#nr15 Spezial | Interview
„Journalisten haben sich vom Bürger entfernt “

Wenn Journalisten als Lügner beschimpft werden, stellt sich die Frage: Was ist Wahrheit? Message fragt nach. Teil 1: Kommunikationswissenschaftler Hans Mathias Kepplinger

Ein Interview von Anna Ullrich

Message: Wie definieren Sie Wahrheit?
Kepplinger: Im strengen Sinne kann man den Begriff Wahrheit nicht definieren. Aber es gibt Kriterien für Wahrheit und für wahre Berichterstattung. Da ist einerseits der Inhalt, der korrekt sein muss. Ein zweiter Punkt ist die Gewichtung der Information, die angemessen sein sollte. Man kann mit vielen richtigen Informationen auch falsche Vorstellungen verbreiten. Man kann mit richtigen Informationen sogar lügen, wenn man sie geschickt verpackt.

Hans Mathias Kepplinger leitete das Institut für Publizistik der Universität Mainz.

Hans Mathias Kepplinger leitete das Institut für Publizistik der Universität Mainz.


Warum ist es manchmal so schwierig die Wahrheit zu finden?

Weil Informationen fehlen. Dazu kommt die falsche Interpretation von richtigen Informationen. Oft ist es so, dass Informationen an sich keine Bedeutung haben. Ohne richtige Einordnung sind sie wertlos oder sogar irreführend.

Wie beurteilen Sie vor diesem Hintergrund den aktuellen Journalismus?
In der täglichen Berichterstattung bekommen wir in Deutschland viele präzise und richtige Informationen. Das ist eine enorme Leistung. Ich kann mir keine andere Institution vorstellen, die diese Leistung erbringen könnte. Ganz anders sieht es bei der Berichterstattung über die sogenannten „Skandale“ aus. Hier sind die Informationen oft grob irreführend und geleitet von subjektiven Urteilen der Berichterstatter, die sich im Rückblick oft als krass falsch herausstellen.

Glauben Sie, dass das der Grund für den wachsenden Vertrauensverlust in deutsche Medien ist?

Es ist ein Grund. Man kann die Leute nicht immer wieder mit übertriebenen, falschen, verzerrten Darstellungen folgenlos in die Irre führen. Überlegen Sie mal wie viele Skandale es gab, die sich letztlich in Luft aufgelöst haben. BSE, SARS, die Vogelgrippe oder die Skandalisierungen von Wulff und Tebartz van Elst. Ich will nicht bestreiten, dass es Missstände gab. Es ist Aufgabe der Medien diese zu benennen und in die Öffentlichkeit zu bringen. Aber die Art und Weise wie die Missstände aufgeblasen wurden, ist einfach grotesk.

Ist der Vorwurf „Lügenpresse“ also nachvollziehbar?
Diese Etikettierung geht am Problem vorbei. Das Problem besteht nicht darin, dass Journalisten oder Medien lügen. Das würde bedeuten, dass sie gegen besseres Wissen absichtlich die Unwahrheit berichten. Das Problem besteht darin, dass ein Teil der Journalisten glaubt, es besser zu wissen und die Realität, die andere erkennen, nicht mehr wahrnimmt. Diese Journalisten haben sich vom Meinungsspektrum der Mehrheit der Bevölkerung entfernt. Es gibt eine extreme In-Group-Orientierung unter Journalisten mit der Konsequenz, dass sich bei Skandalen oder Krisen innerhalb des Journalismus in kürzester Zeit verfestigte Meinungen herausbilden, die sich gegenseitig bestätigen, nach kurzer Zeit als Wahrheit gelten, am Ende aber als heiße Luft erweisen.

8. Juli 2015