Die neuen Möglichkeiten

Von den Drehbuchschreibern lernen: In Zukunft sollten Journalisten viel mehr und viel besser erzählen können. Auf Papier, per Video und, vor allem, durch multimediales Storytelling – so Christopher Beschnitt.

Plötzlich bleibt das Bild stehen. Das Video geht nicht weiter. Es hakt. Ist kaputt. Denke ich. Aber nur kurz. Denn nach zwei, drei Sekunden sind meine Gedanken nur noch bei dem, was ich vor mir auf der Leinwand sehe: bei einer auf dem Boden kauernden Frau, einer Inderin. Ihr Gesicht scheint erstarrt zu sein, mit weit aufgerissenen Augen stiert sie ins Leere. Sie hat ihre Beine eng an den Körper gezogen und den linken Daumen auf ihre Unterlippe gelegt. Das bunte Gewand der Frau, ihr greller Schmuck können nicht darüber hinwegtäuschen: Diese Frau ist traurig. Tief erschüttert, ohne Hoffnung. Weil sich ihr Mann das Leben genommen hat.

Dass und warum er das getan hat, erfahre ich jetzt, als das Video auf einmal wieder weitergeht: weil er als Baumwoll-Bauer keine Zukunftsperspektive mehr sah. Denn in Indien – und nicht nur dort – ist der wirtschaftliche Druck auf lokale Produzenten des »weißen Goldes« riesig. Große Konzerne steuern den Anbau der Baumwolle und bestimmen die Preise sowohl für das Saatgut als auch für die Ernte. Sie steuern und bestimmen so, dass die Bauern nie krank sein, dass auf ihren Feldern bloß keine Unwetter, bloß keine Ungeziefer wüten dürfen – sonst gibt’s kein Geld. Und für die Bauern dann keine Möglichkeit zu überleben. 150.000 indische Baumwoll-Bauern haben deshalb im vergangenen Jahrzehnt den Freitod gewählt.

All diese Informationen erfahre ich durch geschriebene Zeilen, die über die Bilder fließen. Über Bilder wie das der Inderin, die ihren Mann verloren hat. Manchmal untermalt getragene Musik diese Sequenzen. Und manchmal kann ich außerdem die Frau hören: Während ich ihr Foto – und später auch Videoaufnahmen, etwa aus ihrem Dorf – sehe, erzählt sie mit schwacher Stimmer von ihrem Leben, ihrem Leiden.

Das ist in jedem Fall ein Thema, das berührt, keine Frage. Doch ich frage mich, ob es mich ebenso berührt, mich während des Rezipierens ebenso gefesselt und – das sei an dieser Stelle vorweggenommen – mich hinterher noch für lange Zeit so nachdenklich gestimmt hätte, wenn ich dazu lediglich eine gedruckte Reportage gelesen hätte, etwa in Geo.

In dieser Zeitschrift ist tatsächlich eine Geschichte über die globale Baumwoll-Produktion erschienen. Allerdings bot sie mehr als nur Print: Sie bot – via Internetlinks – das, was ich gerade als plötzlich stockendes Video beschrieben habe. Was aber eigentlich gar kein Video war. Sondern eine Mischung aus Video, Audio und Text, mehr noch als eine Audio-Slideshow also. Eine neuartige Form der Präsentation journalistischer Arbeit.
Jemand, der diese Form nutzt, ist Uwe H. Martin. Mit Ausschnitten seines Projekts »White Gold – Effects of Cotton Production« hat mir der Hamburger Fotograf und Multimediaproduzent in seinem Workshop auf dem Reporter-Forum gezeigt, wie viel stärker Video-Bilder wirken können, wenn sie plötzlich angehalten werden und dabei dank eingeblendeter Text- und Toneffekte mehr sind als bloße Fotos. Was mich dabei gleichermaßen fasziniert hat: dass dieses journalistische Produkt halbwegs einfach herzustellen ist. Fotos schießen? Töne aufnehmen, ganze Videos drehen? Und alles dann zusammenschneiden? Das sollte heutzutage praktisch jeder können.

Das stimme schon, sagte Uwe H. Martin, die technischen Hürden jedenfalls seien niedriger denn je. Dennoch solle man nicht versuchen, alles selbst zu machen – dies könnten nur Ausnahmetalente. Daher sei Gruppenarbeit wichtig, im Grunde wie früher: Schreiber und Fotograf sollten wieder gemeinsam losziehen.

Schreiber und Fotograf wären dann jedoch mehr als Schreiber und Fotograf: Sie wären auch Audioreporter und Kameramann – das zumindest ist für mich die Konsequenz des Denkens von Uwe H. Martin. Denn zwar sollten Journalisten nicht versuchen, alles selber zu machen – aber sie sollten schon versuchen, mehr zu machen. Sie sollten zum Beispiel, so sagt Martin, von einem Termin nicht mehr nur Kuli-Notizen, sondern auch O-Tonfähige Interviews mitbringen. Schließlich könne heute mehr dabei herumkommen, als ausschließlich einen Text für die Printausgabe zu fabrizieren: etwa ein Teaser oder ein Bonusangebot zur Druckausgabe eines Printprodukts, jeweils dann natürlich bereitgestellt auf dessen Internetseite.

Das Zusammenspiel verschiedener Aufnahme- und Verbreitungstechniken bietet die wunderbare Möglichkeit, Themen überaus erlebbar aufzubereiten. Viel erlebbarer, als gedruckte Texte das allein können. Das ist ein Geschenk der Gegenwart, in der technische Geräte oft für wenig Geld zu haben und überdies einfach zu bedienen sind. Journalisten sollten dieses Geschenk annehmen, wo immer es geht. Sie sollten es als Möglichkeit begreifen, mehr aus ihrer Arbeit machen, mehr wirken zu können. Weil sie dadurch beim Rezipienten mehr Sinne als nur die lesenden Augen berühren, ihn somit tiefer in die Geschichte eintauchen lassen.

Was Journalisten darüber hinaus tun sollten: ihren Chefs klarmachen, dass ein solches modernes Arbeiten Investitionen erfordert. In Technik und Personal. Letzteres muss freilich nicht nur in ordentlicher Zahl vorhanden sein, sondern auch regelmäßig durch professionelle Schulungen auf den neuesten Stand der multimedialen Möglichkeiten gebracht werden. Denn an einem kann es keinen Zweifel geben: dass das Mehr-als-nur-Texte-Machen auch mehr Geld kostet. Woran gezweifelt werden darf, worauf aber zunächst einmal unbedingt gehofft werden sollte: dass das Mehr-als-nur-Texte-Machen auch mehr Geld einbringt. Weil es das Publikum begeistert, sodass dieses bereitwillig dafür zahlt.

Begeisterung und Zahlbereitschaft sollten journalistische Arbeiten gleichwohl nicht nur durch die Art ihrer Darbietung hervorrufen. Sie sollten immer auch einen entsprechenden inneren Aufbau besitzen. Was bei Schreibern noch nicht flächendeckend angekommen, ist eine Erkenntnis, die Florian Hanig auf dem Reporter-Forum formulierte: Geschichten müssten eine Sogwirkung entfalten – dies könne ihnen aber längst nicht mehr allein durch Sprachschönheit gelingen, befand der Geo-Redakteur. Dafür lauerten zu viele Aufmerksamkeitsräuber darauf, einer Geschichte, der keine Dramaturgie innewohne, die gelangweilten Rezipienten wegzunehmen.

Mehr Sinne als nur die lesenden Augen berühren.

Um ein breites Publikum bei Laune zu halten, braucht es folglich mehr als Stilperlen. Was es brauche, sagte Florian Hanig, könnten Journalisten von Drehbuchschreibern lernen: Es brauche Helden, die sich durch Handlung definierten, in Konflikte gerieten und auf ein Ziel zusteuerten, und dadurch in einem Rahmen agierten.

Es brauche darüber hinaus eine Anordnung wie die in Spielfilmen häufig umgesetzte – und schon seit Aristoteles bekannte – Dreiaktstruktur aus Exposition, Konfrontation und Auflösung. Was anhand eines solchen Gefüges vermittelt werden solle: Lebenswissen. Und nicht Faktenwissen. Fragen à la »Wie manage ich eine Beziehung?« oder »Wie erziehe ich meine Kinder so, dass sie keine Axtmörder werden?« seien es nämlich, die Menschen immer wieder und nicht nur mal so zwischendurch wegen irgendeiner aktuellen Schlagzeile bewegten.

Ob nun in Bezug auf technische Möglichkeiten oder auf die Erzählkniffe nichtjournalistischer Medien – Journalisten sollten es in unserer Zeit, in der sich ihr Metier vielfach im Umbruch befindet, wagen, sich überall nach für sie Nützlichem umzuschauen.

Dann könnten sie das tun, was die Zeit anscheinend von ihnen verlangt: sich verändern. Dann könnten sie sich trauen, mehr als nur Texte zu produzieren, könnten sie dadurch ihr Publikum stärker beeindrucken. Mit berührenden, weil menschlichen Geschichten, die mehr Sinne als nur die lesenden Augen befleißigen, könnten sie Menschen wirklich fesseln. Und genau das muss für Journalisten ein wichtiger Arbeitsantrieb sein. Multimediales Storytelling, also die Verbindung aus den Anregungen von Uwe H. Martin und Florian Hanig, hülfe meiner Ansicht nach sehr dabei, diesen Antrieb umzusetzen.

Ich hoffe daher, dass in Zukunft viele Journalisten die Lust verspüren, multimediales Storytelling auszuprobieren. Dass sie den Mut haben, von ihren Vorgesetzten die dafür nötigen Ressourcen einzufordern. Und dass es ihnen schließlich gelingt, dieses Konzept erfolgreich umzusetzen. Im gro­ßen Magazin wie in der kleinen Tageszeitung. Viele, wenn nicht die meisten Themen, lassen sich nicht nur als Text präsentieren, sondern auch in Tönen und bewegten Bildern. Packend erzählen lassen sie sich eh. Ob’s nun um indische Baumwoll-Bauern geht oder auch um einen Butterkuchen-Backwettstreit.

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