Ringvorlesung "Lügenpresse"
Alles „Lügenpresse“ oder was? Zum Umfeld einer Hetzvokabel

Der Berliner Publizist Norbert Schneider dekliniert den Begriff „Lügenpresse“ philosophisch: „Die Lügenpresse ist eine Glaubenswahrheit“

Von Marie-Therese Hukker

Hamburg. Der Begriff Lügenpresse ist momentan allgegenwärtig, ob in den Medien, auf den Demonstrationen von Pegida oder in Parteiveranstaltungen der AfD. Doch was ist mit diesem Wort eigentlich gemeint? Welche Befürchtungen, Hinweise und Wahrnehmungen beinhaltet es? Antworten darauf lieferte am 14. November 2016 Prof. Dr. Norbert Schneider, Publizist und ehemaliger Direktor der Landesanstalt für Medien Nordrhein-Westfalen. Im Rahmen der Ringvorlesung „Lügenpresse“ stellte er seine Sicht der Dinge unter dem Titel „Lügenpresse! Versteckte Botschaften einer Hetzvokabel“ dar.

„Es gibt nicht die Wahrheit für alle“, betonte Schneider. Eine Gesellschaft der Vielfalt realisiere sich in vielen Einstellungen und Sichtweisen, deren Basis verschiedene Meinungen und Subjekte sind. Die Grenzen seien erst da gezogen, wo andere Personen in ihren Rechten verletzt würden. Diese Freiheit sei anstrengend und die Vielfalt könne sich wie eine Zumutung anfühlen, die mitunter zu einer unerträglichen Last werde. Daher sei es verlockend, eine andere Realität zu schaffen, in der Klarheit und Wahrheit herrschen. Diese finde sich für die Kritiker in der Lügenpresse wieder, in der störende Fakten einfach ignoriert würden.

Laut Schneider lassen sich zwei Arten des Lügenpresse-Diskurses unterscheiden. Die milde Version entspreche überzogener Pressekritik. Hingegen kennzeichneten verbale Speerspitzen gegen die Meinungs- und Redefreiheit, also Parolen ohne genauen Absender oder Empfänger, belegfreie Äußerungen, faktische Verschwommenheit und eine rhetorische Unschärfe die harte Form. In Deutschland dominiere momentan die harte Version, die die Existenzberechtigung der freien Presse leugne. Das Schimpfwort Lügenpresse sei Ausdruck eines universalen Zweifels und gegen Tatsachen gerichtet. Deren Ziel sei nicht die Gegendarstellung, sondern die Vernichtung der freien Presse. Hinter dem Wort stecke vor allem ein „toxisches“ Pauschalurteil und eine Medienverdrossenheit, die dem Journalismus jegliche Glaubwürdigkeit abspreche, warnte Schneider, der promovierter Theologe ist.

Damit einher gehe der Bedeutungsverlust des Faktischen. Stattdessen gewönnen Gefühle immer mehr an Relevanz. Widerstände und die Realität würden überwölbt von gefühlten Fakten und erschüfen somit eine neue, erträglichere Realität. Problematisch sei vor allem, dass Gefühle immer härter als Fakten seien, da man diese nur behaupten müsse „und nicht beweisen kann“. „Sie spielen in einer anderen Liga“, weshalb man sich mit Fakten nur schwer zur Wehr setzen könne. In dieser von Gefühlen wie Wut, Angst und Scham dominierten Gesellschaft scheine das Vergnügen am Status quo verloren gegangen. Sympathisanten fühlen sich umzingelt, provoziert und hätten Angst vor dem Fremden und davor, dass die Leiter nur nach unten ginge. Diese Menschen fühlten sich übergangen, überfordert, im Stich gelassen und ihnen fehle es an Anerkennung, vermutet Schneider. Deshalb müssten sie mit der Realität konfrontiert werden, um ihnen zu zeigen, wer in dieser Angelegenheit eigentlich lügt. „Der Lügenpresse-Schrei“, so Schneider, „bewacht die falsche Tür“.

Presse als Sündenbock

Laut Schneider ist die Unterstellung einer Lügenpresse eine Glaubenswahrheit, die man nicht überprüfen kann. Die Annahme, dass die Wahrheit die Bringschuld der Presse sei, bezeichnet er als kapitalen Irrtum. Ihm zufolge geht es nicht um die Wahrheit, denn niemand könne die Wahrheit zweifelsfrei testieren. Vielmehr sollen die Medien einen „Streit der Meinungen“ ermöglichen, dessen Ziel Freiheit und Vielfalt ist, ermutigte Schneider Journalisten. Selbstverständlich müsse alles, was in der Presse kommuniziert wird, dennoch überprüft und belegt werden. Der Publizist versteht die Medien als „einen Resonanzboden, auf dem Vielfalt dargestellt und sich entwickeln kann“.

Der Vorwurf der Lügenpresse sei teilweise hausgemacht und habe funktionale Gründe. Immer wenn etwas nicht in Ordnung sei, diene die Presse als „Angriffsfläche und Sündenbock“. Den Medien werde alles aufgeladen, was in der Gesellschaft nicht rund läuft. Zum Teil kann Schneider die Kritiker sogar verstehen. Die massive Abhängigkeit von Werbekunden, die Tatsache, dass aufgrund ökonomischer Gründe ganze Erdteile aus der Berichterstattung verschwänden, sowie das Dramatisieren von Themen wirkten sich negativ auf das Image der Medien aus. Dennoch hält Schneider diese Faktoren nicht für die Ursache der Lügenpresse-Debatte, schließlich sei dies nicht neu. Trotzdem zögen derartige Tendenzen massive Kritik nach sich. Den Begriff Lügenpresse würden sie jedoch nicht rechtfertigen.

1. August 2017