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„Wer früher Leserbriefe beantwortete, galt als Weichei“

Paradigmenwechsel im digitalen Journalismus: zur neuen Rolle des Lesers

von Sonja Wurtscheid und Max Handwerk

Hasskommentare, Shitstorms, persönliche Beleidigungen – Journalisten müssen heute eine gewisse Resistenz gegen Anfeindungen wütender Leser entwickeln. Stapelte sich früher Leserpost auf den Redaktionstischen, gelangt das Feedback heute über Kommentarspalten anonym und in Echtzeit zum Verfasser – und beeinflusst dort die Wahrnehmung anderer Rezipienten.

Wenn wir uns nicht bewegen, bewegen sich immer mehr Leser von uns weg.“

„Wenn wir uns nicht bewegen, bewegen sich immer mehr Leser von uns weg.“

Und diese neue Situation sei keineswegs zu unterschätzen, sagt Marco Dohle von der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf: „Kommentare sind kurz, sie sind oft prägnanter als die Beiträge selbst und sie werden gelesen, nachdem ein Artikel rezipiert wurde. Die sichtbare Publikumsbeteiligung beeinflusst die Wahrnehmung der Leistungen des digitalen Journalismus.“ Der Forscher untersuchte den Einfluss von Nutzerkommentaren auf die Beurteilung von journalistischen Beiträgen. Sind bereits negative Kommentare vorhanden, so das Ergebnis, neigen Leser eher dazu, den Artikel schlecht zu bewerten. Umgekehrt wirken sich positive Stellungnahmen günstig auf die Beurteilung aus. Der Leser hat also Macht. Doch, so betonte der Journalismusforscher, mangelt es oft an konstruktiven Diskussionen in den Foren. Vielfach werde die Kommentarfunktion nur dazu genutzt, Kritik am Artikel zu üben, weniger aber für sachliche Argumentationen. Eine Lösung dieser Problematik sieht Dohle im Community-Building, also dem Publikumsdialog, um besser auf die Zielgruppe abgestimmte Artikel publizieren zu können. Ferner müssten Journalisten aber bis zu einem gewissen Grade „bewertungsresistent“ sein, so Dohle.

Publikumsdialog – eine Frage der Haftung?

„Beleidigungsresistent“ sollten sie nach Tobias Gostomzyk, Inhaber des Lehrstuhls für Medienrecht an der Technischen Universität Dortmund, auch sein. Alles bräuchten sich Journalisten im Internet aber nicht gefallen zu lassen: „Bei falschen Tatsachenbehauptungen, Verletzung des Persönlichkeitsrechts usw. sind zivilrechtliche Klagen, Schadensersatz und Schmerzensgeld denkbar.“ Doch nicht nur Redakteure müssen sich mit Äußerungen ihrer Leserschaft auseinandersetzen, auch ihre Arbeitgeber. Die im Telemediengesetz von 2003 festgehaltene Störerhaftung bildet die Basis im Umgang mit unerwünschten Kommentaren. Danach ist der Betreiber einer Kommentarspalte dazu verpflichtet, Kommentare zu löschen, wenn begründete Beschwerden von anderen Nutzern vorliegen. Die Störerhaftung greift, wenn der Betreiber Kenntnis über den Verstoß hat. Anders sei die Sachlage bei gefilterten Kommentarseiten. Hier werde dem Medium unterstellt, von vornherein Kenntnis über alle Beiträge zu haben, weshalb der Betreiber unmittelbar für die Kommentare hafte. Angesichts der aktuellen Debatte über Hasskommentare auf Facebook hält der Medienrechtsexperte eine Verschärfung der Haftungsregelungen für möglich. Problematisch sei jedoch die anonyme Kommunikation in Foren. Jedem ist es gestattet, anonym zu kommunizieren. Die Staatsanwaltschaft könne das Medium nur dann zur Bekanntgabe der Nutzeridentität auffordern, so Gostomzyk, wenn strafrechtlich ermittelt werde. Bei zivilrechtlichen Verstößen, wie etwa Beleidigungen, habe der Geschädigte lediglich einen Löschungsanspruch.

„Die Leser verändern sich schneller als wir“

Die größte Veränderung des digitalen Journalismus sieht Cordt Schnibben, langjähriger Spiegel-Reporter, in einem grundlegend neuen Verhältnis zum Leser. Dieser sei nicht mehr länger nur stiller Konsument journalistischer Arbeit. „Wir haben es mit viel mächtigeren Lesern zu tun, als das vorher der Fall war.“ Die teilt er in die Kategorien „The Good“ (die lobenden Leser), „The Bad“ (die konstruktiv kritisierenden Leser) und „The Ugly“ („Die Tatort-Schauer, die keine Krimis mögen, sie aber trotzdem sehen nur um sich darüber aufregen zu können“) ein. Und selbst letztere hätten noch einen Nutzen: „Auch den Hässlich müssen wir lieben, denn er kauft uns.“ Der Leser könne darüber hinaus Verkäufer sein, indem er Artikel in sozialen Netzwerken teilt, er könne als Quelle für wichtige Hinweise dienen oder sogar als Rechercheur, so Schnibben. Die neuen Impulse, die eine aktive Einbindung der Leserschaft mit sich bringe, seien eine Chance. „Wer früher Leserbriefe beantwortete, galt als Weichei“, erklärt er. Heute sei es wichtig, den Nutzer nicht aus den Augen zu verlieren: „Die Leser verändern sich schneller als wir“, so Schnibben. „Wenn wir uns nicht bewegen, bewegen sich immer mehr Leser von uns weg.“

Der Beitrag dokumentiert einen Programmpunkt der Tagung „Digitaler Journalismus: Disruptive Praxis eines neuen Paradigmas“, die am 5. und 6. November 2015 unter der Leitung von Prof. Dr. Volker Lilienthal (Universität Hamburg) in Hamburg stattfand.

3. Dezember 2015