Die dramaturgische Trickkiste

Lang muss nicht langweilig sein. Mit welchen Kniffen kann die lange Form erzählt werden – und was können Journalisten tun, um den Verfall der Aufmerksamkeit zu stoppen?

von Danilo Rößger und Rike Uhlenkamp

Wir müssen uns den Leser als Hund vorstellen. Ein Hund, der eigentlich spielen möchte, dem ich aber jetzt mit etwas Ernsthaftem komme.« Das ist nur eines der Bilder, das der Spiegel-Redakteur Cordt Schnibben in seinem Netzwerk-Recherche-Workshop über »Dramaturgie 2.0« benutzt. Der Leser wolle ernsthafte Themen zwar zur Kenntnis nehmen, aber in Wahrheit sei er schon längst bei Facebook oder beantworte seine E-Mails. Der Journalist hingegen, so Schnibben, verkommt zu einem »Zeugen Jehovas«, der zwar auf wichtige Dinge aufmerksam machen will, jedoch seine liebe Not hat, seine Erzeugnisse an den Mann zu bringen. Was also tun?

Mut zur Anti-Szene

Schnibben sieht die Lösung darin, die Dramaturgie journalistischer Produkte zu optimieren. Zunächst gehe es darum, Aufmerksamkeit beim Rezipienten zu erzeugen. Das solle nicht mit dem Holzhammer und billigen Tricks, sondern mit Intelligenz passieren oder besser noch: mit der bewussten Verletzung journalistischer Grundsätze. Reportagen folgen, so findet Schnibben, viel zu oft der alten Dramaturgie des Kinos, hätten ein zu langsames Tempo und gingen so häufig am Leser vorbei. »Nur Mut zur Anti-Szene«, so sein Plädoyer. »Man muss nicht immer szenisch anfangen, um den Leser in die Story zu ziehen.«

Auch die Autorin Julia Friedrichs, die durch ihre Sozialreportagen bekannt geworden ist, stellt fest, dass sich die traditionellen dramaturgischen Grundregeln auflösen. Sie fange ihre Reportagen gerne mit Gedanken oder Ideen an, die Überraschungen bieten und vielleicht sogar irritieren. »Der Leser hat inzwischen sehr viel über Dramaturgie gelernt. Gerade junge Mediennutzer verstehen, was man alles machen kann. Die kennen die Trickkiste mittlerweile.«

Solche Regelverletzungen sind laut Schnibben auch ein Weg, um die Aufmerksamkeit der Leser zu halten: »Enttäuschen Sie die Erwartung der Leute positiv. Halten Sie die Aufmerksamkeit, indem Sie etwas machen, mit dem der Leser nicht rechnet.« Hanns-Bruno Kammertöns, verantwortlicher Redakteur für die Titelgeschichten der Zeit, nennt diese Überraschungen »Trompetensoli« – also Weckrufe für Leser, die gedanklich dabei sind zu erschlaffen. Außerdem sei es wichtig, erklärt Schnibben, bei sehr komplexen Themen »Inseln des Bekannten« zu schaffen, so wie die Erklärung des Bausparvertrags in einem Text über die Finanzkrise. »Diese Inseln machen komplexe Stoffe besser genießbar«, erklärt er.

Die Protagonisten-Schiene

Auch Protagonisten werden oft zum Werkzeug, um komplexe Themen lese,- hör,- und sehfreundlicher zu machen. Fast immer gebe es hierbei zuerst das Thema und dann müsse ein passender Protagonist gefunden werden, berichtet Henning Sußebach von der Zeit aus der redaktionellen Praxis. Das mache allerdings eine große Schwäche für die Erzählung aus. So wähle man oft den »auf einen Knopf drückenden Banker« als Protagonisten für die Finanzkrise. »Da machen wir die Welt sehr klein, wenn die Protagonisten genau das sind, was wir ihnen am Konferenztisch zugesagt haben«, beklagt der Dossier-Redakteur und mahnt an, dass man sich Gedanken über neue Formen machen müsse. Warum nicht mal ein Kantinengespräch bei der Deutschen Bank mithören?

Laut Schnibben, der 2007 das Reporter-Forum gründete, ist die letzte wichtige Aufgabe der Dramaturgie, die Aufmerksamkeit der Rezipienten zu belohnen. Dazu gehöre wohl auch, dass Autoren sich nicht einer »verlogenen Dramaturgie« bedienen, indem sie Protagonisten an Orte bringen, an denen sie nicht sein möchten, nur weil es für den Text dienlich sein könnte. »Diese Art von Dramaturgie findet man leider in der Hälfte der Reportagen heutzutage«, kritisiert der Gewinner zahlreicher Journalistenpreise.

Schnibben ist sich sicher, dass seine dramaturgischen Verbesserungsvorschläge zu langen Geschichten führen werden, die schon im ersten Satz einen Sog entwickeln, eine klare Botschaft haben und den Leser bis zum Ende fesseln können.

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