Medientrends
Totgeschrieben – na und?

Ob Kachelmann oder Benaissa: In der Berichterstattung istder Grat zwischen Persönlichkeitsrechten und öffentlichemInteresse oft schmal. Message fragte Journalisten, nach welchenKriterien sie abwägen und wie sich die Situation in ihrem Landentwickelt hat.

von Rainer Stadler

Das System ausPersönlichkeitsrechten und öffentlichem Interessefolgt in Italien eigenen Regeln. Politiker, seien sie Mitglied desParlaments, Minister oder Stadträte, werden in derBericht­erstattung aus ethischen Gründen wenigerge­schützt. Als ein Angehöriger des Parlaments in einemLuxus-Hotel in Rom während einer Sex- und-Drogen-Orgie mit einerProstituierten ertappt wurde, waren wir Journalisten befugt, seinenNamen zu nennen – allein schon deshalb, weil seine Partei einGesetz zum Schutz der Familie unter­stützt.

Ein anderes Beispiel: Im Juli musste einStaats­sekre­tär aus dem Kabinett zurückreteten, daer in Mafia-Geschäfte verstrickt war. Er ist immer noch Mitgliedin der Partei von Silvio Berlusconi. Ebenso behielt er seinen Posten imParlament, weil die kleine Kammer den Haftbefehl des Magistrats ausNeapel zurückwies. Die Staatsanwaltschaft durfte auchabgehörte Telefongespräche nicht gegen ihn verwenden. MeineZeitung entschied sich, die Gespräche zu veröffentlichen, indenen der Mann mit Leuten spricht, die zur Camorra, derneapolitanischen Mafia, gehören. Wir nahmen an, das sei imInteresse der öffentlichen Meinung.

Leo Sisti ist investigativer Reporterder italienischen Wochenzeitung L‘Espresso.

Am Fall Benaissa wurde dieGratwanderung zwischen Persönlichkeitsrechten undInformationspflicht besonders deutlich. Die Staatsanwaltschaft hattedie Sängerin öffentlich festnehmen lassen und mitgeteilt, siesei HIV-positiv, habe mehrfach ungeschützten Geschlechtsverkehrgehabt und einen Mann angesteckt. Es bestehe Wiederholungsgefahr. DieMedien, die diese Informationen wunschgemäßveröffentlichten, wurden später von der Justiz belangt: Siehätten prüfen müssen, so die Pressekammern, ob dieMitteilungen der Strafverfolger überhaupt rechtens gewesen seien.Vom Journalisten werden also bessere Rechtskenntnisse verlangt als vonder Staatsanwaltschaft.

Im Fall Kachelmann gelangte sehr früh eine Fülle vonintimen Details an bestimmte Medien, die damit eine Negativ-Kampagne zuLasten des Beschuldigten betrieben, wie es sie bis dato nicht gegebenhat. Beim Spiegel wird die Privat- und Intimsphäre von Personen,über die zu berichten ist, streng beachtet. Überdies gibt esGrenzen der Berichterstattung, die jeder Journalist für sichselbst definieren muss. Nicht alles, was gerade noch erlaubt ist, mussum jeden Preis auch veröffentlicht werden. Der Trend, die Stoffeder Justiz in den Medien zur Unterhaltung zu nutzen, setzt sich fort.Vergleichbare Fälle sind Fritzl und Kampusch in Österreichoder Dutroux in Belgien. Auch da wurde uferlos berichtet undvorverurteilt.

Gisela Friedrichsen istGerichtsreporterin beim Spiegel in Hamburg.

Österreich hat so wenigeProminente – und die es gibt, freuen sich normalerweiseüber Berichterstattung. Einzig der frühere FinanzministerKarl-Heinz Grasser will nur in nicht delikaten Positionen dargestelltwerden. Eine solche Situation war gegeben, als der damals scheinbar fixLiierte die Kristallerbin Fiona Swarovski auf dem Pariser Flughafenwild küsste und sich dabei von österreichischen Schülernerwischen ließ, die die Fotos an News verkauften. Das Magazinmusste ihm prompt 7.000 Euro zahlen. Als die Bild-Zeitung Fotos von ihmabdruckte, die ihn in grüner Badehose »bei intimenHandlungen auf Capri« mit Fiona zeigten, forderten Grasser undseine nunmehrige Frau je 60.000 Euro. Sie beriefen sich dabei auf dassogenannte Caroline-Urteil.

Da Grasser in den vergangenen Monaten in Zusammenhang mit diversenSkandalen, bei denen es um Millionenprovisionen geht, von der Justizvernommen wurde, scheut er seither das Kameralicht. Aber gerichtlichist er bisher noch nicht dagegen vorgegangen. Zu Prominenz hat es auchJosef F. gebracht – jener Kinderschänder, der seine Tochter24 Jahre lang in einem Kellerverlies gefangen gehalten und mit ihrsieben Kinder gezeugt hat. Sein Familienname ist weltweit bekannt.Dabei verbietet das österreichische Mediengesetz die volle Nennungdes Namens, um die Opfer zu schützen. Das ist nicht respektiertworden, auch deutsche Medien haben sich nicht daran gehalten. ErsteUrteile gibt es in dieser Causa schon: So ist Der Spiegel wegenVerletzung des Persönlichkeitsrechts der Ehefrau zu einerGeldstrafe verurteilt worden. Ebenso die taz wegen Verletzung desIdentitätsschutzes der Tochter.

Dr. Alexandra Föderl-Schmidist Chefredakteurin des Standard in Wien.

Die Affäre Kachelmannhat auch in den Schweizer Medien große Beachtung gefunden, zumalder Wettermoderator bei uns ebenfalls zu den größerenFiguren der Unterhaltungsindustrie zählt. Die NZZ publizierte biszum Prozessbeginn einen einzigen längeren Artikel zum Thema, sonstnur Nachrichten. Für uns zählt Kachelmann nicht zu denrelevanten Personen der Zeitgeschichte. Zudem steht die Tat, die ihmvorgeworfen wird, in keinem Zusammenhang mit seiner öffentlichenTätigkeit. Aus diesen Gründen berichteten wir sehrzurückhaltend.

Es mag rigide sein, aber ich nannte in meiner ersten Kritik an derArt der Berichterstattung über den Fall (am 30. März 2010)nicht einmal Kachelmanns Namen. Zum Auftakt des Prozesses informiertenwir ausführlicher. Einerseits können wir nicht ignorieren,dass der Fall weit herum Aufsehen erregt hat. Ander­seits pflegtdie NZZ seit Jahren die Ge­richtsberichter­stattung. Wirberichteten also im Rahmen der bisherigen Praxis. Einige intimereDetails wurden nach Prozessbeginn auch in der NZZ genannt. Andernfallshätten wir über einen Prozess, bei dem es um den Vorwurf derVergewaltigung geht, gar nicht plausibel informieren können. Dochübten wir auch hier so weit wie möglich Zurückhaltung,weil die Persönlichkeitsrechte der Betroffenen zuberücksichtigen sind.

Rainer Stadler ist Medienredakteur beider Neuen Zürcher Zeitung.

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