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Engagement und auch Eitelkeit

Für die erste US-Undercover-Reporterin waren Journalismus und Selbstdarstellung untrennbar miteinander verwoben. Der Katalysator ihres Werks war damals die Person Nellie Bly alias Cochran.

von Martin Wagner

Eine bemerkenswerte Geschichte erfolgreicher Vortäuschung von Geisteskrankheit«, so betitelte Joseph Pulitzers New York World 1887 Nellie Cochrans epochemachende Reportage »Zehn Tage im Irrenhaus«. Es geht weniger um die erschreckenden Zustände in den heute längst abgerissenen Häusern und Baracken der psychiatrischen Anstalt auf der heutigen Roosevelt Island, die sie beschreibt. Stattdessen liegt der Fokus auf der persönlichen Leistung der Reporterin selbst, die unter dem Pseudonym Nellie Bly publizierte.

Dabei waren es nicht allein die Blattmacher, die Blys mutiges Engagement als Sensationsgeschichte über die erstaunliche Leistung einer jungen, 23-jährigen Frau verkauften. Auch Bly nutzte ihre Reportage ausgiebig zur Inszenierung ihrer Person: Als keckes Mädchen, das nicht nur für Gerechtigkeit sorgt, sondern darüberhinaus ausnehmend attraktiv ist. Dazu gehört in der Reportage aus dem Irrenhaus etwa, dass sie ihr Alter um vier Jahre nach unten korrigierte. Und ebenso jene Koketterie, mit der sie inmitten all des Anstaltshorrors wiederholt um den Schutz ihrer »schönen« Haare kämpfte.

Nellie Bly stellte sich gern selbst in den Mittelpunkt. In ihrer Irrenhaus-Reportage, die zum amerikanischen Medienereignis des Jahres avancierte, genauso wie bei der zwei Jahre später folgenden Weltumrundung nach dem Vorbild von Jules Vernes Roman. »In 72 Days around the World« erschien 1890 auf dem Buchmarkt und wurde zu Lebzeiten Blys größter Erfolg.

Das änderte sich auch später nicht, als aus der jungen Enthüllungsjournalistin eine gewichtige Industrieunternehmerin geworden war. 1895 hatte Bly den um vierzig Jahre älteren New Yorker Stahlbaron Robert L. Seaman geheiratet. Als Seaman einige Jahre darauf starb, erbte sie sein gesamtes Vermögen und die zwei Multimillionen-Dollar-Unternehmen, die sie fast zehn Jahre leitete. Auf den Visitenkarten aus dieser Zeit nennt Bly sich großspurig »die einzige Frau der Welt, die ein Industrieunternehmen von solcher Größe persönlich leitet.«

Lust am Risiko

Jene Eitelkeit, mit der sie die Leiden ihrer Protagonisten zum Instrument ihres Egos machte, kann Nellie Bly zum Vorwurf gemacht werden. Doch wird man mit dieser Kritik weder der beeindruckenden Leistung der ersten investigativen Journalistin Amerikas gerecht noch dem damaligen Zeitungsbetrieb. Denn Nellie Bly rückte mit ihren dauernden Mitteilungen in eigener Sache nicht nur sich selbst in den Vordergrund, sondern auch die Geschichten derer, denen sonst keiner zuhörte, wie Armen, Witwen, Dienstmädchen, Arbeiterrechtlern in Gefängnissen und Fabrikarbeiterinnen.

Ihre Recherchen spiegeln die Lust am Risiko und ihren Hang zum Außergewöhnlichen: Sie versuchte sich als Elefantenzähmerin, im Central Park ließ sie sich von einem Zuhälter locken, um dessen Methoden zu erforschen. Und für eine Geschichte über einen Armenarzt wurden ihr beinahe selbst die gesunden Mandeln herausoperiert. Selbstdarstellung war notwendig für das, was sie vermitteln wollte. Denn was sich verkaufte, war die Marke Nellie Bly, nicht die Suada gegen Hungerlohn der Frauen in den Papierfabriken.

Journalistinnen als Zugpferde

Tatsächlich war die Situation für Journalistinnen am Ende des 19. Jahrhunderts von einem tiefen Paradox geprägt. Einerseits hatten die Frauen in den USA zu dieser Zeit weit bessere Chancen als ihre männlichen Kollegen, in der Verfasserzeile namentlich genannt zu werden, doch andererseits blieb jene Form der Prominenz die einzige Möglichkeit für Frauen, über ernsthafte gesellschaftliche Themen zu schreiben. Schreiben konnten sie stets nur in ihrer Rolle als Frau. Anonym über tagespolitische Ereignisse zu berichten, war für sie praktisch unmöglich. Frauen sollten Stars sein. Von den Zeitungen wurden sie als Werbemittel in dem sich heftig verschärfenden Konkurrenzkampf eingesetzt. Die Erfindung des investigativen Journalismus in diesen Tagen war nicht zuletzt motiviert durch das Ringen um Marktanteile.

Nellie Bly war genau das, was die Zeitungen suchten: jung, mutig, gutaussehend. Und sie lechzte nach Erfolg und Anerkennung. Umgekehrt wusste sie aber auch die Marketingstrategien der Herausgeber und Chefredakteure für sich zu nutzen: um 1890 gab es wohl kaum einen besser bezahlten Journalisten in den USA.

Mit ihren sozialkritischen Texten trieb sie nicht nur die Verbesserung der Zustände in den städtischen Irrenanstalten mit voran, sondern nahm sich auch der Armenfürsorge an. Ebenso setzte sie sich in ihrer Funktion als Unternehmerin bis zur Pleite ihres Konzerns für die Arbeiter und Angestellten ein, schuf sie ein soziales Fürsorgesystem, richtete eine Leihbibliothek ein und ließ eine Turnhalle bauen. Während des Ersten Weltkriegs berichtete Bly als Kriegsreporterin über die österreichische Ostfront und über die Zustände in den Lazaretten der k.u.k Armee. Zurück in New York machte sie die Vermittlung von Waisenkindern zu ihrer Sache. 1922 verstarb Nellie Bly an den Folgen einer Lungenentzündung.

Die für Nellie Bly charakteristische Spannung von Erfolgssucht und Eitelkeit auf der einen Seite und sozialem Engagement auf der anderen, hängt mit ihrer Biographie zusammen.

1864 als Tochter des Unternehmers und Richters Michael Cochran im Bundesstaat Pennsylvania geboren (getauft unter dem Namen Elizabeth Cochran), wuchs sie zunächst in einem behüteten Elternhaus auf. Doch nach dem frühen Tod des Vaters verarmte die Familie. Eine zweite Heirat der Mutter mit einem brutalen Alkoholiker scheiterte kläglich. So blieb Blys Schulbildung aus Mangel an finanziellen Mitteln rudimentär und schlug sich in dem schlichten und oft etwas ungelenken Stil der frühen Zeitungstexte nieder. Doch was Bly später an Bildung fehlte, kompensierte sie durch Ehrgeiz und ein geschärftes Unrechtsbewusstsein. Sie hatte am eigenen Leib die Härte des sozialen und ökonomischen Abstiegs erfahren.

Im Alter von zwanzig Jahren verfasste sie einen anonymen Leserbrief an den Chefredakteur des Pittsburg Dispatch, um sich über einen frauenfeindlichen Artikel zu beschweren. Beeindruckt von dem forschen und unverblümten Stil der Unbekannten, bat der Chefredakteur sie per Anzeige, sich in der Redaktion vorzustellen. Auf den Antrittsbesuch folgten die ersten Aufträge. Nach rund einem Jahr kündigte sie, um in Begleitung ihrer Mutter für sechs Monate nach Mexiko zu reisen und von dort für den Dispatch zu berichten.

1887 zog sie nach New York. Ohne feste Anstellung, ohne gute Kontakte. Erst nach Monaten erfolgloser Jobsuche kam das entscheidende Angebot: »Am 22. September wurde ich von der New York World gefragt, ob ich mich in eine der New Yorker Anstalten für Geisteskranke einweisen lassen könnte. (…) Ich sagte, dass ich es könnte und dass ich es tun würde. Und ich tat es.« – So beginnt Nellie Blys Reportage über zehn Tage im Irrenhaus. Und so begann ihr Erfolg.