Recherche
Auf die Kleinen

Wie Pfizer in Frankreich eine verdeckte PR-Kampagne fürein Antidepressivum für Kinder startete und Medizin-Journalistengutgläubig mitspielten: Protokoll einer Enthüllungsrecherche.

von Luc Hermann

Als Journalist bin ich nicht auf Gesund­heits­themenspezialisiert. Meine Recherchen begannen, weil ein befreundeterAllgemeinarzt auf mich zukam. Er abonniert verschiedene medizinischeFachzeitschriften und wunderte sich damals über die zahlreichenArtikel, die sich alle zeitgleich mit einer besonderen psychischenKrankheit beschäftigten – und mit einem neuen Medikament ausdem Hause Pfizer.

Drei Monate habe ich an der Geschichte gearbeitet, unterstützt voneinem Dokumentar und einer Rechercheurin. Meinen befreundetenAllgemeinarzt engagierte ich – nach Absprache mit meinemChefredakteur – als fachlichen Berater. Die Dokumentation mit demTitel »Antidepressiva für Kinder – das Ende einesTabus?« lief schließlich 2005 im französischenFernsehen auf Canal +.

In der Tat hörte und las man zu Beginn des Jahres 2005 in Presseund Fernsehen sehr häufig von einer bis dato wenig bekanntenKrankheit, die jedoch mehr und mehr Kinder zu betreffen schien:Obsessive-Compulsive Disorders (OCD), Zwangsstörungen. Warum derganze Medienrummel, ausgerechnet zu jener Zeit? Die Antwort fand sichin den Artikeln selbst: »Für die betroffenen Kinder ist nuneinen neues Medikament auf dem Markt« – hinter derMedienoffensive steckte also ein Pharmakonzern.

Die Geschichte eines Medikaments

Frankreich ist das Land mit dem höchsten Konsum vonAntidepressiva bei Erwachsenen. Ein riesiger Markt für diePharmaunternehmen, die zu jener Zeit eine neue Zielgruppe ins Visiernahmen: Kinder. Das galt bis dahin noch als Tabu, doch derfranzösische Gesundheitsminister ließ 2005 erstmalig einAntidepressivum für Kinder zur Verschreibung zu. MeineDokumentation erzählt auch die Geschichte eines Medikaments:Zoloft. Es ist das meist verkaufte Antidepressivum der Welt, dieKonkurrenz zu Prozac.

Von Zwangsstörungen betroffene Kinder – und Erwachsene– zählen ohne Unterlass, sie kontrollieren jede Tür undwaschen sich die Hände dreißig Mal am Tag. Kleine Ritualewerden zu Obsessionen, die das Leben unerträglich werden lassen.Einige Patienten denken gar an Selbstmord. Die Krankheit ist heilbar,wenn man sich einer langwierigen Psychotherapie unterzieht. In sehrschweren Fällen können auch Psychopharmaka helfen, damit dieBetroffenen ihre Ängste überwinden. Über den Einsatzdieser Arzneimittel wird in Krankenhäuern entschieden, dieMedikation muss permanent überwacht werden.

Tim und Struppi mit Depressionen

Isabelle Barot ist Vorsitzende des französischenSelbsthilfeverbands für OCD-Kranke. Sie hat lange Zeit in derWüste gepredigt, für Zwangsstörungen haben sichJournalisten nicht interessiert. Diese Situation änderte sicherst, als Pfizer das neue Zoloft für Kinder auf dem Marktlancieren wollte. Der Pharmahersteller investierte dafür in eineriesige Kampagne, um die seltene Krankheit bekannt und zu einembeunruhigenden Thema für Eltern zu machen.Das erste Ziel des Konzerns waren die Wartezimmer der Ärzte: MeinFreund brachte mir ein seltsames Heftchen mit, das damals in vielenPraxen auslag. Es war ein gut gemachter Comic im Stil von Tim undStruppi, der von den Abenteuern eines Jungen erzählte. Dieserentdeckt während einer Fahrt nach Ägypten, dass er unterZwangsstörungen leidet. Dass es sich hierbei um eineMarketingmaßnahme von Pfizer handelte, verriet nur ein kleinesblaues Logo auf den Titel des Hefts. Der Pharmakonzern hatte 40.000solcher Comics hauptsächlich an Allgemeinärzte verschickt.Familien hatten damals also große Chancen, dass ihnen ein solchesHeft in die Hände fiel.

»Ein Kind pro Klasse«

Pfizer beschreibt in dem Comic auch, wie die Krankheit zu heilen ist– allerdings ohne sein Medikament mit Namen zu nennen, das istverboten. Dafür erklärt uns das Unternehmen, dass zwei bisdrei Prozent der Kinder betroffen seien, 200.000 in Frankreich, das istfast ein Kind pro Klasse. Woher stammen diese Zahlen? MeineRechercheurin fand heraus, dass bis zu diesem Zeitpunkt keine Studieüber Zwangsstörungen bei Kindern in Frankreich existierte.Das Gesundheitsministerium verwies auf ausländische Studien,insbesondere aus Deutschland, wonach ein bis zwei Prozent der Kinderunter der Krankheit litten. Pfizer hatte diese Zahl  …

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