Katastrophismus
Die Hatz nach Superlativen

Katastrophenberichterstattung folgt eigenen Gesetzen: Jeschrecklicher das Ereignis, umso besser. Die verheerende Flut inPakistan floss jedoch an den internationalen Medien vorbei. Warum?

von Willi Germund

Tief unten im Tal rauscht das eisgraue Wasser des Swat-Flusses an demkleinen Dorf Jarey vorbei. Durch die engen Gassen des Dorfes eilenMänner, die dicke Säcke auf ihren ge­­beugtenRücken tragen. Unter einer weit ausladenden Platane verkauft einMetzger das Fleisch frischgeschlachteter Schafe. Ein paar alteMänner hocken ein paar Schritte weiter auf einem kleinenMäuerchen und plaudern. Idylle pur in dem Bergdorf rund 45Kilometer nördlich der Stadt Mingora im malerischen Swat-Tal. Solange jedenfalls, bis einer der Männer ein Handy zückt undauf dem kleinen Bildschirm Fotos des Dorfes Jarey zeigt, die nur wenigeTage alt sind.

Die Bilder zeigen eine Brücke, von der nun jede Spur fehlt– sogar die Fundamente. Der Dorfmarkt ist ebenso verschwunden wiedie Asphaltstraße, die vor Pakistans schlimmstenÜberschwemmungen seit 80 Jahren von Mingora nach Kalam durch Jareyführte. »Es sieht nicht schlimm aus«, sagt der60-jährige Khastra Bacha, während er auf denplätschernden Swat-Fluss schaut »weil nichts mehr daist.«

Berichterstatter als einfache Zeugen

Auf der gegenüberliegenden Flussseite ist inmitten grünerMaisfelder eine Gruppe von Menschen zu sehen, die sich am Uferdrängt. Sie warten auf die »Jula«, die Schaukel. Siebesteht aus einem wackeligen Eisenkäfig mit Holzboden, fasstmaximal zwei Personen, hängt an einem Stahlseil und wird von zweiMännern per Hand über den Fluss gezogen. Das improvisierteGefährt, das von pakistanischen Soldaten gebaut wurde, ist seitder Flutkatastrophe weit und breit die einzige Verbindung zwischenJarey und dem Dorf Qandil am anderen Ufer.

Die ganze Konstruktion sieht eher romantisch als notdürftig aus.In normalen Zeiten würde man sich als Berichterstatterwahrscheinlich halbbewundernd über den Erfindungsreichtum und dieeinfachen Mittel auslassen, mit deren Hilfe Bewohner der kargenBergregion in Pakistan die Hürden der Natur überwinden.

Aber das Land wurde gerade von einer schlimmen Naturkatastropheheimgesucht. 14 Tage ist es bereits her, seit die plötzlich insTal stürzenden Wassermassen das Gesicht des Swat-Talsveränderten. Bei den meisten Katastrophen leisten laut einer schoneinige Jahre zurückliegenden Untersuchung des InternationalenRoten Kreuzes (IRK) die Überlebenden in den ersten 48 Stunden diedringendste Nothilfe. Berichterstatter, die während dieser Phaseeintreffen, haben keine Mühe, die Dramatik des Ereignisses miteigenen Augen zu beobachten und zu vermitteln.

»Tsunami in Zeitlupe«

Aber im Fall Pakistan war die Katastrophe schon zwei Wochen lang inden internationalen Medien dahingeplätschert und fand sich –wenn überhaupt – auf den Panorama-Seiten der Tageszeitungenwieder. Dann nannte UN-Generalsekretär Ban Ki Moon dieÜberschwemmungen plötzlich einen »Tsunami inZeitlupe« und setzte damit einen neuen Ton, der auch die Medienmitriss.

Über 20 Millionen Menschen werden am Ende von denÜberschwemmungen betroffen sein, 1.700 Tote lautet bis heute dieBilanz. In den ersten Augusttagen, dem Anfang derÜberschwemmungen, beherrschten in Deutschland noch die Toten derLove Parade von Duisburg die Schlagzeilen. Zudem waren vieleEntscheidungsträger der Redaktionen in den Sommerferien.

Beim Tsunami in Asien am zweiten Weihnachtstag des Jahres 2004befand sich ebenfalls die halbe Welt im Urlaub. Selbst die meistenKorrespondenten waren mit der Familie unterwegs und teilweise schwerauf­zutrei­ben. Dennoch dauerte es gerade mal ein paar Stunden,bis Krisenreporter aus aller Welt in die betroffenen Gegenden entlangder Küsten des Indischen Ozeans aufbrachen.

Bei Pakistan reagierten die Medien wohl auch deshalb in Zeitlupe aufdie Überschwemmungen, weil 1.700 Tote im internationalenDesaster-Maßstab längst zu einer Art Routine geworden sind.Die Öffentlichkeit hatte sich an Schreckensmeldungen aus Pakistangewöhnt. Zahlreiche Terrorattentate mit hunderten von Toten warenwährend der vergangenen Jahre an der Tagesordnung. Und beimErdbeben in Kaschmir im Jahr 2005 starben fast 80.000 Menschen in denTrümmern.

Prinzip der Sportberichterstattung greift

Pakistan fiel deshalb in den ersten beiden Wochen nicht nur einergigantischen Wasserwelle zum Opfer. Das Land litt auch unter einerKatastrophenberichterstattung, die sich seit Jahren eher nachPrinzipien der Sportberichterstattung zu orientieren scheint. Begriffewie »höher«, »schneller« und»weiter« werden ersetzt. Stattdessen l …

Sie wollen den ganzen Text? Dann bestellen Sie diese MESSAGE-Ausgabe! zur Bestellung

Kommentar hinterlassen

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Pflichtfelder sind mit einem * markiert.