»Das Volk hört nicht hin«

Über den Stand der Europa-Berichterstattung in Frankreich, der Schweiz und den Ländern Skandinaviens berichteten auf der ­Message-Tagung internationale Journalismus-Forscher.

dokumentiert von Markus Beus, Janis Dietz, Janette Höfer, Martin Maibücher und Lina Maisel

»The world ends in Paris« – in Paris endet die Welt, so beschreibt Mark Lee Hunter das Weltbild französischer Journalisten. Der gebürtige Amerikaner, der auch Mitglied im Beirat von Message ist, lebt seit rund 30 Jahren in Paris und forscht an der INSEAD Business School zu journalistischen Themen. Regelmäßig hat er mit dem Desinteresse der französischen Reporter an außenpolitischen und europäischen Themen zu tun. Hunter war 2003 Gründungsmitglied des Global Investigative Networks, einem internationalen Zusammenschluss von investigativen Journalisten, dem auch das deutsche Netzwerk Recherche angehört. Zu den Treffen, so erzählt er, seien im Laufe der letzten Jahre nur drei Franzosen gekommen – trotz wiederholter Einladungen. »Es ist, als ob es nicht in Paris ankommen würde«, fügt er hinzu.

Und wenn die Medien nicht über wichtige Themen berichten, schwinde das Vertrauen der Rezipienten: »Die Mainstream-Medien haben ihr Monopol verloren«. Stattdessen gebe es in Frankreich eine »neu entstehende und noch wachsende Medienform«. Medien, die nicht objektiv berichten, sondern eigene Ziele verfolgen: die Stakeholder-Medien. Stake­holder sind alle Personen, deren Interessen von unternehmerischen Tätigkeiten betroffen sind. Stakeholder-Medien vertreten Hunters Definition zufolge die Interessen einer Gruppe. Dieses Interesse kann sowohl ökonomisch als auch politisch sein. Beispiele sind nach Hunter die Social-Media-Auftritte von Greenpeace, Attac und anderen Nichtregierungsorganisationen, aber auch die Selbstdarstellung von Unternehmen und Parteien.

Der Vertrauensverlust der Medien hat nach Ansicht von Mark Lee Hunter vor allem zwei Ursachen: Die Pariser Hauptstadtjournalisten würden zu selbstreferenziell agieren und sich zu wenig mit ihren Lesern austauschen. Außerdem gebe es, so der Forscher, in Frankreich eine sehr starke Medienkonzentration in den Händen weniger Wirtschaftsbosse. Zum Beispiel den Lagardère-Media-Konzern, der fast die Hälfte der französischen Medien kontrolliert, oder die Bouygues-Unternehmensgruppe, die die TF1 Fernsehgruppe besitzt. Diese Medien, sagt Hunter, würden vielfach mit politischen Entscheidungsträgern zusammenarbeiten, auf die sie auch finanziell angewiesen seien.

Ein anderes Beispiel für die Verstrickung zwischen Politik und Medien ist die französische Presseagentur AFP. Diese finanziert sich zu rund 40 Prozent aus staatlichen Fördergeldern. Das führe automatisch zu einer Abhängigkeit, argumentiert Hunter: »Ich habe in den vergangenen 30 Jahren keine investigative Recherche der AFP gegen die französische Regierung erlebt«. Insgesamt erhalten französische Medien

1,2 Milliarden Euro pro Jahr aus verschiedenen staatlichen Fördertöpfen. Die Regierung ist in Frankreichs Medienlandschaft traditionell ein wichtiger Werbekunde.

Europa-Skepsis herrsche in einem großen Teil Skandinaviens, so Henrik Kaufholz, Chef vom Dienst bei der dänischen Tageszeitung Politiken und Beiratsmitglied von Message. Die Dänen und Schweden wollen den Euro nicht, die Norweger lehnen beharrlich eine Unionsmitgliedschaft ab. Dabei sei Europa nicht erst seit dem Ausbruch der Euro-Krise ein wichtiges Thema in den skandinavischen Medien. Ob Beitrittsverhandlungen, EU-Verfassung oder europaweite Gesetze: Aktuelle Entwicklungen in der Europäischen Union werden stets medial verarbeitet.

»Zu sehr nationale Perspektive« Henrik Kaufholz

Die Meinung der Bürger zum Thema Europa scheinen diese Berichte jedoch nicht zu beeinflussen, zumindest nicht in Dänemark. Nach mehr als vierzig Jahren im Geschäft ist sich Kaufholz sicher: »Es ist ganz egal, was wir über Europa schreiben. Das Volk hört nicht hin.« Es mangele nicht an der Anzahl, sondern an der Überzeugungskraft der Medienberichte über Europa. Diese eigene Erfahrung sieht der dänische Journalist durch Studien der Amsterdam School of Communication Research bestätigt. Deren wissenschaftlicher Direktor Claes de Vreese führte gemeinsam mit anderen Forschern Untersuchungen zur Verarbeitung von Europathemen in europäischen Medien durch. So hätten sich bei der EU-Wahl von 1999 zehn Prozent aller Meldungen der großen Fernsehnachrichten um dieses Thema gedreht. Fünf Jahre später seien es sogar ein Fünftel aller Nachrichten gewesen. Dabei sei die Auseinandersetzung mit der EU-Politik oft ein Anstoß zur Debatte innenpolitischer Themen. Dort liegt nach Ansicht von Kaufholz das Problem: »Die EU ist ein großes mediales Thema in Dänemark. Aber es wird zu sehr aus einer nationalen Perspektive berichtet.« Dass Meinungen nur sehr schwer zu beeinflussen sind, könne man auch in den Nachbarländern Dänemarks beobachten. So zum Beispiel in Norwegen, wo Medien und Eliten seit vielen Jahren gute Stimmung für Europa machen würden. Gebracht habe das wenig, so Kaufholz. Sowohl 1972 als auch 1994 lehnten die Norweger per Volksabstimmungen einen EU-Beitritt ab. Ein ähnliches Bild zeige sich in Schweden: »Schwedische Medien sind die Moralprediger schlechthin. Deshalb verweigern sie beispielsweise Berichte über die rechtspopulistischen Schwedendemokraten. Trotzdem hat es die rechte Partei bei der Reichstagswahl 2010 erstmalig ins Abgeordnetenhaus geschafft und gewinnt weiter an Zuspruch.«

Kann der Mehrsprachenstaat Schweiz ein Vorbild für die Europa-Berichterstattung sein? Nein, sagt Message-Beirat Vinzenz Wyss. Der Schweizer Medien- und Kommunikationswissenschaftler: »Es ist ein Mythos, dass man sich in der Schweiz versteht! Die deutsch-französischen Medien haben keinen Beitrag zur sprachübergreifenden Verständigung geleistet. In der Schweiz haben vor 20 Jahren praktisch alle Medien positiv über Europa berichtet. Es hat alles nichts gebracht, der Beitritt wurde vom Volk abgelehnt. Die Medien waren sich wohl zu fein, sich mit Befürchtungen des Volkes auseinanderzusetzen«.

Dokumentiert von Master-Studierenden des Studiengangs Journalistik und ­Kommunikationswissenschaft der Universität Hamburg. Die Tagungsprotokolle entstanden im Rahmen einer Projektwerkstatt unter Leitung von Volker Lilienthal.

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