Tabu-Thema
Funkstille über Strahlungsschäden

Wer als Journalist über Gesundheitsschäden durch Mobilfunk berichten will, erlebt merkwürdige Dinge. Von umgeschriebenen Artikeln, Sendetermin-Problemen und gekippten Enthüllungsstorys.

von Uwe Krüger

Der Stein des Anstoßes war eine etwas esoterisch anmutende Zeitschrift namens Raum und Zeit. Marc Lutz, Werbefilm- Student an der Filmakademie Ludwigsburg, war zu Besuch bei einer Freundin, die von Beruf Heilpraktikerin ist. Bei ihr lag immer viel eigenartige Literatur herum, und nun zeigte sie dem 24-Jährigen einen Artikel über Mobilfunkstrahlung. Skeptisch begann er zu lesen. Ein Physiker kritisierte eine Broschüre des bayrischen Umweltministeriums, die Sendemasten völlige Unbedenklichkeit bescheinigte.

Lutzens Skepsis schwand, als der Physiker ein Argument nach dem anderen sezierte und widerlegte. Ein Funkmast arbeite nur mit der lächerlichen Leistung von 2 oder 3 Watt, beruhigte die Broschüre. Falsch, sagte der Physiker: Unten gehen zwar nur wenige Watt hinein, oben kommen aber 80.000 Watt heraus. Marc Lutz war elektrisiert und begann, neben seinem Studium und den Werbefilm-Dreharbeiten zu recherchieren – über ein Problem, das offiziell nicht existiert.

»Ich fand heraus, dass viele Menschen schon krank geworden sind, dass Deutschland einen der höchsten Grenzwerte für Mobilfunkstrahlung weltweit hat und dass dieser Grenzwert auf einen industrienahen Wissenschaftler-Verein in München zurückgeht«, erzählt der heute 31-Jährige, »es war ein Skandal ersten Ranges.« Er schrieb ein Exposé für einen Film, fand in seinem Bekanntenkreis eine Kamerafrau und zwei Produzenten und ging auf die Suche nach Geldgebern.

Seine erste Station war RTL Explosiv, dort arbeitete eine gute Bekante. Die sagte: »Super Thema – aber überleg mal, wer bei uns die Werbespots schaltet.« Er klopfte beim Südwestrundfunk an, dort arbeitete ein Freund. Der fand das Thema spannend, wurde aber von seiner Redaktion bald ausgebremst. Beim Bayrischen Rundfunk wenig später dasselbe. »Es hieß immer, das Thema haben wir ständig in kleinen Beiträgen«, erzählt Lutz, »aber diese Beiträge endeten ja immer dort, wo es richtig brisant wird – beim Hintergrund der Grenzwerte.«

Irgendwann wollte Lutz sein Material nur noch einem anderen Journalisten übergeben, der es möglichst öffentlichkeitswirksam herausbringt. Er rief bei der dpa an. »Der für Mobilfunk zuständige Redakteur fragte gleich, woher ich das alles habe. Er schien das alles schon zu wissen und wollte nur meine Quellen erfahren«, so Marc Lutz. Danach wandte er sich an den Stern. Auch dort reagierte der Redakteur zurückhaltend, vertröstete ihn auf nach seinem Urlaub, und der Kontakt verlief im Sande.

Im Volk brodelt es

Für die Redaktionen ist das Thema Mobilfunkstrahlung offenbar wenig sexy. Doch sie scheinen in einer anderen Welt zu leben als der Rest der Bevölkerung, wo gewaltige Unruhe herrscht, seitdem das Netz der UMTS-Masten rasant ausgebaut wird. Zahllose Bürgerinitiativen kämpfen gegen Sender in der Nachbarschaft, im Internet wimmelt es von Webseiten wie »Informationszentrum gegen Mobilfunk«, »Bürgerwelle« oder »Elektrosmog-News«. Mobilfunkkritische Ärzte gründen Initiativen wie den »Freiburger Appell« oder den »Bamberger Appell« und dokumentieren Krankheiten, von Kopfschmerzen bis Brustkrebs, die nach der Aufstellung von Funkmasten gehäuft auftraten.

Doch deren Gutachten und Schreiben an Gesundheitsämter, Ministerien und das Bundesamt für Strahlenschutz stoßen auf Desinteresse. Dabei warnt das Bundesamt für Strahlenschutz selbst schon seit einigen Jahren vor zu viel Handykonsum vor allem bei Kindern, und führenden deutschen Versicherungsfirmen ist die Sache ebenfalls nicht geheuer: Sie haben in ihren Policen für Handyhersteller und Mobilfunk-Netzbetreiber die Versicherung der Risiken von Elektrosmog wegen der »nicht einschätzbaren Gesundheitsgefahren« ausgeschlossen (SZ 28.1.2004).

In den Medien kommt von alledem wenig an. Dabei mangelt es nicht einmal an Journalisten, die zum Thema recherchieren – nur mit dem Veröffentlichen ist es nicht so einfach. Zwei Jahre lang hat zum Beispiel der Filmemacher Klaus Scheidsteger für seinen Film »Der Handykrieg« in den USA recherchiert. Dessen Protagonist, der Washingtoner Epidemiologe George Carlo, ist einer der ärgsten Feinde der Mobilfunkindustrie. Dabei leitete er in den 90er Jahren im Auftrag der US-Mobilfunkindustrie eine 28 Millionen Dollar teure Studie über Gesundheitsfolgen der Handystrahlung. Seine Ergebnisse gefielen den Geldgebern jedoch nicht: DNA-Schäden und Hirntumore bei Vieltelefonierern. Als Carlo sie öffentlich machte, fiel er in Ungnade, wurde verleumdet, und – mysteriös – sein Haus brannte nieder. Heute hilft er Handy-Geschädigten als Gutachter in Schadenersatzprozessen vor US-Gerichten.

Filmemacher Scheidsteger, der das Thema entdeckte, nachdem Freunde von ihm erkrankt waren, konnte den MDR zur Mitfinanzierung der Dokumentation bewegen. Im Dezember 2005 gab er eine 45-Minuten- Fassung ab. Der MDR überwies das Geld, ließ den Film aber erst einmal in der Schublade verstauben. Nach einem Jahr fand er sich endlich im Programm: 10.35 Uhr morgens lief am 7. Dezember 2006 eine um 15 Minuten gekürzte Version; noch dazu so kurzfristig anberaumt, dass die Programmzeitschriften für diesen Sendeplatz die Wiederholung einer anderen Reportage ankündigten. Scheidsteger war aufgebracht: Die Änderungen seien nicht mit ihm abgestimmt gewesen, und das heiße Thema solle mit diesem Sendeplatz offensichtlich »unter dem Radar« laufen.

Beim MDR gibt man andere Gründe an: mangelnde Qualität. »Der Film entsprach handwerklich und inhaltlich nicht unseren Standards«, sagt Claudia Schreiner, Programmchefin Kultur und Wissenschaft, »was Spannungsbogen, Handlungsstränge, logische Abfolge der Argumente und Kameraarbeit angeht.« Im Vertrag mit Scheidsteger sei deshalb ausdrücklich die Bearbeitung und Kürzung eingeschlossen gewesen. »Außerdem fehlte der Deutschland-Bezug«, so Schreiner weiter, »was schade ist, denn es ist ja ein Thema, das auch hierzulande Bedeutung hat.« Was die Qualität angeht, so hat der MDR offenbar deutlich strengere Maßstäbe als Frankreichs größter öffentlich-rechtlicher Sender France 2. Der hatte den Film im Mai 2006 im späten Abendprogramm ausgestrahlt, in voller Länge. Das Argument des fehlenden Lokalbezugs klingt dagegen absurd: Genau jene Szenen, die in Wiener Labors gedreht wurden und die beunruhigenden Ergebnisse einer EU-Studie zeigten, fehlten in der MDR-Version.

Regionales und Kurioses

Das Thema Handy-Smog wird nicht gänzlich unter den Teppich gekehrt, findet aber in aller Regel nur im Regionalen statt. So berichtete das MDRMagazin exakt im März 2006 über die thüringische Kleinstadt Steinbach-Hallenberg, in der 17 Menschen innerhalb weniger Jahre an Krebs erkrankt sind – alle wohnen im Hauptstrahl eines Funkmastes. Der Bayerische Rundfunk brachte einen Vierminüter über Oberammergau, wo der Bürgermeister den TMobile- Masten den Strom abdrehen wollte, nachdem eine Neujustierung der Masten bei Anwohnern Beschwerden hervorgerufen hatte (22.11.2006); auch die Zeit berichtete (14.12.) Immerhin, unter der Rubrik »Kurioses« schaffen es Mobilfunkgeschädigte, ins Fernsehen zu kommen, so der ehemalige Funktechniker Ulrich Weiner. Der Mann ist mittlerweile schwer elektrosensibel und fährt in einem Schutzanzug von Funkloch zu Funkloch, auf der Suche nach einem ruhigen Plätzchen (MDR 19.11.2004).

Hintergrundstücke sind indes äußerst selten. Eine Ausnahme schien die 45-Minuten-Dokumentation »Bei Anruf Smog? – (Glaubens)Krieg ums Handy« (ARD 7.8.2003) zu sein. Für sie waren die Reporter bis nach Hawaii auf eine Wissenschaftlerkonferenz geflogen. Sie schien den Programmverantwortlichen aber dann doch weniger wichtig und wurde kurzfristig verschoben, zugunsten einer bunten Geschichte über die Rekordhitze in Deutschland.

Der Handyfilm lief statt Mittwoch 21.45 Uhr am Folgetag auf dem deutlich schlechteren (und weniger Leuten bekannten) 23-Uhr-Platz. Sofort sprühten die Spekulationen in den Mobilfunkkritiker-Foren: Reicht der lange Arm der Industrie bis in die Schaltkonferenz der ARD-Chefredakteure?

Industrie-Infos für Redakteure

Anhaltspunkte gibt es. Da fand zum Beispiel im Oktober 2002 eine merkwürdige Informationsver-anstaltung für Redakteure des Bayerischen Rundfunks statt. Zu ihr hatte der Technische Direktor des BR, Herbert Tillmann, geladen. Gleich in seiner Begrüßungsansprache wies er auf den »schmaler werdenden Geldbeutel« hin und verkündete den staunenden Zuhörern, »dass der Bayrische Rundfunk den Mobilfunkbetreibern die Mitbenutzung seiner Senderstandorte gestattet«.

Dieses Nebengeschäft ist übliche Praxis auch bei den anderen ARD-Anstalten, wobei beteuert wird, dass die Einnahmen gerade mal die Kosten decken. Der BR gibt dazu die Auskunft, dass er damit etwa 4 Millionen Euro jährlich einnimmt; bei einem Gesamtbudget um die 800 Millionen sei dies zu vernachlässigen.

Trotzdem: Auf der vierstündigen Veranstaltung bekamen die BR-Redakteure ausschließlich die Sicht der Netzbetreiber zu hören. Die Schädlichkeit der Strahlung sei nicht bewiesen, mithin handele es sich nur um ein »Kommunikationsproblem«. Die Redakteure – so die Einschätzung einer Teilnehmerin – reagierten ob der Einseitigkeit der Information sichtlich genervt. Mehr und mehr beschlich sie das Gefühl, dass sie »auf Linie« gebracht werden sollten. Und so fand ein Mitschnitt des Ereignisses den Weg zu einem mobilfunkkritischen Internetforum, obwohl es Herbert Tillmann ausdrücklich als »interne Veranstaltung« bezeichnet hatte.

Es ist aufschlussreich, die Tätigkeit des einladenden Tillmann näher zu beleuchten. Der ist nämlich nicht nur Technischer Direktor des BR und damit verantwortlich für die Vermietung der BR-Immobilien an die Netzbetreiber. Er ist auch Vor sitzender der Produktions- und Technik kommission von ARD und ZDF und treibende Kraft bei der Entwicklung des öffentlichrechtlichen Handy-TV. Darüber hinaus sitzt er im Vorstand der Forschungsgemeinschaft Funk (FGF), eines eingetragenen Vereins, der Forschung zum Thema »Wirkung elektromagnetischer Felder« finanziert – mit Geld der Mobilfunkindustrie. Die Schlagseite der FGF ist nicht nur in ihren Newslettern zu besichtigen, sondern schon in der Liste der Vorstandsmitglieder: Tillmanns Kollegen in der FGF arbeiten hauptberuflich bei Motorola, Bosch, Nokia, Vodafone, T-Mobile, E-Plus und im Bundeswirtschaftsministerium.

Bis vor kurzem saß auch ein Siemens-Vertreter namens Dr. Uwe Kullnick an diesem Tisch – und der war als Moderator und Referent der Tillmannschen Informationsveranstaltung zu Gast im Haus des BR. Nur wurde Kullnick den Redakteuren nicht als Siemens-Mann vorgestellt, das wäre wohl etwas zu plump gewesen. Der Biologe trat als Vertreter des Verbandes BITKOM auf, wo er den Arbeitskreis »Mobilfunktechnik und Gesundheit« leitet. Das war allerdings schlecht kaschierte Befangenheit: BITKOM ist laut Internet-Selbstauskunft »das Sprachrohr der IT-, Telekommunikations- und Neue-Medien-Branche« und »vertritt mehr als 1.000 Unternehmen«, die in Deutschland jährlich »120 Milliarden Euro Umsatz« erwirtschaften.

Kooperationen und Geschäfte

Geschäftliche Nähe zur Mobilfunkindustrie findet sich auch bei anderen Medien. Das ZDF unterhielt von 2001 bis 2004 zusammen mit der Telekom-Tochter TOnline das Nachrichtenportal heute.t-online.de – und bekam dafür vom Partner laut einem Bericht der SZ (8.7.2004) mehr als 3 Millionen Euro pro Jahr für die Nutzungsrechte der ZDF-Nachrichten und der Marke »heute« im Internet. Mit der Bild-Zeitung kooperiert die Telekom bis heute, das Internetportal der größten deutschen Zeitung heißt Bild.T-Online.de.

Deutschlands einflussreichste Nachrichtenagentur dpa, von der sich die meisten Regionalzeitungen ernähren, macht selbst Geschäfte im Zusammenhang mit Mobilfunk und dürfte also am Erfolg der Technologie interessiert sein. 1996 gebar die Agentur ihre 100-prozentige Tochter dpa-infocom GmbH, die Zeitungsverlagen die Entwicklung und Verbreitung von Multimedia- Angeboten offeriert. Seit Anfang 2005 geht es auch um »lokale Schlagzeilen und Sportergebnisse, Abstimmungen und Gewinnspiele per SMS oder die Einsendung von Mini-Leserbriefen direkt vom Handy« (ots-Meldung vom 3. März 2005), Partner beim Vertrieb sind unter anderem T-Mobile, E-Plus und Vodafone.

Die Zusammenarbeit funktioniert offenbar auch im Bereich der Berichterstattung gut. Die Agentur verbreitet regelmäßig Jubelmeldungen über die Vorteile von UMTS (»Das Handy als Brandmelder – mobile Kommunikation wird vielseitiger«, 6.10.2004) und die Unschädlichkeit der Strahlung (»Experte: Angst vor Handyantennen schädlicher als Strahlung«, 13.11.2003). Besonders plump: Als das Bundesamt für Strahlenschutz über eine Umfrage informierte, die ergab, dass 40 Prozent der Deutschen Angst vor Handystrahlung hätten, setzte die Redaktion das Wörtchen »lediglich« vor die beachtlichen 40 Prozent, obwohl dies bei der zugrunde liegenden Pressemitteilung gefehlt hatte. Stolz ausgestellt sind alle diese dpa-Meldungen auf der Webseite des Informationszentrums Mobilfunk, einer Lobby- Organisation der deutschen Mobilfunknetzbetreiber, die auch Lehrer und Ärzte fortbildet und kostenloses Unterrichtsmaterial an Schulen liefert.

Machtfaktor Anzeigen

Beeindruckend für alle Medien dürfte die Marktmacht der Mobilfunkindustrie sein. Und das Anzeigenvolumen, das sie zu verteilen hat. Zwischen 582 und 820 Millionen Euro gab die Telekommunika-tionsbranche laut Nielsen-Werbeforschung in jedem der letzten fünf Jahre aus. Die Netzbetreiber T-Online, Vodafone, O2 und E-Plus gehören alle zu den Top 50 der größten werbenden Firmen; die Telekom war im Jahr 2000 sogar die Firma mit dem größten Werbebudget im Land. Dass die ganze Branche wegen einer möglichen erneuten Grenzwertdebatte in die Knie geht, können deshalb nicht nur die um Arbeitsplätze und Steuereinnahmen besorgten Regierenden, sondern auch die Medienkonzerne nicht wollen.

Mit zusammengerechnet 26 Zeitungsseiten Anzeigen von Firmen wie Telekom, Nokia, Siemens und E-Plus war zum Beispiel die Süddeutsche Zeitung im März 2001 gesegnet, als dort ein Redakteur kündigte, weil ihm ein Artikel über Mobilfunkgeschädigte umgeschrieben worden war. Kurioserweise hatte der SZ-Hauskarikaturist Pepsch Gottscheber das Thema aufgebracht; er kämpfte in seiner Münchener Dachgeschosswohnung mit Kopfschmerzen, seitdem ein UMTS-Mast vom gegenüberliegenden Dach funkte. Lokalredakteur Thomas Grasberger sprach mit dem Zeichner, den ebenfalls betroffenen Nachbarn und mobilfunkkritischen Ärzten.

Als Grasberger seinen Artikel »Hilferuf aus dem Antennenwald« am 27.3.2001 in der Zeitung sah, war er schockiert: Der Beitrag war drastisch gekürzt, Sätze waren umgeschrieben und abgeschwächt worden und neue eingefügt, die die Glaubwürdigkeit eines kritischen Gutachters in Zweifel zogen. Das Wissenschaftsressort hatte dazwischengefunkt. »Und vor allem, ohne vorher mit mir zu reden«, sagt Grasberger.

Er kündigte – und machte weiter. Zusammen mit Franz Kotteder, in der SZ-Redaktion für Münchener Kultur zuständig, recherchierte er das Thema aus und veröffentlichte 2003 ein ganzes Buch: »Mobilfunk – Ein Freilandversuch am Menschen«. Darin ist nicht nur der Forschungsstand aufgearbeitet, sondern sind auch Verquickungen von Industrie, Politik und Wissenschaft dargelegt. Die Autoren berichten, wie Studien manipuliert wurden und Wissenschaftler Publikationsverbot für unliebsame Ergebnisse erhielten, etwa der Lübecker Uniklinik-Arzt Lebrecht von Klitzing.

Nach dieser Arbeit war Franz Kotteder wohl der am besten informierte Mann in der SZ-Redaktion, was den Forschungsstand zur Mobilfunkstrahlung anging. Aber seine Expertise war nicht gefragt. Stattdessen gab es den Feuilleton-Aufmacher »Strahlung als Metapher« (5.3.2004), der Mobilfunkgeschädigte als modernefeindliche Ideologiekritiker mit eingebildetem Leiden hinstellte, und den Artikel »Irre Energie« (21./22.1.2006) von Wissen-Ressortchef Patrick Illinger.

Der Autor plädiert dort für mehr Gelassenheit und schreibt über die von der EU finanzierte Reflex- Studie, die eine genverändernde Wirkung elektromagnetischer Strahlen festgestellt hatte: »Initiator der Reflex-Studie ist eine Stiftung, die der ‚Verband der Cigarettenindustrie’ finanziert hat. Ist es unseriös, die Frage zu stellen, ob Zigarettenhersteller womöglich einen Vorteil davon haben, wenn sich die Bevölkerung vor Handys mehr fürchtet als vor Tabak?«

Die Frage nach dem Einfluss der Geldgeber auf die Ergebnisse ist nicht unseriös. Aber Illinger ist inkonsequent: Er erwähnt nicht, dass der Löwenanteil aller Mobilfunkstudien von der Mobilfunkindustrie finanziert wird – 80 Prozent, wie Professor Franz Adlkofer, der Koordinator der Reflex-Studie, schätzt.

Strategische Desinformation

Die unübersichtliche Forschungssituation mit mittlerweile tausenden von Studien ist sicher auch ein Grund, warum Redakteure das Thema so vorsichtig behandeln: Unter Zeitdruck kann man sich bei der Fülle an Material kaum eine Meinung bilden. Aber was, wenn der Dissens in der Wissenschaft künstlich hergestellt wurde, indem immer neue Gutachten in Umlauf gebracht werden? Der Verdacht liegt nahe, wie das angesehene New Yorker Journal Microwave News im Juni 2006 festgestellt hat. Sie verglich Geldgeber und Ergebnisse von 85 einschlägigen Studien und stellte fest: Beruhigende Resultate korrellieren mit Industriegeld. Das Prinzip wäre nicht neu: Tabakkonzerne wie Philipp Morris und British American Tobacco vernebelten mit gekauften Wissenschaftlern jahrzehntelang den Zusammenhang zwischen Rauchen und Lungenkrebs; Ölmulti Exxon Mobile schaffte künstlichen Streit darüber, ob Kohlendioxid tatsächlich für die Erderwärmung verantwortlich ist (SZ 27.9.2006).

Spiegel ohne Neugier

Immerhin gibt selbst das Bundesamt für Strahlenschutz an, dass sechs Prozent der Deutschen elektrosensibel seien; in Schweden, wo Elektrosensibilität als Krankheit anerkannt ist, geht man von 30 Prozent der Bevölkerung aus.

So bleibt unklar, mit welcher Selbstsicherheit auch der Spiegel Mobilfunkkritiker abqualifiziert. In einem Interview mit einem Epidemiologen (9.4.2001) war man sich beim Thema Elektrosmog einig, dass man darüber gar nicht diskutieren muss. So »fragten« die zwei Spiegel- Leute ihr Gegenüber: »Das Phänomen wird gegenwärtig mit Millionenaufwand erforscht. Bisherige Studien finden aber keinen Zusammenhang zwischen Handy-Strahlen und Krebs.« Und weiter: »’Die Elektrosmog-Gläubigen geben nie auf’, schreibt das British Medical Journal. Dabei sei es ganz egal, zu welchen Ergebnissen eine Studie kommt.« Der Experte durfte dann alles bestätigen – besonders neugierig klangen die Interviewer nicht.

Neugieriger war offenbar ein anderer Spiegel-Mann, der sich Anfang 2001 für eine geplante Titelgeschichte bei Mobilfunkkritikern umgehört hatte. Er ließ sogar bei der »Bürgerwelle«, einem Dachverband von Bürgerinitiativen gegen Funkmasten, zwei Fotografen Bilder machen, wie dessen Vorsitzender berichtet. Der Wirtschaftsredakteur Klaus-Peter Kerbusk, der sich unter anderem mit der Telekommunikationsbra nche befasst, bestätigt die Recherche, die ihn sechs Wochen gekostet und bis nach Schweden geführt hat. Veröffentlicht hat er am Ende nichts. Warum? »Es gab in der Redaktion«, sagt Kerbusk, »sehr unterschiedliche Auffassungen über die möglichen Risiken und Gefahren durch die Handystrahlung.«


Der Hintergrund der Mobilfunk-Grenzwerte

Es ist immer dieselbe Antwort, die Gesundheitsämter und Ministerien auf Briefe von Ärzten geben, die auf Leiden ihrer Patienten im Zusammenhang mit Funkstrahlen aufmerksam machen: »Bei Einhaltung der Grenzwerte der 26. Verordnung zur Durchführung des Bundesimmissionsschutzgesetzes ist der Schutz der Gesundheit sichergestellt. « Ein Blick auf diese Grenzwerte lohnt sich.

Deutschland hat einen der höchsten weltweit: 10 Millionen Mikrowatt pro Quadratmeter. Zum Vergleich: Russland, das schon viel länger zum Strahlen-Thema forscht, lässt nur 20.000 Mikrowatt zu, die Wissenschaftsdirektion STOA des EU-Parlamentes empfiehlt höchstens 100 Mikrowatt. Der deutsche Grenzwert, 1997 verabschiedet, ist von der WHO empfohlen und hat zwei Kontrollinstanzen passiert: das Bundesamt für Strahlenschutz (BfS) und die Strahlenschutzkommission (SSK). Das klingt vertrauenerweckend – bis man in die personellen Details eintaucht.

Denn die WHO hat ihre Empfehlung übernommen von der International Commission on Non-Ionizing Radiation Protection (ICNIRP). Dieses Gremium ist kein Teil der WHO, sondern ein Verein, der beim Amtsgericht München eingetragen ist. Er besteht aus 14 Wissenschaftlern aus verschiedenen Ländern, die teilweise auch für die Industrie arbeiten. Vorsitzender der ICNIRP war von 1996 bis 2000 der Physiker und Biophysiker Jürgen Bernhardt. Bernhardt arbeitete in den Jahren 1989 bis 1998 im Bundesamt für Strahlenschutz als Abteilungsleiter für »Medizinische Strahlenhygiene und Nichtionisierende Strahlung«, und er saß ebenfalls in der Strahlenschutzkommission, als Vorsitzender des Ausschusses »Nichtionisierende Strahlen« (von 1987 bis 1989 und von 1999 bis 2002). In einer anderen Funktion hat er also die Grenzwerte, die er selbst vorgeschlagen hat, abgesegnet.

Einen interessanten Einblick in Bernhardts Denken gibt ein Fernsehinterview vom 29.1.1997 auf 3sat (»Risiko Elektrosmog«). Darin räumte er ein, dass es »Hinweise auf krebsfördernde Wirkungen und Störungen an der Zellmembran« gebe, aber: »Wenn man die Grenzwerte reduziert, dann macht man die Wirtschaft kaputt, dann wird der Standort Deutschland gefährdet.« Da macht er sich die gleichen Sorgen wie Ex-Kanzler Schröder, der im November 2001 einen Vorstoß seines Umweltministers Trittin zur Grenzwertsenkung blockierte, »um Unruhe in der Wirtschaft zu vermeiden« (Berliner Zeitung, 10.11.2001).

Übrigens: Bei der WHO zuständig für das Thema Elektromagnetische Felder war bis vor wenigen Monaten der australische Wissenschaftler Michael Repacholi. Von 1992 bis 1996 war er Vorsitzender der ICNIRP, seitdem ist er einfaches Mitglied.

(Quelle: Thomas Grasberger/Franz Kotteder: Mobilfunk – Ein Freilandversuch am Menschen. Kunstmann-Verlag, München 2003)

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