Interview | Wirtschaftsjournalismus
„Es geht um die Leser in ihrer Rolle als Verbraucher“

Im Doppelinterview sprechen die Wirtschaftsjournalisten Jens Bergmann (brand eins) und Jan-Henrik Petermann (dpa) über das neue Selbstverständnis ihres Berufszweigs und erklären, wie sie trotz oft fehlender Auskunftspflichten für Unternehmen an Interna kommen. Das Gespräch führte Messsage-Herausgeber Volker Lilienthal zum Auftakt einer Projektwerkstatt „Wirtschaftsjournalismus“ an der Universität Hamburg.

 

Message: Unterscheidet sich der deutsche Wirtschaftsjournalismus vom Wirtschaftsjournalismus in anderen Ländern?

Jens Bergmann: Die Wirtschaftspublizistik hierzulande ist im Vergleich zu der angelsächsischer Länder – wo Blätter wie der »Economist« Millionenauflagen erreichen – klein, aber vielfältig. So betrachten beispielsweise das »Manager Magazins«, »brand eins« oder die »Wirtschaftswoche« die Ökonomie aus unterschiedlichen Perspektiven.

Was heißt das für Ihre tägliche Arbeit?

Bergmann: Ich finde es angenehm, dass dieses Themenfeld noch nicht so abgegrast ist, auch weil viele Journalisten Berührungsängste haben. Wirtschaft erscheint ihnen kompliziert und trocken, deshalb bevorzugen sie andere Ressorts. Sportjournalisten haben aber zum Beispiel das Problem, dass heute fast jeder Regionalliga-Kicker einen Medienberater hat und entsprechend glatt auftritt. In der Unternehmensberichterstattung – besonders bei Mittelständlern – trifft man dagegen noch auf Persönlichkeiten, die noch nie mit einem Journalisten gesprochen haben. Es ist nicht ganz leicht, an diese Leute heranzukommen, doch wenn es gelingt, bekommt man authentische Einblicke in die Herzkammer der deutschen Wirtschaft.

Die Wirtschaftsjournalisten Jens Bergmann (r.) und Jan-Henrik Petermann (l.) zu Gast bei Prof. Dr. Volker Lilienthal in der Projektwerkstatt „Wirtschaftsjournalismus“ an der Universität Hamburg.

Wirtschaft gehört zu den Kern-Ressorts jedes universal informierenden Mediums, gleichzeitig ist es eine Form des Fach-Journalismus. Würden Sie dieser Aussage zustimmen?

Jan Petermann: Es gibt sehr gute fachjournalistische Publikationen und Zeitschriften. Was wir bei der dpa machen, ist aber eher das Gegenteil. Wir wollen für den interessierten Laien schreiben, ökonomische Themen einordnen und erklären, Schnittstellen zu anderen Ressorts wie der Politik schaffen. Uns geht es nicht so sehr darum, für Experten über Experten zu berichten, so wie es im deutschen Wirtschaftsjournalismus lange der Fall war. Heute möchte man kein Fach-, sondern ein Verbraucherpublikum ansprechen. Es geht um die Leser in ihrer Rolle als Arbeitnehmer, Steuerzahler, als kritischer Verbraucher oder Kunde von Unternehmen. In der Agenturarbeit gilt schon seit längerem das Ziel: weg vom Expertenjournalismus, hin zum Verbraucherjournalismus.

Gilt das auch für brand eins?

Bergmann: Unsere Zielgruppe ist die heterogenste aller Wirtschaftsblätter hierzulande. brand eins wird von Unternehmern und Managern gelesen, von Freiberuflern, Angestellten, Beamten, Studenten und Schülern. Auch deshalb bemühen wir uns, allgemein verständlich zu schreiben und Fachvokabular zu meiden.

Die Konstellation bei der dpa ist besonders: Sie müssen den allgemein interessierten Leser im Auge behalten, gleichzeitig haben Sie Business-Kunden.

„Die Gefahr kann groß sein, an den Publikumsinteressen vorbeizuschreiben“

Petermann: Die eine, klar umrissene Zielgruppe gibt es natürlich nicht. Ein Spezifikum von Nachrichtenagenturen ist, dass wir oft keinen unmittelbaren Draht zu unseren Nutzern haben. Illustriert wird dies etwa von dem Bild der „zwei Hügel“: Vor uns als Nachrichtenagentur liegt ein Hügel, dahinter sind zunächst unsere Kunden. Danach kommt der zweite Hügel, und hinter dem sind erst die eigentlichen Endnutzer. Lange wussten wir in manchen Situationen gar nicht genau, was unser Publikum hinter dem zweiten Hügel von uns erwartet. Ziel muss es daher sein, mehr über diese Leser zu erfahren. Die Gefahr kann sonst groß sein, an den Publikumsinteressen vorbeizuschreiben.

Allgemein gefragt, was sind die wichtigsten Funktionen von Wirtschaftsjournalismus im Verhältnis zur Wirtschaft? Ist das Begleitung und Beobachtung, Kritik und Kontrolle oder von allem ein bisschen?

Bergmann: Der erste Schritt ist Aufklärung über ökonomische Zusammenhänge. Auf betriebswirtschaftlicher Ebene ist das relativ einfach, auf volkswirtschaftlicher schwieriger. Man denke nur an die Weltfinanzkrise 2008, die für die meisten Politiker, Banker, Spekulanten, Journalisten und auch Ökonomen überraschend kam – und noch lange nicht ausgestanden ist. Das herrschende Finanzsystem ist kompliziert, betrifft aber alle Menschen. Daher sollten wir den Lesern die Wichtigkeit dieses und anderer relevanter Themen vermitteln und ihnen die Scheu vor der Ökonomie nehmen. Schließlich sind wir alle auch wirtschaftliche Akteure, zum Beispiel als Arbeitnehmer, Konsument oder Sparer.

Petermann: Die Funktionen von Wirtschaftsjournalismus unterscheiden sich grundsätzlich nicht von Journalismus in anderen Segmenten: Informieren, Orientierung bieten, Erklären, Kontext schaffen. Wirtschaft hat allerdings zum größten Teil mit Erklären und dem Herstellen von Transparenz zu tun. Als Autor eines Artikels sollte man sich früh im Klaren darüber sein, wie man Themen transportiert und sprachlich angemessen darstellt, damit sich der Leser zwischen den Zeilen eine eigene Meinung bilden kann. Nachrichtenagenturen dürfen im Gegensatz zu anderen Formaten jedoch keinen offenen Kommentar schreiben, das heißt keine Tipps geben oder den Lesern direkt zu etwas raten oder von etwas abraten. Verbraucherjournalismus, wie wir ihn bei dpa verstehen, bedeutet daher vor allem, dass man einen sehr hohen Erklär-Anteil hat.

Was ist mit der Kontrollfunktion des Journalismus? Den Abgasskandal in der Automobilbranche deckten keine Wirtschaftsjournalisten auf. Wie kritisch ist der Wirtschaftsjournalismus tatsächlich, und fehlt ihm manchmal das Sensorium, kritische Entwicklungen frühzeitig zu entdecken?

Bergmann: In meiner Wahrnehmung gibt es keinen Mangel an kritischen Berichten und investigativen Recherchen. So leben Wirtschaftskriminelle heute gefährlicher denn je, weil Missstände im Internet-Zeitalter sehr schnell öffentlich gemacht werden können. Ein auf dem Gebiet tätiger Anwalt hat mir mal gesagt: „Der Deutsche hat im Zweifel irgendwo eine Akte. Zum Beispiel, um sich abzusichern und zu dokumentieren, wer ihm heikle Anweisungen gab. Auch daher gilt: Am Ende kommt alles raus.“ Das zeigt sich ja nun auch beim Abgas-Skandal.

„Zu sehr mit Samthandschuhen angefasst“

Petermann: Problematisch wird es, wenn Journalisten und Wirtschaftsvertreter zu eng miteinander arbeiten oder im schlimmsten Fall sogar unter einer Decke stecken. Sicherlich hätten Journalisten etwa das Thema Abgas-Tests schon vorher kritischer untersuchen können. Und auch nachdem der Stein dann ins Rollen gebracht wurde, gab es einige Journalisten, die die Automobilindustrie noch mit Samthandschuhen angefasst haben. Man muss sich allerdings auch im Klaren darüber sein, welche Verantwortung man bei diesen Themen hat. Wenn ein Journalist seinen Artikel voreilig oder auf einer unsicheren Quellenbasis veröffentlichen würde, könnte das am Ende dazu führen, dass er als Urheber der Nachricht auch juristisch belangt werden kann, sollten die kritisierten Personen oder Unternehmen dagegen vorgehen.

Sorgfalt geht natürlich vor. Aber gab es vielleicht zu lange ein blindes Vertrauen der Redaktionen in die Automobilhersteller?

Bergmann: Eine Besonderheit des Wirtschaftsjournalismus ist, dass besonders Großunternehmen ein Heer von PR-Leuten beschäftigen, um sich gut darzustellen. Gegen diese Übermacht anzuarbeiten, ist zuweilen wahnsinnig anstrengend.

Petermann: Dem kann ich zustimmen. Große PR-Apparate können die Arbeit teilweise erheblich beeinflussen. Da hat eine riesige Machtverschiebung stattgefunden. Das, was diese PR-Abteilungen freiwillig an Informationen für Journalisten bereitstellen, ist oft zudem das, was uns überhaupt nicht interessiert. Viele Pressesprecher kommen allerdings selbst aus dem Journalismus. Die wissen natürlich, auf welche Informationen man abzielt. Generell ist es daher von Vorteil, Netzwerke aufzubauen. Dann kann in einer Krisensituation auch der Anruf bei einem Pressesprecher äußerst hilfreich sein, wenn man ein entsprechendes Vertrauensverhältnis entwickelt hat. Eine gute Geschichte schreibt man aber in den seltensten Fällen allein auf Basis von Gesprächen mit den professionellen Kommunikatoren. Andere Mitarbeiter sind dafür meistens die lohnenderen Quellen.

„Es gibt kaum Auskunftsrechte“

Wenn man verschiedene Formen von Journalismus vergleicht, fällt auf, dass es unterschiedliche Freiheitsgrade der Kritik gibt. In der politischen Berichterstattung muss sich jeder Politiker Kritik jeglichen Ausmaßes gefallen lassen. Im Kulturjournalismus muss es sich jeder Künstler gefallen lassen, wenn der Kritiker schreibt, das war sein schwächstes Werk. Für Wirtschaftsjournalisten gilt das in diesem Maß nicht. Unternehmen können auf Kritik zum Beispiel mit Anzeigenentzug oder, im schlimmsten Fall, zivilrechtlichen Schadensersatzklagen reagieren. Ist das ein Problem des Wirtschaftsjournalismus?

Petermann: Natürlich ist man sich des Risikos bewusst, das hält uns jedoch nicht von kritischer Berichterstattung ab. Besonders heikle Themen werden zusätzlich auch immer mit der Rechtsabteilung besprochen, um mögliche Gegenmaßnahmen der Unternehmen vorher abschätzen zu können.

Bergmann: Eine gewisse Hürde ist, dass Unternehmen – anders als Behörden – gegenüber der Presse nicht auskunftspflichtig sind. So beißt man bei manchen Firmen auf Granit, was ich persönlich bedauerlich finde. Aus Sicht eines Unternehmens kann es allerdings durchaus sinnvoll sein, auf Öffentlichkeitsarbeit weitgehend zu verzichten. Aldi fährt seit Jahrzehnten gut damit.

Wie kommen Sie in so einem Fall an Informationen?

Bergmann: Organisationen lassen sich in Zeiten der Digitalisierung nicht mehr total abschotten. Journalisten können zum Beispiel über soziale Medien Kontakt zu Mitarbeitern aufnehmen oder schauen, was Menschen auf Bewertungsplattformen über ihre Arbeitgeber schreiben. Wer hartnäckig sucht, wird immer einen Zugang finden.

Vor fünf Jahren, nach der Euro-Schuldenkrise, gab es viel Kritik am Wirtschaftsjournalismus. Zum einen wurde dem Wirtschaftsjournalismus vorgeworfen, als Frühwarnsystem versagt zu haben. Zum anderen wurde kritisiert, dass vor allem deutsche Medien eine germanozentristische Sichtweise eingenommen hätten. Ist da etwas dran?

Petermann: Natürlich, da müssen sich vor allem deutsche Medien an die eigene Nase fassen. Man hat diese Krise vielerorts nicht wirklich kommen sehen, wobei das aber auch auf etliche Wirtschaftswissenschaftler und Politiker zutrifft. Hintergründe und Erklärungen haben gefehlt. Viele wussten nicht, was überhaupt passiert ist. Das ist mit der Zeit besser geworden. Aus meiner Sicht war es nicht so problematisch, dass der Wirtschaftsjournalismus die Krise nicht hat kommen sehen. Das Problem war, dass die Medien mit Beginn der Krise keine oder jedenfalls viel zu wenige Erklärungen geliefert haben. Das Problem wurde benannt, es wurde nach einem Schuldigen gesucht. Die Mechanik dahinter – von einer regionalen Immobilien- über eine internationale Finanz- und eine globale realwirtschaftliche bis zu einer Staatsschuldenkrise – wurde allerdings nicht hinreichend detailliert aufgezeigt.

Ein weiterer Vorwurf an Wirtschaftsjournalisten war lange Zeit, dass sie managerorientiert und unternehmensorientiert berichten würden. Der neue Wirtschaftsjournalismus ist, wie anfangs erwähnt, mehr am Verbraucher orientiert. Zeugt das von einem gewachsenen Interesse an der Arbeitswelt?

„Leute dazu bringen, sich um Kopf und Kragen zu reden“

Petermann:  Es gibt natürlich noch Kollegen der alten Schule, die sehr firmenorientiert berichten. Das Bewusstsein für eine andere Ansprache der Leser hat aber generell zugenommen. Dafür war die Wirtschaftskrise ein guter Katalysator, denn danach haben sich viele Wirtschaftsjournalisten selbst hinterfragt. Es ist deutlich geworden, dass man dem Leser gegenüber eine Verantwortung hat.

Bergmann: Arbeitswelt ist ein gutes Stichwort, denn das Büro oder die Werkshalle ist ja auch eine Theaterbühne, auf der geliebt, gehasst, um Positionen und Macht gerungen, getäuscht und intrigiert wird. Ein Thema, das in jüngerer Zeit verstärkt von Film und Fernsehen aufgegriffen wird. Ein Pionier auf diesem Gebiet war der Dokumentarfilmer Harun Farocki, dem es gelang, hinter die Kulissen in Unternehmen zu blicken und Leute zuweilen dazu zu bringen, sich um Kopf und Kragen zu reden. Für mich ist das eine faszinierende Form des Wirtschaftsjournalismus.

Was ist dran am Vorurteil, Wirtschaftsjournalismus sei bloß nüchterne Berichterstattung mit unendlichen Zahlenkolonnen?

Petermann: Im Idealfall besteht moderner Wirtschaftsjournalismus nicht mehr aus Zahlenkolonnen. Es gibt sogar Kollegen, die dafür plädieren, Zahlen komplett aus dem Artikel auszulagern. Diesen Ansatz finde ich ein bisschen extrem. In einen guten Bericht gehören die wesentlichen Zahlen rein, egal ob ich über ein Unternehmen oder ein volkswirtschaftliches Thema berichte. Aber man sollte sich stets auf die wesentlichen Werte konzentrieren.

Bergmann: Wirtschaftsjournalismus ist einfach nur Journalismus – allerdings spannender, weil es um den Aufstieg und Fall von Unternehmen geht, um Jobs und Existenzen, um die Art, wie wir unseren Wohlstand erarbeiten und verteilen. Um das pralle Leben also.

24. Januar 2019