#nr19 | Innovation
Vicaris Expeditionen: Von der Butterbrotdose in den Bienenstock

Der Wissenschaftsjournalist Jakob Vicari macht Journalismus mit Sensoren. Sein Aufruf an alle Redaktionen: Raus aus der Komfortzone, um den (digitalen) journalistischen Arbeitsalltag mitzugestalten und zu verbessern

von Leon Tom Gerntke

„Mein Traum wäre es, hier eine kleine Werkstatt zu haben“, sagt Jakob Vicari in seinem ziemlich gewöhnlichen Büro in der Lüneburger Innenstadt: mit Flipchart, türkisfarbener Schreibtischplatte und Post-its an der Wand. In ausgedienten Flugzeugtrolleys häufen sich in organisiertem Chaos Kabel, bunte Lämpchen und Lötzinn – die eigentlich zentralen Werkzeuge seiner Arbeit.

„Ich sage immer, ich bin Wissenschaftsredakteur, auch weil das einfach gut klingt“, sagt Vicari. Ihn habe am Wissenschaftsjournalismus immer gestört, dass es nur reine Ergebnisberichterstattung gewesen sei: „Von dem Prozess, dem eigentlich Interessanten in der Wissenschaft, war lange nichts in den Zeitungen zu lesen.“ Für Vicari Antrieb und Auftakt zugleich, etwas Eigenes, ganz Neues zu machen: Sensorjournalismus (siehe Infokasten unten). Sein erster Prototyp, der die Außentemperatur misst und anschließend computergeneriert in einen journalistischen Text umwandelt, sei in einer Butterbrotdose entstanden. „Die Leute wollen nicht sehen, dass es 28 Grad sind, sondern wollen lesen, dass es warm ist“, glaubt Vicari.

Kein Plan B

Schon zu Beginn seiner Karriere war klar, dass Vicari keinen klassischen journalistischen Weg gehen würde. Während er die Deutsche Journalistenschule in München besuchte, studierte er parallel Journalistik sowie zwei Semester Physik und Biologie im Nebenfach. Im Jahr 2014 erschien seine Dissertation „Blätter machen. Bausteine zu einer Theorie journalistischer Komposition“. Er erkannte den Wissenschaftsjournalismus als Nische für sich: „Da wollte damals einfach keiner hin.“ Und doch blieb es für ihn nicht beim klassischen Wissenschaftsjournalismus. Er ging mit einem Stipendium für Innovationsförderung an das Medieninnovationszentrum in Babelsberg und lernte dort Laserschneiden, Fräsen, Löten und Programmieren. „Endlich konnte ich frei an meiner verrückten, völlig absurden Idee arbeiten, ohne dass dabei etwas rauskommen musste“, sagt der Tüftler.

Seine Idee: Daten, die er als Journalist braucht, selbst zu erheben. Dabei setzt Vicaris Sensorjournalismus gezielt Sensoren ein, um die Welt zu vermessen und daraus journalistische Geschichten zu formen. Aus der unendlichen Menge an vorab erhobenen Informationen über Verhaltensmuster von Tieren, Temperaturen, Geräuschpegel oder Schadstoffkonzentrationen in der Luft werden automatisch journalistische Texte generiert, die im Anschluss daran mit Hilfe eines eigens programmierten Redaktionssystems ins Netz gestellt werden.

Wie geht’s Biene Sabine?

Vicaris neuestes Projekt heißt „Bienen live“. Dabei werden drei Bienenstöcke rund um die Uhr beobachtet – für jeden einsehbar dank einer 360-Grad-Kamera im Inneren und einem Bienenzähler am Eingang zum Bienenstock: Wie oft startet und landet eine Biene pro Tag überhaupt? Wie viele Bienen bleiben am Ende des Tages draußen und wurden zu Vogelfutter? „Wir wollen auch einzelne Bienen verfolgen und sagen können: Biene Sabine startet jeden Tag vier Mal und ist eine ganz Fleißige, und ihre Schwester ist total faul und fliegt nur einmal aus und ruht sich dann erstmal aus.“ Für Vicari ein entscheidender Fortschritt in der journalistischen Praxis von morgen: „Die Kreativität wird uns die Maschine nicht wegnehmen, wir müssen die neue Technologie nur für den Journalismus nutzen.“

Sensorjournalismus lasse Menschen live an dem Prozess teilhaben und eröffne dem Zuschauer dabei ganz neue Perspektiven, die es bislang nicht gab. Dabei könne diese neue Art des Journalismus sowohl unterhaltend, investigativ als auch lokal genutzt werden, bekräftigt Vicari. Für ihn persönlich ist das Spannende an seiner Arbeit: „Ich kann sprechende Spielzeuge bauen, Bienenzähler oder Lärmboxen entwickeln – das ist ein Gefühl von Freiheit.“

Vorne dran statt abgehängt

Sensorjournalismus nutzt Sensoren, um Daten aus unserer Umwelt zu erheben und anschließend zu verarbeiten. Die Aufgabe des Journalisten besteht darin, diese Daten für das Publikum verständlich aufzubereiten. Im Manifest für einen Journalismus der Dinge, erstmals vorgestellt auf der re:publica 19, heißt es dazu: „[Sensoren] können aber auch an Orte gehen, wo Menschen nicht hinkommen, seien es verstrahlte Gebiete, Abflussrohre oder das Verdauungssystem. Je abhängiger Journalisten von den Erhebungen zentralisierter Stellen sind, desto weniger unabhängig ist ihre Berichterstattung. […] Weil Informationen durch Sensoren und andere Erhebungsinstrumente oft quantifizierbarer und überprüfbarer sind, können sie Aussagen belastbarer und zuverlässiger machen.“ Unterschieden werden drei Arten von Sensorjournalismus: Entweder werden bestehende Sensoren als Datenquelle genutzt, eigene Sensoren entwickelt oder die Rezipienten werden miteingebunden und bauen selber Sensoren. Quellen: Manifest für einen Journalismus der Dinge (www.riffreporter.de); ­ Sensors and Journalism (Tow Center)

Eine Freiheit und Experimentierfreude, die Vicari sich auch mehr in deutschen Redaktionen wünscht: „Alle denken: Das ist hier ernst und wir kämpfen ums Überleben, da können wir doch nicht spielen.“ Er selbst sei immer wieder überrascht, wie gut die Leser es fänden, bei einem Ereignis live dabei sein zu können. Gerade durch das Internet der Dinge, also der zunehmenden Verknüpfung von physischen und virtuellen Objekten, sieht Vicari eine große Chance, Journalismus neu zu denken. Große Teile der Branche würden diesen Zugang jedoch verschlafen: „Alle schreiben zwar über Künstliche Intelligenz oder das Internet der Dinge, aber wie man das für den Journalismus nutzen kann, das ist uns manchmal ganz fern.“ Ein weiterer positiver Nebeneffekt des Sensorjournalismus sei es, Vertrauen beim Leser zu gewinnen: „Wenn jemand zweifelt, kannst du sagen: Hier sind die Daten, guck es dir doch an.“ Ein mögliches Gegengewicht zum Vertrauensverlust bei Medienkonsumenten.

Astrid Csuraji, die zusammen mit Vicari das Start-up tactile.news gründete, schätzt an ihrem Kollegen vor allem sein grenzenloses Denken: „Jakob ist der Mensch, der einem in drei Stunden wahnsinnig viele Ideen auf den Tisch knallt“, berichtet die Journalistin. Manchmal müsse sie Vicaris Kreativität nur in produktive Bahnen leiten, damit auch jemand für die Ideen bezahle. Mit Blick auf die Herausforderungen der Branche wundert sie sich manchmal, „dass es nicht zwanzig Jakobs gibt“.

Für Vicari ist klar: „Das Gefühl, nicht als freier Journalist abgehängt in einer sterbenden Branche, sondern als Geschichtenerzähler vorne dabei zu sein, wo alle hinterherlaufen, ist optimal.“

15. August 2019