Dokumentation | Medienkritik
Raunen statt Recherche

Bild ist der Titanic auf den Leim gegangen – und was folgt daraus?

von Volker Lilienthal

Schon die Schlagzeile war die Unterstellung, diese Partei sei eine von Wiederholungstätern: „Neue Schmutzkampagne bei der SPD!“ Und dann weiter: „Es geht um brisante Mails, den Juso-Chef und einen Mann namens Juri“. Bild stieg darauf ein, wertete angebliche Mails aus und ließ sogar den getarnten Informanten in die eigene Redaktion. Am Ende kam heraus: Ein satirischer Fake war das, Aktionskunst aus dem Haus Titanic. Das reichweitenstarke Newsportal T-Online bat Message-Herausgeber Volker Lilienthal um eine Einordnung des Falls. Sein Gastbeitrag löste auf Twitter ein lebhaftes, hauptsächlich zustimmendes Echo aus. Message veröffentlicht nun eine aktualisierte und leicht erweiterte Fassung. Darin geht der Autor auch auf die immer wieder beliebte Frage ein: Was darf Satire?

Die Schlagzeile, mit der die Bild-Zeitung der Titanic auf den Leim ging.

Wenn ich in der jüngeren Vergangenheit als Experte nach der Bild-Zeitung gefragt wurde, habe ich mich um Differenzierung bemüht: seit langem kein rechtes Kampfblatt mehr, eher um gesellschaftlichen Ausgleich bemüht, zum Beispiel in der Flüchtlingskrise. Kritisch auch gegenüber AfD und Pegida, hin und wieder jedenfalls. Kollegen gibt es, die wollten Bild gar die Journalismus-Eigenschaft absprechen. Also wäre Bild nicht mehr vom Artikel 5 Grundgesetz geschützt? Ich widersprach.

Dabei bleibe ich. Doch meine sonstige Einschätzung, Bild habe sich sozusagen zivilisiert, ein Akt der Selbsterziehung oder der korrigierenden Reaktion auf so berechtigte wie nachhaltige Kritik, war blauäugig, ich nehme sie zurück. Die sogenannte Titelgeschichte über eine angebliche „Neue Schmutzkampagne bei der SPD!“ zeigte von Anfang an, dass Bild selten zögert, noch Öl ins Feuer zu gießen, wenn eine Partei, eine Regierung, ein Minister, eine Behörde oder was auch immer in einer Krise steckt und an Ansehen verliert. Dann nimmt Bild scheinbar belastendes Material gerne entgegen, nimmt ein paar Nachprüfungen vor, ob es echt ist – und selbst wenn dafür nicht viel spricht, darf die Geschichte nicht sterben.

„Totrecherchieren“, wie es im Journalistenjargon heißt, gilt hier nicht. Die Botschaft „Neue Schmutzkampagne bei der SPD!“ musste offenbar unbedingt gebracht werden, weil sie ins politische Konzept passte: eine Partei, die schon genug in Nöten steckte, nochmals vorzuführen. Seht her: Lassen sich sogar mit Russen ein! Nur wer bis zum Ende des wirren Textes, erschienen auf Seite 1 am 16. Februar, durchgehalten hatte, konnte eine kleine Distanzierung lesen: „Für die Echtheit der E-Mails gibt es keinen Beweis.“

Schon damals war klar: Bild hatte die journalistische Sorgfaltspflicht in erheblichem Maße verletzt. In deren Rahmen wäre es Aufgabe der Redaktion gewesen, den scheinbaren Mailwechsel und seinen Inhalt zu verifizieren. Offensichtlich ist dies aber nicht gelungen, Bild räumte es selbst ein. In einer solchen Situation aber wäre es Ausdruck wahrgenommener Verantwortung gewesen, auf diese Art von politisch motivierter Verdachtsberichterstattung zu verzichten. Oder aber den Artikel deutlicher kleiner zu fahren, auf hinteren Seiten zu platzieren und mit dem Zweifel an der Echtheit der Mails in den Text einzusteigen. Eine derart windige Geschichte aber auf Seite 1 zu heben, ist ein blattmacherisches Totalversagen. Ein Versagen vor allem auch des nunmehrigen Alleinherrschers von Bild, Julian Reichelt. Bekanntlich weiß der sein Blatt gut zu verkaufen, schreckt vor kaum einer Polarisierung (wie jüngst in Hart aber fair) zurück. Aber in der Stunde der Entscheidung fehlt ihm die Selbstdisziplin. Das Gespür, was man tun darf – und was man besser sein lassen sollte.

Eingriff in laufenden Entscheidungsprozess einer Partei

Vergessen wir nicht, dass Bild hier mit unbewiesenen – und nun auch widerlegten – Behauptungen in einen laufenden politischen Entscheidungsprozess eingegriffen hat. Wie sich die SPD-Basis entscheidet, ob pro oder contra GroKo, ist ja nicht ausgemacht. In einer solchen Situation mit einer Tendenzberichterstattung zu kommen, die geeignet war, den wortmächtigsten GroKo-Gegner, nämlich Juso-Chef Kevin Kühnert, politisch und moralisch zu deklassieren, war der unzulässige Versuch einer offenkundig politisch motivierten Intervention in einen Meinungsbildungsprozess. Klar, Journalisten berichten beständig über politische Entscheidungsprozesse, kritisieren deren Akteure, warnen vor drohenden Resultaten, befürworten andere. Aber sie tun dies selten mit unbewiesenen Tatsachenbehauptungen – und wenn, dann haben sie die Grenze zur Propaganda überschritten.

Natürlich sind die Grenzen des Machbaren bei Boulevardmedien weiter gesteckt als bei anderen. Hier darf zugespitzt werden. Nie aber dürfen die Fakten zurechtgedrechselt werden. Kampagnen verbieten sich. Wenn aber Bild beim laufenden Mitgliederentscheid der SPD-Basis mal insinnuiert, Ausländer dürften mitstimmen, vielleicht sogar ein Hund, und dann noch der Juso-Chef vorgeführt wird, der sich scheinbar mit Russen eingelassen hat, dann drängt sich der Eindruck einer Anti-SPD-Kampagne natürlich auf.

Nun rechtfertigt sich Bild-Chefredakteur Julian Reichelt damit, das Blatt habe ja gar nicht berichtet, dass sich Kühnert mit Russen eingelassen habe. Die Titanic habe insofern nicht ihr Ziel erreicht. Aber Bild hat sehr wohl den Eindruck erweckt, es könnte etwas dran sein: dass der Juso-Chef gerne die Hilfe von Russen in Anspruch nehmen könnte, damit die auf Facebook Stimmung gegen die GroKo machen. Hier aber ging Raunen vor Recherche. Denn der Eindruck konnte eben nicht bestätigt werden. Was man aber nicht beweisen kann, darüber muss man schweigen. Mutmaßungen desorientieren die Leser. Zur Information tragen sie nichts bei. Eher sind sie das, wovon wir demokratiebedrohend schon genug haben: Fake News.

Reichelts nachgeschobene Schutzbehauptungen

Aber es kommt ja noch schlimmer. Nun ist raus, dass Titanic Bild aufs Glatteis geführt hat. Und wie leicht das war: „Eine anonyme Mail, zwei, drei Anrufe – und Bild druckt alles, was ihnen in die Agenda passt“, heißt es bei Titanic. Der Mitarbeiter des Satireblatts, Moritz Hürtgen, sprach sogar in der Bild-Zentrale vor, getarnt mit billiger Brille, und wurde ohne Ausweiskontrolle in die Redaktion vorgelassen. Das sei „hoch professionell organisierter Betrug“ gewesen, rechtfertigt sich Reichelt im Spiegel-Interview. Das „hoch professionell“ verwundert. Natürlich möchte Reichelt alles: nur nicht die Raffinesse von Titanic würdigen. Der Verweis auf die angebliche Professionalität soll eher sagen: ,So perfekt ausgeführt, dass wir es im Grunde gar nicht entdecken konnten‘.

Und noch eine Schutzbehauptung führt der Bild-Chefredakteur an: Angeblich war das Thema Kühnert und die Russen redaktionsintern schon vom Spielplan abgesetzt. Dann aber habe die SPD Rechtsmittel gegen Unbekannt angekündigt – und flugs eine neue Lage entstehen lassen, die den Nachrichtenwert wieder ins Unermessliche steigen ließ? Nichts da! Erstens sollten Strafanzeigen, ja selbst staatsanwaltschaftliche Ermittlungen, erst recht die sogenannten Vorermittlungen tiefer gehängt werden. Sie besagen nämlich erst mal gar nichts, insinuieren aber in Nachrichtenform: Irgendwas wird schon dran sein. Sodann: Es war ja Bild, die erst die Aufregung in die SPD-Parteizentrale trug. Die Berichterstattung über einen mutmaßlichen Skandal ankündigte. Und die damit die Partei quasi zum Jagen trug. Das ist ein Leichtes: Strafanzeigen zu provozieren und hinterher selbstbestätigend darüber zu berichten. Übrigens: Reichelt hat die Verantwortung für die Blamage mittlerweile auf sich genommen, an Rücktritt aber nach eigenem Bekunden nicht gedacht.

Flackerndes Irrlicht im Zeitgespräch der Gesellschaft

Auf Twitter und anderen Orts wird nun anhaltend seit Tagen über #miomiogate gespottet: „Alter Schwede, hat sich die Bild blamiert“. Ja, hat sie. Aber mehr als das. Die Affäre zeigt: Auf Bild ist kein Verlass. Politiker, die mit dem Boulevardblatt ihm Fahrstuhl nach oben gefahren sind und dann wieder nach unten (Mathias Döpfner), wissen das schon länger. Vor allem aber wir als Leser dürfen das nie vergessen: Bild steht nicht für eine verlässliche Nachrichtengebung, für eine vernunftbetonte und hinreichend umfassende Information, die wir alle zur Orientierung in einer unüberschaubaren Welt brauchen. Diese Zeitung und ihre Webvariante sind flackernde Irrlichter im Zeitgespräch der Gesellschaft. Man kann das lesen, hin und wieder jedenfalls, wenn man es zu verdauen versteht. Verlassen aber sollte man sich darauf nicht.

Bild hat in diesem Kasus von nicht unerheblicher politischer Bedeutung vor aller Augen offenbart, dass a) in der Nachrichtenwerthierarchie von Bild noch immer Effekt und Skandal vor Sorgfalt und Verzicht rangieren, dass b) die internen Verfahren zur Verifikation und, mehr noch, zur Falsifikation von Informationen nicht gut funktionieren und dass c) die Redaktion offenbar schrecklich vergesslich ist.

Denn es ist ja nicht das erste Mal, dass Titanic Journalisten leimte. Bei allem, was auf den ersten Blick bizarr erscheint, sollten in jeder Redaktion die Alarmglocken läuten: Will uns hier jemand hinters Licht führen? Die Bild hätte wissen müssen, dass sie für solche Guerillaaktionen ein besonders attraktives Objekt ist. Hat man bei Bild noch nie vom „Project Veritas“ gehört? Davon, dass der Washington Post unlängst eine erfundene Missbrauchsgeschichte untergejubelt werden sollte? Die Washington Post-Reporter blieben skeptisch und ersparten ihrem Blatt die Blamage. Davor hätte sich auch Bild schützen können, wenn die Redaktion nicht leichtfertig und fahrlässig nach der Leimrute einer Anti-SPD-Kampagne gegriffen hätte.

Satire als neue Form der Medienkritik?

Allerdings gibt es auch keinen Grund, die Aktionssatire von Titanic etwa als investigative Medienkritik zu adeln. Zunächst haben wir rein empirisch zur Kenntnis zu nehmen, dass die neuere Satire sich längst nicht mehr damit begnügt, Äußerungen und Handlungen von Politikern – oder wie hier: Medien – hinterher bloß spitz zu kommentieren. Vielmehr bewegt sie sich zunehmend ins alltägliche Arbeitsfeld ihrer Zielobjekte hinein und setzt dort gezielt Köder, provokante Stimuli, die die eine oder andere Reaktion auslösen sollen.

Am Beispiel von Jan Böhmermann gesagt: Das kann zu erhellenden, dekuvrierenden Effekten führen – Stichwort: #verafake –, aber auch zu fahrlässig gestreuten Platzierungen von Bildfälschungen im Internet, auf die im Falle von #varoufake die Redaktion von „Günther Jauch“ hereingefallen ist. Bei diesem Fall aus dem Jahr 2015 spekulierten Böhmermann und sei Team natürlich auch auf die damals weitverbreitete anti-griechische Stimmung. Musste man denen nicht selbst den Stinkefinger zutrauen? Drei Jahre später: Satirische Guerilla-Aktionen wie die von Titanic exploitieren natürlich auch ein gärendes Misstrauen in Medien. Im Grunde verwandeln sie das Lügenpresse-Geraune in einen Gegenstand satirischer Unterhaltung. Und nachher schlagen sich alle auf die Schenkel und rufen: Ertappt!

Von Satirikern kann man normativ wohl nicht erwarten, dass sie solche Zusammenhänge reflektieren. Dass sie sich auf skeptische Nachfragen ernsthaft einlassen, wie jüngst ein Hürtgen-Interview in der Jungen Welt zeigte. Oder dass sie wählerisch sein sollten in der Wahl ihrer Foren, in denen sie ihre Scoops absatzsteigernd nachauswerten. Den eigenen Erfolg am Köcheln zu halten ist legitim, denn auch Titanic-Hefte wollen ja verkauft sein. Aber muss es gleich RT Deutsch sein, wo man auf Fragen antwortet? Moritz Hürtgen war sich dafür nicht zu schade, Reichelt warf ihm daraufhin vor, sich vor den Karren russischer Propaganda spannen zu lassen. Doch wer sich das Kurzinterview anhört, merkt: Auch die Antworten sind Satire. Wohl ebenso, wie wenn Hürtgen nach einem „Hessenschau“-Interview twittert, er bedauere, dieses je gegeben zu haben.

Nervöse Zeiten

Wir leben in nervösen Zeiten. Das politische Deutschland dreht schon seit längerem hohl. Auch die seriösen Medien stehen vielfach unter Druck. Sie wollen nicht der Duchlauferhitzer für Hetze aus der rechten Ecke sein. Und werden es doch, einfach weil sie ab einer bestimmten Relevanzschwelle dann doch über das hingehaltene braune Stöckchen springen und über den neuesten Tabubruch berichten. Der dann am Ende schrecklich normal wirkt und niemand regt sich mehr auf. Und dann die Social Media, die längst nicht mehr demokratische Spielwiese für die freie Meinungsäußerung aller sind, sondern vermintes Gelände propagandistischer Manipulation, wie die aktuelle Berichte über „Reconquista Germanica“ zeigen.

In einer solchen Situation brauchen wir verantwortlichen Journalismus, der die Stimme der Vernunft erhebt, der Tatsachen von Lügen scheidet und der bei aller Freiheit und Notwendigkeit der Kritik an politischem Handeln das gemeinsame Interesse aller Bürger nicht aus dem Auge verliert: in einem freiheitlichen, sozialen Rechtsstaat zu leben, in einer Gesellschaft, die Konflikte zivilisiert, ohne Gewalt ausgeträgt, in der die Rechte von Minderheiten respektiert werden und in der alle zusammen klüger, nicht dümmer werden wollen. Man nennt es auch: Aufklärung. Bild hat eine andere, sehr volatile Agenda.

27. Februar 2018