deutlich, dass es den Autoren nicht um Wertung geht, sondern darum, das NSU-Prozessgeschehen nachvollziehbar zu machen und das auch für künftige Generationen.

Dank der Leidenschaft und Opferbereitschaft, wie sie sich in diesem Ausmaße wohl nur bei Freiwilligen findet, schafft NSU-watch in zäher Kleinarbeit ein Archiv der Zeitgeschichte. Darin steckt eine Botschaft, die der Journalismus gerade in Zeiten rasender Newsticker nicht vergessen sollte: Auch ohne Zeitdruck und Sensationslust kann man große Geschichten erzählen.

27. Januar 2014

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