Schweizer Presserat
Anhörung als Alibi?

Dem Chirurgen Turina hatte die NZZ am Sonntag schwere Fehler vorgeworfen. Jetzt befand der Schweizer Presserat: Betroffene müssen mit den Anschuldigungen ausdrücklich konfrontiert werden.

von Peter Studer

Im April 2004 operierte Professor Marko Turina, eine europäische Kapazität auf dem Gebiet der Herzchirurgie, die schwerkranke Rosmarie Voser. Sie sollte ein neues Herz erhalten. Mediale Besonderheit: Auf Anregung des einweisenden Arztes würde ein Fernsehteam des Schweizer Fernsehabendmagazins 10 vor 10 die Vorbereitungen zur Operation in einer Serie begleiten, um so noch mehr Menschen für Organspenden zu motivieren.Das Publikum nahm großen Anteil.

Am Tag nach der Operation lief bei 10 vor 10 ein anonymes Fax ein, das verkündete, die Operation sei wegen eines »Riesenpfuschs« misslungen. Tatsächlich war der Patientin ein Herz mit inkompatibler Blutgruppe eingesetzt worden. Die Spitaldirektorin erklärte am folgenden Tag, es habe eine »medizinische Fehlbeurteilung« gegeben; wegen Kommunikationsfehlern sei es zu einer tragischen Verwechslung gekommen. Sie stellte ihren Mitarbeiterstab unter ein umfassendes Schweigegebot. Am dritten Tag nach der Transplantation starb die Patientin. Sogleich nahm die Staatsanwaltschaft Ermittlungen wegen fahrlässiger Tötung auf.

Über ein Jahr später – die Strafuntersuchung verlief schleppend – veröffentlichte die NZZ am Sonntag, das eigenständige Schwesterblatt der Neuen Zürcher Zeitung, auf der Frontseite und im Blattinneren eine hochbrisante Recherche. Der Kernsatz des ganzseitigen Artikels im Blattinnern lautete: »Die NZZ am Sonntag hat mit vielen direkt und indirekt Beteiligten gesprochen. Wir halten diese Leute anonym. Mehrere verlässliche Quellen, die über die Operation an Rosmarie Voser gut informiert sind, kommen unabhängig voneinander zum Schluss: Die Verwechslungstheorie ist falsch. Marko Turina hat der Patientin bewusst das ‚falsche‘ Herz eingesetzt. Man habe es versucht im Glauben, es könnte gelingen. Man habe eine medizinische Heldentat vollbringen wollen. (…) Eine ‚Ikarus‘-Operation [mit sicherem Absturz].«

Und nun der Satz, der den Presserat in Trab versetzte: »Marko Turina sagt der NZZ am Sonntag: ‚Ich äußere mich nicht dazu. Staatsanwalt Jokl hat mich mehrmals verhört. Fragen Sie ihn.‘« Jokl beteuerte der Zeitung gegenüber bloß, er habe keine Hinweise auf ein solches bewusstes Experiment.

Mitglieder des Presserats waren sogleich stutzig geworden, weil der inzwischen emeritierte Professor Turina tags darauf den Medien erregt erklärte, der Vorwurf der Zeitung treffe nicht zu; dies verletze in grober Weise seine Unschuldsvermutung. Zwar habe er damals, am Operationstag, einen Telefonanruf morgens um halb vier falsch verstanden, »niemals« würde er aber bewusst ein solches Risiko auf sich nehmen. Hätte er das nicht schon dem Journalisten gegenüber beteuert, wenn er konkret befragt worden wäre?

Der Presserat griff das Thema der richtigen Anhörung von sich aus auf, ohne dass Prof. Turina Beschwerde eingereicht hätte. Immerhin hatte Turina den Journalisten schon vor einiger Zeit wegen Ehrverletzung vor Gericht gezogen – ein Verfahren, das noch läuft. Der Chefredakteur der NZZ am Sonntag weigerte sich jedoch, die Anfrage des Presserats zu beantworten, bevor das Strafverfahren gegen seinen Journalisten »rechtskräftig abgeschlossen« ist. Das heißt: Bevor ein Urteil vorliegt, das nicht mehr an ein höheres Gericht weiterziehbar ist. Bis zum letztinstanzlichen Urteil können jedoch über fünf Jahre vergehen; dann hätte die ethische Fragestellung jede Aktualität eingebüßt. Ohnehin ist kein Richter an einen Presseratsentscheid gebunden, wenn er über Strafen, Bußen oder Schadenersatz/Genugtuung entscheidet. Wedelt der Anwalt vor Gericht mit einem Presseratsentscheid zu seinen Gunsten, wird der Richter dem Text höchstens den niedrigen Stellenwert eines Parteigutachtens zubilligen und auf die freie Beweiswürdigung der Justiz verweisen.

Natürlich irritierte es den Presserat, dass ausgerechnet die renommierte NZZ am Sonntag sich dem Verfahren verweigerte und damit eine genaue Sachabwägung verhinderte. Eine solche Verweigerung seitens Medienschaffender, die sich als Mitglieder der Trägerverbände des Presserats zur Einhaltung des Kodex verpflichtet haben, ist seit Jahren nicht mehr vorgekommen. Das Gremium hielt es für unumgänglich, dennoch einige Pflöcke zur »fairen Befragung« einzuschlagen. Wie muss die Anhörung geschehen, um als fair zu gelten?

Transparente und vollständige Befragung

Der Journalist gab in seinem Artikel mit dem schweren Vorwurf der vorsätzlichen Tötung nur preis, Turina habe ihn an den Staatsanwalt verwiesen. Turina selber beteuerte auf Anfrage des Presserats, er sei vom Journalisten überhaupt nicht mit konkreten Vorwürfen konfrontiert worden. Der Reporter habe ihn bloß gefragt, »ob er inzwischen bereit sei, zum Fall Voser ein Interview zu geben«. Bereits am Erscheinungsdatum der NZZ am Sonntag bekräftigte Turina dies in einer Aktennotiz an seinen Anwalt. »Wäre er transparent und vollständig befragt worden – hätte er den Journalisten der NZZ am Sonntag derart beiläufig ‚abgewimmelt‘ und auf die Chance verzichtet, seine ‚besten Argumente‘ einzubringen«, was er dann einen Tag später im Fernsehen eindrücklich nachholte? Der Presserat meldete »ernsthafte Zweifel« an, sah sich angesichts der dürftigen Indizienlage aber nicht bereit, eine Rüge »in Abwesenheit« auszusprechen.

Die Empfehlung des Presserates in seiner Stellungnahme 44/2006 (www.presserat.ch) ist jedoch klar. Journalistinnen und Journalisten obliegt die Pflicht, Betroffene zu konkreten schweren Vorwürfen anzuhören und den Befund kurz und fair schon in den ersten Artikel einzubauen. Mancher Journalist beruhigt sein Gewissen mit der Vertröstung auf eine spätere Berichtigung oder Gegendarstellung. Das erfüllt die Fairnesspflicht aber nicht – mit der Publikation ist das Unheil ja bereits geschehen.

»Je direkter die Vorwürfe den Betroffenen angreifen, desto nachdrücklicher muss sich der Journalist um eine Äußerung bemühen. (…) Medienschaffende dürfen sich nicht mit einer bloß formellen Kontaktnahme kurz vor der Veröffentlichung begnügen. (…) Bei Verweigerung einer Äußerung empfiehlt es sich, die konkreten Vorwürfe ergänzend schriftlich (E-Mail oder Fax) zu unterbreiten. Ebenso sollte der publizierte Bericht darauf hinweisen, dass der Betroffene mit den zentralen Vorwürfen ausdrücklich konfrontiert worden ist.«

Dies ist eine Konkretisierung der Fairness-Richtlinie 3.8. des Schweizer Presserats. Im revidierten Deutschen Pressekodex samt Richtlinien findet sich keine Entsprechung.

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