#nr19 | Medienkritik | Relotius
Reemtsma mahnt Journalisten: „Lasst das lieber sein“

Der Fall Relotius irritiert die Medienwelt nun seit Jahresende 2018 und sorgte für einen ­Imageschaden des Journalismus. Auch auf der nr-Jahreskonferenz 2019 dominieren die ­Themen Glaubwürdigkeit, Fehlerkultur und Fact-Checking.

von Wiebke Knoche und Paula Lauterbach

„Wer die Reportagen von Relotius als journalistisches Meisterwerk ausgezeichnet hat, hat nicht mehr alle Tassen im Schrank“, sagte der Philologe, Sozialwissenschaftler und Mäzen Jan Philipp Reemtsma zum Auftakt und erntete großen Applaus. Die journalistische Stilform der Reportage nötige den Leser, den Blick des Autors auf die Wirklichkeit nachvollziehen zu müssen. Das sei ihm, Reemtsma, zu privat und interessiere ihn nicht. Eine scharfe Kritik, die Barbara Junge, stellvertretende Chefredakteurin der taz, zu entkräften versuchte. Eine Verdammung der Reportage als Darstellungsform hält die Journalistin für falsch. Einige Leser würden die Dinge eben gerne etwas plastischer lesen.

Sozialforscher Jan Philipp ­Reemtsma ging in seiner ­Er­öffnungsrede hart mit der ­Reportage als Stilform ins Gericht. / Foto : Wulf Rohwedder

Neben der Textform Reportage rückte das journalistische Selbstverständnis in den Fokus der Diskussion. Journalistinnen und Journalisten stünden vor der Herausforderung, ein Publikum zu bedienen, das faszinierende Texte lesen wolle. Doch da das Leben nicht immer schillernde Geschichten bereithalte, komme es häufig zu einer Selbstüberhöhung. „Journalisten wollen immer mehr sein als sie sind. Wir sind Handwerker, aber wir wollen Künstler und Schriftsteller sein und das verleitet uns“, sagte Annette Ramelsberger, Gerichtsreporterin bei der Süddeutschen Zeitung. Auch Barbara Junge warnte vor einer unangemessenen Überhöhung durch die Selbststilisierung des Reporters. Der Fokus müsse wieder stärker darauf liegen, die Leser zu informieren. Eine Debatte, die angesichts der momentanen Glaubwürdigkeitskrise des Journalismus, die sich in „Fake News“- und „Lügenpresse“-Vorwürfen widerspiegelt, aktueller nicht sein könnte.

Bloß keine Gemütlichkeit

Die naheliegende Frage aus dem Publikum „Warum investiert ihr nicht mehr in die Dok?“ bezeichnete Claudius Seidl, Feuilletonchef der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung, als „wohlfeil“. Für den Journalisten sei es gar nicht so ein schlechtes Gefühl, für die Fakten selbst verantwortlich zu sein. In seiner Zeit beim Spiegel habe er die Erfahrung gemacht, dass eine Dokumentationsabteilung mitunter zu Bequemlichkeit bei Journalisten führe.
Ramelsberger, die nach ihrem Wechsel vom Spiegel zur SZ nach eigener Aussage „geschluckt“ habe, weil ihre Geschichten nun einfach so – ohne Fact-Checking – gedruckt wurden, hält es für möglich, das Vertrauen des Publikums durch größere Transparenz zurückzugewinnen. Etwa in Form von Werkstattberichten, die einen Blick hinter die Kulissen der Entstehung einer Geschichte ermöglichen. „Mündige Leser schätzen es, wenn wir offenlegen, wie wir Themen recherchiert oder Protagonisten kontaktiert haben.“

Ehrlichkeit im Umgang mit Fehlern

Transparenz spielt auch für Seidl die zentrale Rolle, wenn es um Fehlervermeidung geht. „Es muss offengelegt werden, woher Informationen stammen.“ Dazu gehöre auch, kenntlich zu machen, wenn Quellen unsicher seien. Nichtsdestotrotz solle der Journalist sich nicht scheuen, weiter Vermutungen aufzustellen, Urteile zu fällen oder einzuordnen: „Wir dürfen nicht aufhören zu deuten. Vielmehr müssen wir ein Bewusstsein für die Vorläufigkeit und die Subjektivität unserer Ansichten schaffen“, meinte Seidl. Teil dessen sei außerdem der Mut und die Ehrlichkeit von Journalisten, öffentlich und direkt zu sagen, wenn etwas schiefgelaufen sei oder Informationen nicht stimmten, ergänzte SZ-Journalistin Ramelsberger.

Der Spiegel hat das in Form eines umfassenden Abschlussberichtes zum Fall Relotius getan. Doch die Causa Relotius ist mehr als ein krasser Einzelfall in der Branche. „Die Aufdeckung des Betrugs hat auf ein Problem hingewiesen, das den Journalismus schon lange beschäftigt und auch weiterhin beschäftigen wird“, sagte Annette Ramelsberger.

Immer wieder wurde in der Debatte deutlich, wie wichtig es ist, bereits in der Ausbildung angehender Journalisten eine klare Grenze zwischen Dichtung und Wirklichkeit aufzuzeigen.
Reemtsma zeigte sich entsetzt, dass Journalistenschüler offenbar auf die Frage, ob Verdichtungen in der Reportage erlaubt seien, geantwortet hätten: Kommt darauf an! „Nein, kommt nicht darauf an“, entgegnete Reemtsma entschieden. Das sei Betrug am Leser. Sein Rat: „Lasst das lieber sein.“

15. August 2019