Kein Kuscheljournalismus

Vor eineinhalb Jahren startete Hamburg Mittendrin als Studentenprojekt, heute kooperiert die Redaktion mit großen Medienhäusern und bleibt trotzdem unabhängig. Geholfen hat dabei ausgerechnet das Hamburger »Gefahrengebiet«. Eine Redakteurin zieht Bilanz.

von Annika Lasarzik

Rund 300.000 Menschen leben im Bezirk Hamburg-Mitte, das Gebiet umfasst wichtige touristische Knotenpunkte ebenso wie stadtpolitische Spannungsfelder. Städte dieser Größenordnung haben in der Regel eine eigene Lokalzeitung. Nicht so in Hamburg: Für die Lokalseiten der etablierten Printmedien wie Hamburger Abendblatt und Hamburger Morgenpost erscheinen die kleinen Geschichten aus dem Bezirk uninteressant. Was also tun? Die Antwort ist simpel: selbermachen. Auf eigenes Risiko. Komplett digital, ohne gro-ßen Verlag ein eigenes Medium gründen.

Zugegeben, als Hamburg Mittendrin im Herbst 2012 an den Start ging, war es ein tollkühnes und naives Projekt. Wir waren ein kleines Team, eine Handvoll junger Leute, die ihre reguläre Arbeit oder das Studium nun mit dem Alltag des Nachrichtengeschäfts vereinbaren mussten. Und mit dem Schreiben ist es eben nicht getan: Termine besetzen, Texte redigieren, die Website verwalten, in der Bezirkspolitik vorstellig werden, Visitenkarten verteilen – all das kostet viel Zeit und tägliches Engagement. Doch nur sporadisch etwas schreiben kam für uns nicht in Frage. Von Anfang an setzten wir uns das Ziel, mehrere Beiträge pro Tag zu produzieren und auch auf tagesaktuelles Geschehen schnell zu reagieren.

Distanz trotz Nähe

Die Reaktionen auf unsere Arbeit fielen ganz unterschiedlich aus: Während etwa kleine Stadtteilinitiativen sich über das plötzliche mediale Interesse freuten, trafen wir auch auf Ablehnung und Zweifel an der Seriosität unseres Online-Magazins. Den Vorbehalten entgegenwirken konnten wir, indem wir bewusst nie als »Lokalblogger« auftraten – sondern als Journalisten, die sich publizistischen Qualitätsstandards verpflichtet fühlen und Wert auf eine ausgewogene Berichterstattung legen. Meistens gehen wir gerade dorthin, wo andere Medienvertreter sich nur noch selten blicken lassen. Tatsächlich besuchen wir so gut wie jeden politischen Ausschuss und jede Bürgerversammlung im Bezirk Hamburg-Mitte. Diese langen Abendtermine sind oft zeitaufwändig und müßig, allerdings auch einer der wichtigsten Bestandteile unserer Arbeit. Dort erfahren wir unmittelbar von bezirkspolitischen Beschlüssen, halten den Kontakt zu Informanten und bekommen ein Gespür für den politischen Diskurs.

Heute profitieren wir von dem umfassenden Netzwerk, das wir seit der Gründung des Magazins aufgebaut haben. Oft machen uns Leser auf Geschichten aufmerksam und übermitteln uns auch vertrauliche Informationen – die Hemmschwelle der Kontaktaufnahme ist offenbar geringer ist als bei den großen, etablierten Medien. Dieser intensive Austausch ist uns wichtig, doch wir achten darauf, keine zu große Nähe aufkommen zu lassen: Gerade dem Klischee des elitennahen »Kuscheljournalismus« im Lokalen wollen wir bewusst entgegenwirken und als kritische, unabhängige Stimme wahrgenommen werden. Eine Plattform für klassischen Bürgerjournalismus bieten wir übrigens nicht. Wir legen Wert auf eine journalistische Einordnung und Gewichtung der Themen, daher wird der Inhalt ausschließlich von den Redakteuren selbst produziert.

Journalist auf Knopfdruck

Derzeit erleben wir täglich neu, welche experimentellen Spielräume das Digitale für die lokale Berichterstattung bietet. Dass wir keinen festen Redaktionsschluss haben, erweist sich als Vorteil: Wir können auch auf Unvorhergesehenes schnell reagieren. Knappe Eilmeldungen werden durch neue Informationen ergänzt und schließlich zu ausführlichen Hintergrundartikeln ausgebaut. Durch die Verlinkung auf Quellen oder Beiträge aus dem Archiv werden unsere Leser noch umfassender informiert. Unsere Videoredakteure ergänzen die Artikel durch Filmbeiträge – etwa um den Lesern einen direkten Eindruck von politischen Diskussionsrunden zu vermitteln. Auf thematischen Sonderseiten bündeln wir alle Informationen zu einem Thema und integrieren darin auch Nachrichten und Kommentare aus sozialen Netzwerken. Darüber hinaus stellen wir jeden Tag einen Audiopodcast mit einem Nachrichtenüberblick online.

Die Nutzung von Facebook, Twitter und Co. ist für uns ohnehin eine Selbstverständlichkeit: Nur mit einem Smartphone ausgestattet, begleiteten wir etwa die Demonstrationen und Proteste gegen die Politik des Hamburger Senats im Winter 2013/14. Der Redakteur twittert, was er hört und sieht – und wenn sich das Geschehen ausweitet und an Brisanz gewinnt, schalten wir spontan auf einen Live-Ticker um. Auf diese Weise haben wir auch im Januar aus dem Hamburger »Gefahrengebiet« berichtet und waren selbst überrascht, welch große Aufmerksamkeit unserem kleinen Magazin plötzlich zuteil wurde.

Insbesondere die Nutzung der App »Call a Journalist«, mit der Leser einen Redakteur per Knopfdruck über das Smartphone dahin rufen können, wo etwas passiert, sorgte für Aufsehen. Dabei ist die Idee simpel und entspricht eben unserem Verständnis von gutem Lokaljournalismus: vor Ort sein, den Kontakt zu den Lesern halten und die eigene Arbeit transparent gestalten.

Professioneller werden

In den vergangenen Monaten sind unsere Leserzahlen rasant gestiegen, bis zu 4.000 Menschen informieren sich täglich auf unserer Seite. Nun wollen wir das Magazin noch professioneller gestalten, dazu zählen etwa eine klare Redaktionshierarchie und die Einteilung in thematische Ressorts. Das Team ist auf über 20 Redakteure angewachsen, die wir intern fortbilden lassen durch Schreibseminare, Video-Workshops und Programmier-Schulungen. In Zukunft werden wir auch nicht mehr am heimischen Schreibtisch arbeiten: Im Mai beziehen wir eigene Redaktionsräume, womit sich die interne Zusammenarbeit und die Präsenz im Bezirk noch einmal anders gestalten wird.

Zehn Cent statt Paywall

Doch das alles geht nicht ohne eine solide Finanzierung. Zwar erhalten die Mittendrin-Redakteure Honorare, doch leben können wir von dem Projekt nicht. Wir kooperieren bereits seit über einem Jahr mit der Taz Nord in Hamburg, die Artikel von uns übernimmt und vergütet. Die Sicherstellung einer fairen Entlohnung ist unser langfristiges Ziel.
Einen weiteren Kooperationspartner haben wir in Zeit Online gefunden: Ab April schreiben wir für den neuen Hamburg-Lokalteil der großen Wochenzeitung und bringen unseren eigenen Redaktionsblog auf der Seite des Zeit-Verlags an den Start. Auch die Fördermöglichkeiten durch Medienstiftungen, Crowdfunding sowie die Akquise von Werbekunden sind Instrumente, die Mittendrin ausprobieren will. Von einer Paywall auf unserer Seite halten wir grundsätzlich nichts. Doch nutzen einige Leser bereits die Option eines monatlichen »Soli-Abos«. Im Februar haben wir unsere Kampagne »Zehn Cent sind drin« gestartet – zehn Cent pro Tag nehmen wir dabei als Richtwert, die Leser können die Höhe des zu überweisenden Betrags jedoch selbst wählen. Auch für einzelne Artikel bieten wir eine freiwillige Zahlungsmöglichkeit an.

Wir werden oft gefragt, wo wir uns in ein oder zwei Jahren sehen. Sicher beantworten kann ich diese Frage nicht. Doch so anstrengend und zeitraubend die Arbeit für Mittendrin auch oft sein mag: Die positive Resonanz der vergangenen Monate stimmt zuversichtlich und bestärkt uns darin, an dem Projekt festzuhalten. Aus einer naiven Idee ist auch ganz ohne Verlagsapparat und üppige Ressourcen eine wichtige publizistische Stimme im Bezirk Hamburg-Mitte geworden.

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