Datenjournalismus
Zahlen statt Gerüchte

Datenjournalismus stellt besonders Lokalredaktionen vor große Herausforderungen. Oft fehlen Zeit, Personal und technisches Know-how. Doch die Mühe lohnt sich.

von Louise Sprengelmeyer und Mira Taylor

Der Baden-Württemberg-Atlas der Stuttgarter Zeitung ist ein aufwendig produziertes, interaktives Datenprojekt. Die Nutzer können Zahlen zu fünf Themen nach Landkreisen geordnet abrufen. Außerdem ist es möglich, Entwicklungen mehrere Jahre zurückzuverfolgen.

Der Baden-Württemberg-Atlas der Stuttgarter Zeitung ist ein aufwendig produziertes, interaktives Datenprojekt.

„Eine Zeitung, die nicht datenjournalistisch arbeitet, verschläft die Zeit“, warnt Stefan Wirner. Der Redakteur ist Leiter des Magazins drehscheibe, das Ideen für Lokaljournalisten bündelt. Und für Datenrecherche brauche es „Manpower“. Oft scheitere es im Lokalen aber daran, Reporter wochenlang dafür freizustellen, sagt der investigative Welt-Reporter Lars-Marten Nagel, der auf Datenrecherchen spezialisiert ist.

Stärkere Leser-Blatt-Bindung

Ein weiteres Problem: Im Vergleich zu Sportseiten, dem Vermischten und Verbraucherhinweisen rentierten sich Datenprojekte nie, gibt Nagel zu bedenken. „Der Mehrwert datenjournalistischer Geschichten liegt nicht in brutaler Auflage, sondern darin, den Markenwert zu steigern.“ Glaubwürdigkeit und Leser-Blatt-Bindung seien der Gewinn. Das bestätigt auch Susanne Riese von den Ruhr Nachrichten (RN, Auflage 109.100 Exemplare):

Es bringe zwar keine neuen Abonnenten, aber die Leserbindung sei durch ein datenbasiertes Projekt zum Unterrichtsausfall in Dortmund deutlich gestiegen. Zumindest hätten 526 Schüler, Eltern und Lehrer über Wochen hinweg eine eigens programmierte Datenbank mit Informationen über ausgefallene Schulfächer gefüllt. Dadurch beruhten die Texte zum Thema nicht mehr auf Einzelfällen oder Gerüchten, sondern auf Daten. Beim Unterrichtsausfall-Check konnte sich die Crowd gegenseitig korrigieren. Jeder Schule wurden die Daten zum Überprüfen vorgelegt.

Multimedia für junge Leser

Die Erfassung der Daten und die Programmierung entsprechender Systeme stellt für RN-Redakteurin Riese das größte Problem für lokale Datenjournalisten dar. Nur durch die Unterstützung der Softwareentwickler und Grafikdesigner des Recherchezentrums Correctiv sei das Projekt realisierbar gewesen.
Beim nächsten Daten-Projekt würde die Redakteurin gerne noch stärker multimedial arbeiten, denn sie ist sich sicher: Durch eine gezielte Ansprache von jungen Lesergruppen in sozialen Netzwerken – mithilfe von Videos und Audios – wäre das Echo bei Lesern und Kollegen noch besser gewesen.

Klein anfangen

„Lokalzeitungen sollten bei Datenprojekten klein anfangen“, rät Welt-Reporter Nagel. So seien sie für jede noch so kleine Redaktion umsetzbar. Kornelia Sojka hat diesen Rat befolgt und für die kleine Emder Zeitung (Auflage 10.000 Exemplare) die eigene Stadt in Zahlen erfasst.

Die Stadt Emden in Zahlen. Beispiel Verkehr: 47 Ampeln, zwölf Elektroautos und ein Lamborghini.

Die Stadt Emden in Zahlen. Beispiel Verkehr: 47 Ampeln, zwölf Elektroautos und ein Lamborghini.

Die größte Hürde für das Projekt war laut der Lokalredakteurin die Zeit. Es habe Wochen gedauert, bis die richtigen Daten recherchiert waren. Manche wurden nie geliefert, wie Zahlen zu Drogenrückständen im Abwasser. Außergewöhnliche Daten hat Sojka trotzdem gefunden: die Anzahl der Lamborghini oder der Halter von Wirbeltieren, die unter die Artenschutzverordnung fallen. Solche Zahlen gelte es dann verständlich aufzubereiten – geeignete Symbole und Grafiken müssten her.

Und daran hapere es oft. Die Visualisierung falle Lokalredaktionen schwer, sagt Daten-Experte Nagel von der Welt. Und das, obwohl verfügbare Tools benutzerfreundlich seien. Daten wollen nicht nur recherchiert und adäquat präsentiert, sondern auch erklärt werden. „Ein Balkendiagramm erzählt noch keine Geschichte“, sagt Wirner von der drehscheibe. Vor ähnlichen Problemen stand Bernhard Knapstein von der Böhme Zeitung (Auflage 10.400 Exemplare): Wie gehe ich offen an Daten heran, interpretiere sie korrekt und stelle sie in den richtigen Zusammenhang?

Weiterdrehe bis auf Bundesebene

Knapstein hat für das niedersächsische Verbreitungsgebiet der Böhme Zeitung die Pressetexte der ortsansässigen Polizei untersucht. Die Interpretation sei eine besondere Herausforderung gewesen: Die Mitteilungen seien teils kryptisch, teils humorvoll, teils verkürzt dargestellt gewesen. Knapstein vermutete, dass die Polizei nicht alle Delikte gleich behandelte, manche Straftaten sogar verschwieg, und so eine falsche Realität skizzierte. „Die größte Arbeit fand am Rechner statt und lag in der puren und vollständigen Auswertung massenhaft vorhandener digitaler Datensätze“, sagt der Lokalredakteur.

Was vielen Datenrecherchen gemein ist: In den Daten verstecken sich zahllose Möglichkeiten zur Weiterdrehe, die nicht im Lokalen enden müssen. Im Fall der Böhme Zeitung führte Knapstein das Projekt über die Landes- bis zur Bundesebene weiter.

„Rahmen stecken“

Daten liegen in Massen vor, unzählige Geschichten können daraus entstehen und erzählt werden. Daher sei es ausschlaggebend, Datenprojekte gut zu planen, sagt Stefanie Zenke, Leiterin des Ressorts Multimediale Reportagen bei der Stuttgarter Zeitung/Stuttgarter Nachrichten (Auflage 171.700 Exemplare). Es sei wichtig, sich einen Rahmen zu stecken und abzugrenzen, was eigentlich gezeigt werden solle. „Ansonsten wird es maßlos“, warnt die Stuttgarter Redakteurin. In ihrem Fall bedeutete das, für das Projekt Baden-Württemberg-Atlas zunächst nicht mehr als fünf Kategorien aus dem Ländle zu recherchieren: Bevölkerung, Bauen, Tourismus, Landtagswahlen und Abfall. In einer eigens entwickelten interaktiven Karte können User nun beispielsweise herausfinden, in welcher Gemeinde am meisten Müll produziert wird und die Müllmengen mit zurückliegenden Jahren bis 1990 vergleichen.

„Redakteure müssen sich die Zeit für solche Projekte aus den Rippen schneiden“, sagt Zenke, die derzeit an einer thematischen und technischen Erweiterung des BW-Atlas arbeitet. Dabei sei Rückendeckung von der Chefebene genauso wichtig wie eine gut organisierte Redaktion. Hilfreich sei zudem ein eigenes Ressort für Datenrecherchen. „Auch, wenn es zu Beginn nur ein Ein-Frau-Ressort ist.“

16. Juni 2017