Kompetenzverlust

Wirtschaftsjournalismus in der deutschen Tagespresse

Von Volker Wolff

Ist der Wirtschaftjournalismus deutscher Zeitungen und Zeitschriften in den vergangenen 40 Jahren eigentlich einmal aus der Kritik oder – wie seine Kritiker gerne feststellen – aus der Krise herausgekommen? Der erste Eindruck lässt vermuten, dass es sich beim Wirtschaftsjournalismus der Presse um eine Art permanenten Sorgenfall handelt: Genörgelt wird jedenfalls seit der massiven Kritik von Peter Glotz und Wolfgang R. Langenbucher im Jahre 1969 regelmäßig, zuletzt mit Blick auf die eher missglückte Behandlung der zweiten Finanzkrise der Jahre 2007 bis 2009 oder die Ratlosigkeit bei der Bewältigung der Eurokrise.

Der zweite Blick auf das Geschehen macht allerdings deutlich, dass sich seit 1969 im Wirtschaftsjournalismus viel bewegt hat. Die kritisierten Wirtschaftsjournalisten hatten seitdem Erfolgskurven wie Börsenverläufe – mit ausgesprochenen Erfolgsphasen Mitte der 80er Jahre und um die Jahrtausendwende. Dieser zweite Blick offenbart aber auch, dass sich der Wirtschaftsjournalismus im Abschwung des vergangenen Jahrzehnts auf ungünstige Weise ausdifferenziert hat. So muss man heute ernsthaft befürchten, dass sich mit zahlreichen Regional- und Lokalzeitungen ein Großteil des Pressejournalismus aus der seriösen und kompetenten Wirtschafts- und Finanzberichterstattung dauerhaft verabschiedet hat. Der Niedergang der Wirtschaftsberichterstattung in der Fläche scheint unumkehrbar.

Im Einzelnen: Da war zunächst die geharnischte Kritik der beiden Medienwissenschaftler Peter Glotz und Wolfgang R. Langenbucher. Sie trafen 1969 den Nagel auf den Kopf, als sie lakonisch feststellten, dass 64 Prozent der Leser regionaler Abonnementzeitungen die Wirtschaftsteile ihrer Tageszeitungen einfach überblättern. Da es sicher Interesse an Wirtschaftsthemen gebe, müssten, so Glotz und Langenbucher, die Tageszeitungen »bei der Aufgabe, eine moderne Wirtschaftsberichterstattung für den normalen Konsumenten zu machen, versagt« haben. Inhaltsanalysen zeigten die Ausprägungen dieses Versagens:

  • Den wirtschaftlichen Fragen werde in den meisten Zeitungen viel zu wenig Platz eingeräumt.
  • Die Inhalte der Wirtschaftsteile seien auf Syndizi, Börsianer und Aktenbesitzer zugeschnitten.
  • Verbraucherfragen werde deutlich zu wenig Raum eingeräumt.
  • Kein Teil der Zeitung sei journalis­tisch so einfallslos gestaltet wie der Wirtschaftsteil.
  • Die Journalisten bemühten sich nur selten um die Übersetzung des »Wirtschaftschinesisch«.

Die Aufgabe der aktuell-universellen Tageszeitung werde, so Glotz und Langenbucher weiter, damit »total verfehlt«. Das gelte bei den ausschließlich regional oder lokal bezogenen Zeitungen mit aller Schärfe.

Und gut 40 Jahre und diverse Wirtschaftskrisen später? 2012 kann man die Kritik in dieser Form nicht wiederholen: Die Inhalte der Wirtschaftsteile sind ohne jeden Zweifel in Gestaltung und Sprache ansprechender geworden. Und die Verbraucherthemen sind aus den Wirtschaftsteilen der regionalen Abonnementzeitungen nicht mehr wegzudenken. Mehr Platz wird den Wirtschaftsthemen allerdings nicht eingeräumt.

Das allein kann aber nicht der Grund sein, warum sich das Interesse der Leser an den Wirtschaftsteilen trotz aller Bemühungen in den vergangenen Jahrzehnten eigentlich nicht verstärkt hat: Heute überblättern 62 Prozent der Leser ihren Wirtschaftsteil (siehe Tabelle 1), 1969 waren es 64 Prozent.

Dabei interessieren sich die Leser der regionalen Abonnementzeitungen in weit höherem Maße für Wirtschaftsthemen, als es ihr Leseverhalten vermuten lässt (siehe Tabelle 2). Die Differenz von Interessierten und Lesern offenbart das unveränderte Problem des Wirtschaftsjournalismus in Regionalzeitungen: Ein Viertel der Zeitungsleser interessiert sich für Wirtschaftsthemen und ignoriert dennoch den Wirtschaftsteil der Tageszeitung. Das kann etwas mit Enttäuschung zu tun haben. Allen Veränderungen der Blätter zum Trotz.

Tatsächlich hatten die Redaktionen in den 1990er Jahren angefangen, den Leser als Verbraucher zu entdecken und die Themen der Wirtschaftsteile, so wie Glotz und Langenbucher es vorgeschlagen hatten, modifiziert: Anlageaspekte ergänzten die traditionelle Unternehmensberichterstattung, Konsumentenfragen erweiterten das Themenspektrum und die Redaktionen leiteten zunehmend aus Marktentwicklungen auch Empfehlungen für die Leser ab. Die traditionellen Zinsanalysen der Bundesbankbeobachter kamen aus der Mode. Die Richtung stimmte, dennoch ist wohl bei der Themenwende etwas schiefgegangen: Die Redaktionen wirkten mit dem produktorientierten Wirtschaftsjournalismus überfordert, die Berichterstattung fiel besonders hinsichtlich der Finanzprodukte zu unkritisch aus.

Thomas Schuster hat 2001, also am Ende der Dotcom-Blase, das Versagen des Wirtschaftjournalismus angeprangert: Der »neue Wirtschaftsjournalismus« präsentiere sich, so Schuster in »Die Geldfalle. Wie Medien und Banken die Anleger zu Verlierern machen«, als Berater des Privatanlegers. Faktisch sei er jedoch nichts anderes als ein tumber Trendverstärker, trunken vor Hoffnung, inkompetent, unkritisch und so etwas wie ein offener Kanal für jede Art strategischer Kommunikation.

»Tumber Trendverstärker«

Sicher wurde Schusters pauschale Kritik seinerzeit vielen journalistischen Leistungen nicht gerecht. Sie hatte aber einen wahren Kern: Zu viele Wirtschaftsjournalisten hatten im Tanz um das goldene Kalb der Neuen Märkte ihre Distanz zur Unternehmenskommunikation verloren. Sie plapperten zu häufig nach, was ungemein smarte Vorsprecher verkündeten. Und sie feierten Prognosen und Ankündigungen statt tatsächlicher Umsätze und Überschüsse. So verloren die Anleger ihr Geld. Und mit dem Geld verloren sie das Vertrauen in den Wirtschaftsjournalismus. Zahlreiche Anlegermagazine verschwanden vom Markt. Die zum Teil dramatischen Verluste der verbliebenen einschlägigen Magazine bei den tatsächlichen Verkäufen, den Einzelverkäufen und Abonnements ergänzen das Bild vom massiven Vertrauensverlust der Leser.

Melanie Kamann und Irene Neverla wiesen 2007 auf ein weiteres unmittelbar mit der Verbraucherorientierung des Wirtschaftsjournalismus verbundenes Problem hin: Nur wenige Zeitungen verfügten, so die Wissenschaftlerinnen, über ausreichend personelle und finanzielle Ressourcen für eigene Nutzwertartikel. Tatsächlich öffne die Bedienung von Nutzwertthemen ohne ausreichende redaktionelle Ressourcen den PR-Aktivitäten der Finanzdienstleister Tür und Tor. Kamann und Neverla sprachen in diesem Zusammenhang von »PR-Fallen« (Journalistik Journal 2/2007). Frühbrodt formuliert das Problem deutlicher, wenn er darauf hinweist, dass die PR-Abteilungen der Unternehmen den Nutzwertjournalismus als geeignetes Einfallstor für sich entdeckt hätten. Nicht selten böten PR-Agenturen oder freiberufliche Autoren, die sowohl für journalistische Medien als auch für Auftraggeber aus der PR-Branche arbeiteten, »journalistische« Produktvergleiche an (Frühbrodt 2007, S. 15).

Für die Betreuung von Wirtschafts- und Finanzthemen ist die nicht ausreichende Kapazität in den Regionalzeitungen inzwischen wissenschaftlich dokumentiert. Nach einer Untersuchung von Michael Haller, Universität Leipzig, hatte 2007 rund ein Drittel der Regionalzeitungen keinen Wirtschaftsredakteur mit wirtschaftswissenschaftlicher Ausbildung mehr. Durchschnittlich gab es pro Regionalzeitung weniger als vier Wirtschaftsredakteure. Diese verantworteten täglich rund drei Seiten. Hinzu kommen üblicherweise die Kommentierungen, die Beilagen und die Arbeiten für andere Ressorts. Seit dieser Untersuchung ist auch bekannt, dass für Schulungen der Wirtschaftsredakteure in diesen Redaktionen weder Zeit noch Geld zur Verfügung gestellt werden. Hallers Untersuchung offenbarte mit Blick auf die komplexen Finanzthemen wie Geldanlage, Immobilienfinanzierung oder Vorsorge und Versicherungen Erschreckendes: Es gibt in den meisten Wirtschafts-/Finanzressorts der Regionalzeitungen keine fachlich ausgewiesene Betreuung der Finanzthemen mehr. In sieben von zehn Redaktionen kümmere sich, so Michael Haller in seiner Studie, in den Wirtschaftsressorts niemand speziell um den Finanzbereich. Jedes Ressortmitglied befasst sich auch mit den Finanzthemen. Diese Art der Arbeitsteilung entspringe »vielerorts der Not«. Die Mehrheit der von ihm befragten Ressortleiter hatte angegeben, dass die knappen Personaldecken eine Spezialisierung gar nicht zuließen.

Dabei gibt es offenkundig noch Abstufungen: Redaktionen mit Newsdesk-Workflow verfügten über weniger Redaktionsmitglieder mit ausgewiesener Fachkompetenz im Bereich Finanzen/Wirtschaft als jene mit Ressortstruktur. Die Autoren der Studie hielten in diesem Zusammenhang fest, dass bereits die Hälfte der untersuchten Regionalzeitungen die Ressortstrukturen aufgelöst habe. Ein Drittel dieser Redaktionen verzichte innerhalb der Newsdesk-Seitenproduktion ganz auf die Fachkompetenz des Wirtschaftsressorts. Wirtschafts- und Finanzthemen würden hier von Politik- oder Nachrichtenredakteuren betreut. Es ist unübersehbar: Der Wirtschafts- und Finanzjournalismus hat auf der Ebene der Regionalzeitungen ein Kapazitäts- und Kompetenzproblem.

Diese Probleme vieler regionaler Abonnementzeitungen dürften mit dazu beigetragen haben, dass manche Anleger 2007 uninformiert in die Finanzkrise schlitterten. Zu selten war in vielen Wirtschaftsteilen zum Beispiel auf die Risiken von Zertifikaten und ähnlichen Anlageformen hingewiesen worden, zu oft waren auf der Basis von Agentur- oder PR-Material schwer verständliche Anlage-Produkte unkritisch vorgestellt worden. Dass auch die Nachrichtenagenturen vor und in der Finanzkrise journalistisch versagt haben, haben Hans-Jürgen Arlt und Wolfgang Storz 2010 aufgezeigt. Trotz der unzureichenden Kapazität und trotz aller mangelnden Kompetenz halten die verantwortlichen Redakteure der Regionalzeitungen, auch das hat Haller in seiner Studie 2007 aufgezeigt, an der Verbraucherausrichtung der Wirtschaftsberichterstattung fest. Mehr noch: Sie sähen die Hauptfunktion des Wirtschaftsteils darin, »Service und Nutzwert« zu bieten. An zweiter Stelle rangiere für sie die Aufgabe »Hintergründe aufzuzeigen«. Erst an dritter Stelle, so Haller in seiner Untersuchung, komme der Anspruch der »Faktenvermittlung«.

Und trotz unzureichender Fachkompetenz gebe jede zweite Zeitung ihren Lesern weiter Börsentipps. Von diesen Blättern beziehe jedes zweite seine Empfehlungen von externen Tippgebern. Dabei wissen die Blattmacher um die Distanz- und Unabhängigkeitsprobleme ihrer Redaktion: Nur 40 Prozent von ihnen waren in Hallers Befragung der Ansicht, dass noch aus »unabhängiger Sicht« berichtet werde.

Zu oft PR-Material

Das von Frühbrodt, Kamann und Neverla für die Nutzwertausrichtung des Wirtschaftsjournalismus diagnostizierte PR-Problem, die PR-Falle, ist erkennbar real und den verantwortlichen Redakteuren bekannt. Das Problem hat sich vermutlich seit 2007 aufgrund weiterer Sparmaßnahmen in den Redaktionen und der intensivierten PR-Aktivität der Wirtschaftsunternehmen verschärft. Kostensenkungen, Kompetenzverlust und Serviceorientierung einerseits sowie intensivere PR-Arbeit andererseits – offenbar hat sich eine Gefahr konkretisiert, die Stefan Ruß-Mohl bereits 1996 angedeutet hatte. Ruß-Mohl hatte seinerzeit von einem spiralförmigen Auf- und Abrüstungsprozess gesprochen, der durch den Ausbau der Öffentlichkeitsarbeit in Gang kommen kann, wenn gleichzeitig die journalistischen Kapazitäten in den Redaktionen abgebaut werden: Bei fortschreitender Kommerzialisierung der Medien und bei hohem Konkurrenzdruck sei die Versuchung für Medienmanager groß, in dem Maße Redaktionsetats zu kürzen und Redakteursstellen einzusparen, wie die Öffentlichkeitsarbeit die Redaktionen mit immer mehr mediengerecht aufbereitetem Gratismaterial versorge.

In der Tat: Viele Zeitungen und Zeitschriften verwenden heute selbst auf besonderen Serviceseiten-Seiten für Verbraucher PR-Material. Ratgeberartikel verlieren aber für die Verbraucher ihren Nutzen, wenn die Einseitigkeit der Öffentlichkeitsarbeiter nicht bereinigt wird. Und Fehlentscheidungen, die durch schlechte Medieninformationen ausgelöst wurden, führen zu einem nachhaltigen Vertrauensverlust der Medien. Dies hat das Schicksal einiger Anlegermagazine nach Ende der Dotcom-Blase eindrucksvoll illustriert.

Wenn Redaktionen PR-Aktivitäten von Wirtschaftsunternehmen nicht kontrollieren und eindämmen, hat dies eine Täuschung der Leser und im Extremfall Schleichwerbung zur Folge. Auch deren Ausbreitung ist längst messbar. Beim Deutschen Presserat fiel das Problem erstmals 2002 durch eine hohe Anzahl einschlägiger Beschwerden auf. Danach stieg die Zahl der Eingaben und Beschwerden so schnell, dass das Gremium in den Jahren nach 2005 immer wieder das Thema Schleichwerbung in den Vordergrund seiner Berichte und Pressemeldungen stellte und andere Felder journalistischen Versagens in den Hintergrund setzte.

2009 sah sich der Deutsche Presserat dann veranlasst, einen Leitfaden für Journalisten zu Ziffer 7 des Pressekodex, der Trennung von Werbung und Redaktion, zu veröffentlichen. Die Spruchpraxis des Deutschen Presserates zu Ziffer 7 habe in den vergangenen Jahren sukzessive an Bedeutung gewonnen, teilte der Presserat bei der Vorstellung seines 52-seitigen »Praxis-Leitfaden Ziffer 7« mit.

Die Datenbank des Presserates offenbart die gängigen Erscheinungsformen des Zusammentreffens von PR-Arbeit der Unternehmen und Inkompetenz der Redaktionen auf den Feldern der Unternehmens- oder Produktberichterstattung. Das sind zum Beispiel von den Redaktionen verwendete Anbieterfotos mit plumper Produktpräsentation oder Artikel, die schlicht die Werbesprache der PR-Texter übernehmen und jede Art von professioneller Distanz vermissen lassen. Beispiele dazu müssen nicht präsentiert werden, sie sind dem Zeitungsleser hinreichend präsent. Alle diese Fälle eint eines: Sie ließen sich mit etwas genauerem Lesen des Pressekodex und gewachsenem Problembewusstsein leicht in den Griff bekommen. Dass sie dennoch immer wieder beim Presserat aktenkundig werden, offenbart auch Führungsprobleme in den Redaktionen, für die erfahrene Ressortleiter von Wirtschaftsressorts in Regionalzeitungen gerne die Newsdesk-Organisation verantwortlich machen. Hallers Studie lässt diese Schuldzuweisung plausibel erscheinen.

Der Fundus des Presserats offenbart allerdings nicht die für die Rezipienten viel gefährlichere Variante nur scheinbar journalistischer Angebotsvergleiche von Finanzdienstleistern. Das sind journalistische Beiträge zum Beispiel zu Bausparverträgen, Bankdienstleistungen oder Versicherungspolicen, die von PR-Agenturen oder freien Journalisten den Redaktionen angedient werden und die eines gemeinsam haben: Bei diesen Vergleichen haben die Anbieter selbst die Feder geführt. Es sind genau die Servicestücke, auf die Frühbrodt 2007 sehr kritisch hingewiesen hatte. Vergleiche dieser Art können Externe nur schwer als Täuschung erkennen. Sie führen deshalb in der Regel auch nicht zu Eingaben beim Presserat.

Da derlei Vergleiche inzwischen mehr als Einzelfälle darstellen, hier ein Versicherungsvergleich einer renommierten Sonntagszeitung aus dem Jahre 2011, der hinreichende Anhaltspunkte für den Verdacht übergroßer Anbieternähe mit eingebauter Täuschung der Leser bietet. (siehe S. 67, Abbildung Welt am Sonntag)

Die Vergleichstabelle, die das zentrale Element eines umfangreichen und gut aufgemachten Serviceartikels bildete, zeigt, warum der Artikel kaum hilfreich für die Leser sein dürfte. Der Vergleich passt mit seinen Eckdaten schlicht nicht zum Profil der Leser von Sonntagszeitungen: Der Versicherungsnehmer ist zu jung, die Vergleichsorte Fulda und Augsburg sind kaum repräsentativ, die Versicherungssumme ist viel zu klein. Der Verdacht liegt nahe, dass hier ein Vergleich mit einer bestimmten – eben völlig unpassenden – Konstellation gerechnet werden musste, um eine bestimmte Rangfolge zu ermitteln.

Eine Übersicht der Stiftung Warentest zu den Vertragsangeboten in der Hausratversicherung (Finanztest 5/12 S. 43 ff.) zeigt schnell, dass eine ganze Reihe relevanter Anbieter im Vergleich der Sonntagszeitung fehlen und dass für die Zielgruppe der Leser von Sonntagszeitungen andere Anbieter als besonders günstig anzusehen sind. Auf der anderen Seite ist die CosmosDirekt, die in den Tabellen der Sonntagszeitung zwei Mal als bester Versicherer ausgewiesen wird, in den neun Tabellen der Stiftung Warentest mit den jeweils zehn günstigsten Anbietern für bestimmte Zielgruppen und Regionen nicht ein einziges Mal vertreten. So etwas bemerkt ein kundiger Redakteur. Und so etwas übersieht ein unkundiger.

An diesem Beispiel lässt sich das eigentliche Problem des vergleichenden Wirtschaft- und Finanzjournalismus gut verdeutlichen: Werden Versicherungsangebote heute im Sinne der Anforderungen an seriöse journalistische Produktvergleiche richtig, also vollständig, sachlich, unabhängig und methodisch sauber erstellt, braucht ein Journalist dafür viele Wochen. Nicht alle Versicherer beantworten eine Anfrage sofort, manche lassen sich mehrfach bitten, manche beantworten sie nie, manche anders als gefragt. Kurzum, jeder Vergleich dieser Art ist ein aufwändiges Hin und Her. Dieses Hin und Her kostet so viel Geld, dass bei korrekter Kalkulation ein Journalist für Vergleiche dieser Art Tausende von Euros bekommen müsste, wollte er auf seine Kosten kommen. Derlei Honorare können einzelne Zeitungsredaktion nicht bezahlen. Wenn solche Vergleiche trotzdem von freien Journalisten den Redaktionen exklusiv angeboten werden, ist davon auszugehen, dass die Vergleiche von dritter Seite honoriert oder erstellt wurden. Auch das wissen kundige Redakteure.

Vergleiche sind zu teuer

Dieser Zusammenhang gilt nicht nur für Versicherungsvergleiche. Er gilt auch für andere Finanzdienstleis­tungen. Er gilt für Leasingverträge, Bausparverträge, Anlageprodukte oder Riesterverträge. Alle diese Finanzdienstleistungen kann heute kein freier Journalist mehr marktweit selbstständig vergleichen und zu üblichen Honoraren einer einzelnen Zeitung exklusiv anbieten. Jedenfalls nicht berufsmäßig und unter Erwerbsaspekten.

Bietet er dennoch diese Vergleiche einer Redaktion exklusiv an und basieren seine Beiträge nicht auf bereits publizierten Untersuchungen der Stiftung Warentest, hat vermutlich ein Unternehmen seine Finger im Spiel. Verwendet die Redaktion dann diese Vergleiche, riskiert sie die Täuschung ihrer Leser.

Das heißt nun aber nicht, dass den Wirtschaftsredaktionen der Weg zum Service in Form relevanter Marktvergleiche versperrt ist. Im Gegenteil: Es gibt spezialisierte Autoren und Redaktionsbüros, die durch flächendeckenden Vertrieb ihrer Artikel und entsprechende Mehrfachverwertung auf ihre Kosten kommen, und es gibt die Stiftung Warentest, die Redaktionen den Nachdruck ihrer Vergleiche ermöglicht. Gegen eine Gebühr, versteht sich. Dies gilt auch für Finanzdienstleistungen. Die Gebühr ist ihr Geld wert, da die Stiftung Warentest streng auf die Validität ihrer Vergleiche achtet.

Wie verbrauchernahe Servicethemen in einer Tageszeitung umfassend und preiswürdig behandelt werden, zeigt der Kölner Stadtanzeiger mit seinem 16-seitigen Magazin, einer täglichen Redaktionsbeilage im Tabloidformat. Die Redaktion hat für ihre Servicestücke und nicht zuletzt für die jederzeit erkennbare Beachtung der Grenze zur Schleichwerbung in den vergangenen Jahren zu Recht zahlreiche Preise erhalten. Ihr Ansatz zeigt, wie professionell mit Servicefragen umgegangen werden kann. Dass ihre Themen dabei Verbraucherthemen im weitesten Sinn sind und von Gesundheit über Gartenpflege bis hin zu Produkttests alle denkbaren Fragen auch außerhalb der Themen des Wirtschaftsjournalismus umfassen, heißt nicht, dass nicht auch Wirtschaftsredaktionen von der Professionalität und der Distanz der Kölner Redaktion profitieren können. Bei Produktvergleichen arbeitet das Magazin erkennbar mit der Stiftung Warentest zusammen.

Enge redaktionelle Kapazität, wenig Fachkompetenz in Wirtschafts- und Finanzfragen, häufig zu geringe professionelle Distanz, PR-durchsetzte Stücke als Serviceangebot – viele Regionalzeitungen fallen heute als Anbieter relevanter Wirtschaftsinformationen jenseits schlichter Agenturbeiträge aus. Sie überlassen ihre Leser auf diesem Feld sich selbst oder den überregionalen Zeitungen und Zeitschriften und reduzieren sich auf die Lieferanten lokaler aber nicht-ökonomischer Qualitätsinformationen.

Viele Regionalzeitungen, nicht alle. Mit Blick auf die Gesamtheit der Regionalzeitungen ist diese Aussage zu differenzieren: Ronny Gert Bürckholdt zeigte erst kürzlich in einer Längsschnittanalyse, dass der Münchner Merkur, die Stuttgarter Nachrichten und der Kölner Stadtanzeiger, also drei der großen und renommierten Regionalzeitungen, die qualitative und quantitative Hinwendung ihrer Wirtschaftsteile zu den Servicethemen ohne erkennbare Verluste an Glaubwürdigkeit erreicht haben (Message 2/12). Die verantwortlichen Ressortleiter, von Bürckholdt dazu befragt, wussten um die PR-Anfälligkeit des Servicejournalismus im Allgemeinen. Sie hatten sich erkennbar darauf eingestellt. Alle drei Redaktionen sind in ihren Wirtschaftsressorts allerdings auch personell besser ausgestattet als die Mehrheit der Regionalzeitungen.

Das Versicherungsbeispiel aus der Sonntagszeitung zeigt aber auch, dass selbst große Wirtschaftsredaktionen, die Redaktionen überregionaler Zeitungen eingeschlossen, von der PR-Falle bedroht sind. Sie sind zudem in größerem Umfang als die Mehrheit der Regionalpresse Objekt konkreter Informationssteuerung durch große Wirtschaftsunternehmen geworden. Viele Konzerne, in der Regel Dax-Konzerne, haben mit Blick auf die Berichterstattung über sich und ihre Branchen inzwischen ein weitgespanntes, höchst professionelles Kontroll- und Steuerungssystem implementiert. Dieses System reicht zum Beispiel von der bis auf einzelne Journalisten heruntergebrochenen Analyse der Berichterstattung bis hin zur Steuerung von Erwartungen der Finanzmarktakteure durch gezieltes Platzieren von Informationen bei relevanten Medien. Es umfasst auch die Kontrolle der ergriffenen Maßnahmen. Wirtschaftsberichterstattung rückt heute aus Sicht der so agierenden Konzerne in die Nähe eines steuerbaren Kommunikationsinstrumentes mit anschließender Kosten-/Nutzenanalyse. Auch das ist ein Element der von Stephan Ruß-Mohl beschriebenen Aufrüstungs- und Abrüstungsspirale.

Noch aber erfüllen nach Ansicht von Beobachtern die überregionalen Zeitungen ihre Rolle als kompetente Lieferanten von Wirtschaftsinformation.

Hans-Jürgen Arlt und Wolfgang Storz, die nach der Krise von 2007 bis 2009 die Berichterstattung des tagesaktuellen deutschen Wirtschaftsjournalismus analysiert haben, bescheinigen den fünf überregionalen Blättern Frankfurter Allgemeine Zeitung, Financial Times Deutschland, Handelsblatt, Süddeutsche Zeitung und Die Tageszeitung, »im Krisenverlauf Sachkompetenz und kritische Distanz« aufgebaut zu haben. Zudem zeigen die dokumentierten Gespräche der Autoren mit den verantwortlichen Redakteuren dieser Blätter deutlich, welche Fehler die Redaktionen in ihrer Berichterstattung ausgemacht haben und wie sie die Fehler beseitigen wollen. Marc Beise, Ressortleiter Wirtschaft der Süddeutsche Zeitung, und Gerald Braunberger, Verantwortlicher Finanzmarkt-Redakteur der Frankfurter Allgemeine Zeitung, sprechen Probleme und Lösungsansätze offen an:

SZ-Ressortleiter Beise bezeichnet den anfänglichen Umgang mit der Krise als »Versagen«, ist sich jedoch sicher, dass inzwischen eine Verbesserung eingetreten sei: »Wir haben jetzt in vielen Blättern und auch in den elektronischen und weiteren Medien eine intensive Berichterstattung und Diskussion über das, was da passiert ist und warum. Dieser Auftrag aufzuklären, der wird jetzt erfüllt.« Beise weist auf den Aktualitätsdruck hin, der sich selbst bei einer überregionalen und wirtschaftlich starken Tageszeitung auf die Arbeit auswirke: »Wir […] haben viel zu wenig Zeit über Themen nachzudenken, über die wir schreiben, und das sollte auch eine Lehre aus der Krise sein. Die Aktualität treibt uns vor sich her. Das kann es doch nicht sein. Mehr Zeit zum Nachdenken, ja, das ist eine wichtige Konsequenz.«

FAZ-Redakteur Braunberger beurteilt die Krisen-Berichterstattung der überregionalen Printmedien positiver als die des Fernsehens und der Regionalzeitungen, merkt jedoch kritisch an: »Aber auch wir haben Dinge nicht gesehen, die wir hätten sehen müssen. Ein Beispiel: Es ist doch offensichtlich, dass die Anreizstrukturen bei diesen Rating-Agenturen komplett falsch sind.« Für die Zukunft halte er es für wichtig, einerseits intensiver zu berichten, also noch näher am Geschehen zu sein, und andererseits inhaltlich mehr auf Distanz zu gehen. »Wenn mir einer erklären kann, wie das geht, ich nehme jeden Rat gerne an. Was hilft, ist eine in jeder Hinsicht unideologischere Sichtweise. Die ist mittlerweile da, das ist eine der guten Folgen dieser Krise. Wir müssen ferner beherzigen, dass viele unserer Gesprächspartner eigentlich nicht so viel wissen, wie wir denken. Und wir müssen wenigstens immer wieder uns außerhalb des Systems stellen, damit wir die Orientierung nicht verlieren.«

Claudia Mast, Kommunikationswissenschaftlerin der Universität Hohenheim, bestätigte 2011 die herausgehobene Rolle der Frankfurter Allgemeine Zeitung und der Süddeutsche Zeitung in der Tagespresse als Informationsquelle für Wirtschaftsthemen in der breiten Bevölkerung und bei Entscheidern. Ihre repräsentative Umfrage aus dem Frühjahr 2011 zeigte: »Das Interesse der Bevölkerung an Wirtschaftsthemen ist so groß wie nie. Rund 85 Prozent interessieren sich (sehr) stark für Wirtschaftsthemen und hegen große Erwartungen an den aktiv operierenden Journalismus. Er soll ihnen die großen Zusammenhänge aufzeigen und auch den Schleier wegziehen, der sich wie Mehltau über die verwirrende PR-Rhetorik der Politiker gelegt hat. Retten die sog. ‚Rettungspakete’ wirklich?« (Wirtschaftsjournalist 04/2011).

»Mehr Zeit zum Nachdenken« und »immer wieder außerhalb des Systems stellen« – die guten Vorsätze der Ressortleiter der beiden Leitmedien passen zu den Wünschen der Rezipienten, so wie sie von Claudia Mast erhoben wurden: »Mehr wissen will die Bevölkerung vor allem zu den gesellschaftspolitischen Auswirkungen unternehmerischer Aktivitäten, weniger aber zu der früher ausufernden Berichterstattung über Quartalszahlen, Unternehmensstrategien und geschäftspolitische Konzepte.« Notwendig sei, so Mast, eine »EntBWLisierung« des Wirtschaftsjournalismus und die Sicht auf die volkswirtschaftlichen Kosten einer von Unternehmen geforderten Entscheidung. Das sei die neue »Nachhaltigkeit« des Wirtschaftsjournalismus, damit, so Mast, »nach zwei zu spät bemerkten Krisen wenigstens die dritte rechtzeitig erkannt wird«.

Ein Fazit: »Den« Wirtschaftsjournalismus der Tagespresse gibt es nicht mehr. Das Angebot an journalistischen Informationen zu Wirtschaft- und Finanzfragen hat sich in das der überregionalen Abonnementzeitungen und großen Regionalzeitungen einerseits und das der Mehrheit der lokalen und regionalen Abonnementzeitungen andererseits gespalten. Die Regionalpresse ist zwar immer noch für die Information von rund 32 Millionen Rezipienten verantwortlich, ihre Leser werden aber in Wirtschafts- und Finanzfragen zunehmend allein gelassen, weil die Wirtschafts- und Finanzkompetenz der Redaktionen gering ist. Dies gilt besonders für Redaktionen mit Newsdesk-Workflow.

Leser werden zunehmend allein gelassen

Redakteure dieser Zeitungen haben in der Regel weder die Zeit noch die fachliche Kompetenz, sorgfältig recherchierte Servicestücke beispielsweise zu Finanzthemen zu erstellen. Und es fehlt ihnen ebenso an Zeit und fachlicher Kompetenz, um die von Anbietern über PR-Agenturen und freie Journalisten gesteuerten Stücke zu diesen Themen auszusieben. Deshalb ist heute vieles, was in den Regionalzeitungen als Service zu Finanzthemen veröffentlicht wird, qualitativ als nicht mehr ausreichend zu bewerten. Es ist nicht erkennbar, dass dieser Entwicklung nachhaltig entgegengesteuert wird.

Die überregionalen Abonnementzeitungen erlangen vor diesem Hintergrund eine immer größere Bedeutung als Träger von Wirtschafts- und Finanzinformationen. Sie gelten in der Breite der Bevölkerung und bei Entscheidungsträgern als wichtigste Medien der Tagespresse in Wirtschaftsfragen. Allerdings wünschen sich die Rezipienten ein Mehr an Hintergrundinformationen zu den gesellschaftlichen Auswirkungen unternehmerischer Entscheidungen.

Literatur:

  • Arlt, Hans-Jürgen und Storz, Wolfgang (2010): Wirtschafts­journalismus in der Krise. Zum massenmedialen Umgang mit Finanzmarktpolitik. Eine Studie der Otto Brenner Stiftung. Frankfurt 2010.
  • Bürckholdt, Ronny Gert (2012): Als Ratgeber gut zu gebrauchen. In: Message 2/12, S. 86-89.
  • Frühbrodt, Lutz, (2007): Wirtschafts-Jour­nalismus. Ein Handbuch für Ausbildung und Praxis. Berlin.
  • Haller, Michael (2007): Finanz- und Wirt­schafts­journalismus, Lehrstuhl I für Journalistik an der Universität Leipzig.
  • Glotz, Peter und Langenbucher, Wolfgang R. (1969): Der missachtete Leser. Zur Kritik der deutschen Presse. Köln, Berlin.
  • Kamann, Melanie und Neverla, Irene (2007): Ratgeber Tageszeitung. Journalistik Journal 2/2007, S. 9.
  • Mast, Claudia (2011): Den Nutzern fehlt der Blick aufs Ganze. In: Wirtschaftsjournalist 04/2011, S. 29-31.
  • Ruß-Mohl, Stefan (1996): Öffentlichkeitsarbeit ante portas. In: Langenbucher, Wolfgang; Dorer, Johanna und Lojka, Klaus (Hrsg.): Öffentlichkeitsarbeit. Theoretische Ansätze, empirische Befunde und Berufspraxis der Public Relations, 2. Aufl. Wien, S. 193-196.

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