Genozid in Ruanda
»Überall Genozide«

Bei der Aufarbeitung des Völkermords in Ruanda liefern die Medien kaum Neues. Ihre zugespitzten und vereinfachende Berichte werden dem komplexen Ereignis oft nicht gerecht. Im Interview kritisiert Stefan Brüne überholte Gut-Böse-Narrative und fordert, im Angesicht aktueller Krisen den Fokus der Berichterstattung zu verschieben.

Weltweit wird derzeit an den Genozid in Ruanda vor zwanzig Jahren erinnert. Wie nehmen Sie die Berichterstattung wahr?
Stefan Brüne: Die deutsche Ruanda-Berichterstattung bietet häufig personalisierte Täter-Opfer-Beschreibungen. Weil vielen Redaktionen Hintergrundkenntnisse fehlen, dominieren Gut-Böse-Narrative – nach dem Muster: die »guten Tutsi« gegen die »bösen Hutu«. Neuigkeiten habe ich hierzulande kaum wahrgenommen.

Und anderswo?
Differenzierter ist die Berichterstattung in Frankreich. Vor mir liegen zwei Bücher – »Un génocide en questions« von Bernard Lugan und »Au nom de la France. Guerres secrètes au Rwanda« von Benoît Collombat und David Servenay. Die Bücher sind 2014 erschienen. Sie sind Teil einer anhaltenden Lagerdiskussion. Dabei geht es im Kern um die Frage, wie es zu dem Genozid kam und ob Frankreich schuldhaft involviert war. Paris hatte militärisch eng mit dem Hutu-Regime von Präsident Habyarimana zusammengearbeitet, nicht während, aber vor dem Genozid. Ruanda gehörte zu Frankreichs Einflusszone.

Warum weiß man zwanzig Jahre danach immer noch nicht, wer das Flugzeug mit den Präsidenten von Ruanda und Burundi an Bord abgeschossen hat und damit das Schlachten auslöste?

Das ist eine politisch hochbrisante Frage. Wir haben es mit einer Diskussionslandschaft zu tun, in der zwei sich ausschließende Darstellungen und Interpretationen der Ereignisse gebetsmühlenartig wiederholt werden. Auf der einen Seite wird behauptet, die von Uganda und den USA unterstützten Tutsi-Rebellen hätten das Flugzeug abgeschossen. Auf der anderen Seite werden die von Frankreich unterstützten Hutu beschuldigt, ihren Präsidenten selbst abgeschossen zu haben. Inzwischen haben sich Kommunikationsprofis beider Seiten des Themas angenommen. Es geht weniger um die Wahrheit als um öffentlichkeitswirksames, politisch interessiertes Framing.

Worin sehen Sie zwanzig Jahre nach dem Attentat noch politische Brisanz?

Allein die schiere Dimension des Massakers – geschätzte 800.000 Tote – gebietet es, den Fall nicht einfach zu den Akten zu legen. Für Ruanda und Uganda ist die Abschussfrage innenpolitisch nach wie vor höchst bedeutsam. Die autoritäre, von den Tutsi dominierte Regierung in Kigali legitimiert ihre militärischen Interventionen im Osten Kongos bis heute mit dem Hinweis auf den Genozid. Auch für die involvierten internationalen Akteure steht außen-, innen- und geopolitisch viel auf dem Spiel – Reputation, Glaubwürdigkeit, Wiedergutmachung. Wenn zweifelsfrei nachgewiesen werden könnte, dass ein westliches Land am Abschuss der Präsidentenmaschine beteiligt war – oder diesen billigend in Kauf nahm –, wäre das ein Desaster für die Regierung des betroffenen Landes.

Was leisten Journalisten und Medien zur Aufklärung?
Für die diesbezüglichen Schwierigkeiten stehen beispielhaft die eingangs von mir erwähnten Bücher. Ich lese sie und bin danach ratlos. Beide Seiten verweisen eigeninteressiert auf zahlreiche Details sowie angebliche Fakten und präsentieren ihre Position als glaubhaft und plausibel. Am Ende aber bekomme ich keine wirkliche Antwort auf die Frage, wer am 6. April 1994 das Flugzeug abgeschossen hat.

Es gab jahrelange juristische Auseinandersetzungen bezüglich des Genozids – in Ruanda, am Internationalen Strafgerichtshof in Arusha/Tansania, aber auch in Frankreich oder Spanien. Was haben die jahrzehntelangen Recherchen, Befragungen und Expertenanhörungen der Gerichte über den Flugzeugabschuss herausfinden können?
Es steht mir nicht zu, die mit der rechtlichen Aufarbeitung der Vorgänge befassten nationalen und internationalen Institutionen zu kritisieren. Dennoch: Die Geschichte der juristischen Aufarbeitung des ruandischen Genozids wäre ein eigenes Buch wert. Es wäre voll von unbeantworteten Fragen – unter anderem nach abgesetzten, politisch offenbar unliebsamen Richtern und Richterinnen in Arusha und Frankreich.

Wie kann das sein?
Man darf einen interessenbasierten, also politischen Hintergrund vermuten.

Ruanda war damals zu einem geopolitischen Hotspot geworden. Frankreich rüstete die Hutu auf, Uganda und die USA die Tutsi. Hätten Frankreich und die USA den Genozid verhindern können, wenn sie vorher an einem Verhandlungstisch zusammengefunden hätten?
Vielleicht. Aber weder Frankreich noch die USA haben das Ausmaß des Genozids vorausgesehen.

Informationen über die explosive Situation in Ruanda lagen 1994 der UNO, dem State Department, dem französischen Außenministerium und auch dem Auswärtigem Amt vor. Und zwar vor dem Genozid. Haben wir es in Ruanda auch mit einem Versagen westlicher Politik und Diplomatie zu tun?
Ja. Die geopolitische Rivalität Frankreichs und der USA waren einer diplomatischen Konfliktlösung abträglich. Die Situation lief aus dem Ruder, weil alle Beteiligten – einschließlich der lokalen Akteure – eigeninteressiert zur Eskalation beitrugen. Mitunter haben westliche Politiker, Diplomaten und Journalisten die Neigung, komplexe Zusammenhänge schematisch zu vereinfachen und nicht genau hinzuschauen. Das ist zumindest mein Eindruck als langjähriger Berater afrikanischer Akteure. Hinzu kommt, dass das Ausmaß sich anbahnender Krisen und Auseinandersetzungen meist schwer vorauszusehen ist. Und wenn sie einmal ausgebrochen sind, sind sie in der Regel kaum noch von außen zu beeinflussen. Das sehen die Medien häufig anders.

Ihre Antworten haben eine aktuelle Dimension: In der bundesrepublikanischen Mediendebatte wird der Genozid in Ruanda gerade häufig als Argument dafür genutzt, auf eine generelle Bereitschaft zu militärischen Interventionen und Waffenexporten im Falle von aufkommenden Genoziden zu drängen …
Wie bereits gesagt, fehlt es in der massenmedialen Krisenberichterstattung mitunter an detaillierten und differenzierenden Hintergrundinformationen. Medial finden Genozide plötzlich überall statt – in Syrien, im Irak, im Südsudan. Mit dem Wort »Genozid« sollte zurückhaltender umgegangen werden.

Wie erklären Sie sich dessen inflationären Gebrauch?
Dramatisch emotionalisierte Zuspitzungen garantieren Auflagen und Aufmerksamkeit. Politiker und Kriegsparteien sprechen gerne von Genozid, um ihre Botschaften in den Medien zu platzieren. Wegen der gängigen politischen In­strumentalisierung solcher Vorwürfe sollten Journalisten diese jedoch nicht leichten Herzens kolportieren, sondern ihre Aussagen kontextualisieren und hinterfragen, wer sie aus welchen Gründen und mit welchen Absichten nutzt. Wichtig scheint mir in diesem Zusammenhang auch, dass der Diplomatie als Mittel der Krisenbewältigung in den Massenmedien zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt wird.

Liegt das nicht auch an der relativen Verschlossenheit diplomatischer Milieus?
Sicher. Aber die Neigung, einem Massenpublikum stark verkürzte und eingängige Narrative und Erklärungen zu präsentieren, spielt ebenfalls eine Rolle. Viele Redaktionen verzichten inzwischen auf zeitaufwendige Recherchen und begnügen sich mit oberflächlich recherchiertem Halbwissen. Sie sind – in der Regel aus Kostengründen – weit davon entfernt, vor Ort zu recherchieren. Es gibt immer weniger regional erfahrene Journalisten, die Entwicklungen und Ereignisse – etwa in Ruanda oder dem Gebiet der Großen Seen – über längere Zeiträume verfolgen und die komplexen Entwicklungen und Akteurskonstellationen »von innen« begreifen. Ohne eine solche Expertise kann man aber häufig Wichtiges nicht von Unwichtigem unterscheiden.

Wie meinen Sie das?
Nehmen wir das ruandische Beispiel. Ein zentrales Anliegen des strategischen, professionell begleiteten pressebezogenen Framings scheint es heute zu sein, die Öffentlichkeit mit Details, Scheindebatten und Unwichtigkeiten zu überfrachten, um so von der Frage nach den Ursachen und Hintergründen des Flugzeugabschusses abzulenken. Dabei spielen auch zukunftsbezogene Interessen eine Rolle. Frankreich hat, trotz anhaltender Spannungen, wieder diplomatische Beziehungen zu Ruanda aufgenommen. Und wenn sich hohe Regierungsrepräsentanten beider Seiten treffen, wird die Frage nach dem Abschuss des Flugzeugs nicht mehr gestellt. Man spricht von einer »Normalisierung der Verhältnisse« und »erfreulicher Annäherung«.

Mittlerweile gibt es Organisationen wie Genocide Alert, die sich ausschließlich der Thematik Genozid widmen und den Jahrestag des Genozids in Ruanda sehr aktiv begehen.
Genocide Alert kann ich nicht ernst nehmen.

Warum?
Genocide Alert folgt offenbar einem standardisierten Vorwurfsmuster, um in Deutschland politischen Handlungsdruck zu erzeugen. Die verteilen Schulnoten an Parteien: Wer für Militäreinsätze ist, bekommt eine Eins, wer dagegen ist, eine Fünf.

Sie sprachen davon, dass den Massenmedien und Journalisten Analyse-Know-how fehle. Haben Sie Beispiele aus Ihrer langjährigen Erfahrung als Politikberater in Afrika?
Nehmen Sie die – meist kurzen – Staatsbesuche deutscher Politiker in afrikanischen Krisenregionen. Da wird dann regelmäßig berichtet, dass dieser oder jener Politiker verhandelt und sich für dieses oder jenes Anliegen stark gemacht habe. Das klingt wichtig. Die Realität ist häufig profaner. Wenn deutsche Minister Afrika-Reisen absolvieren und – zwecks Auftankens – einen mehrstündigen Zwischenstopp in Dschibuti einlegen müssen, weiß die Presse eigenartigerweise von wichtigen bilateralen Gesprächen und Verhandlungen. Indes: Wie viele deutsche Journalisten sprechen Haussa, Suaheli, Amharisch oder andere afrikanische Sprachen? Die meisten der wenigen deutschen Afrika-Korrespondenten sitzen in ihren Büros in Südafrika oder Kenia und berichten dann über Mali oder den Südsudan, wenn dort Kriege bereits ausgebrochen sind. Oder anlässlich des Jahrestags des Genozids über Ruanda.

Die Fragen stellte Message-Herausgeber Lutz MükkeRuanda_Ueberall Genozide_Bruene

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