Editorial

Liebe Leserinnen, Liebe Leser
Michael Haller

erinnern Sie sich noch an den atemberaubenden Bericht im Spiegel über verschiedene international renommierte Hilfsorganisationen, darunter auch deutsche, die mehrere Milliarden Euro für Projekte in der Dritten Welt einkassiert, dann aber verprasst und verpulvert haben? Der Bericht erschien Ende März 2005 – lange her. Auch ich hatte ihn bald vergessen.

Er blieb ja auch folgenlos, jedenfalls löste er bis heute keine Nachrecherchen, harte Interviews oder Reportagen aus. Andere Themen sind wichtiger: die Geliebte des Landwirtschaftsministers, Paris Hiltons begrenzte Autofahrkünste oder Frau von der Leyens druckfertig gelieferten Wunschvorstellungen zur Mutterrolle.

Man kann viel schwadronieren über vergessene Nachrichten – das Problem sitzt tiefer. Es betrifft – so unser Eindruck – die zunehmende Ignoranz zahlreicher Medien gegenüber Vorgängen, die weder Glitzer noch Glamour haben; die noch nicht von DPA konfektioniert wurden; die nicht in der Bild-Zeitung skandalisiert und nicht von Herrn Kerner beredet wurden. Vorgänge, die untersucht und aufgedeckt werden sollten, weil sie auf Unrecht verweisen. In Demokratien gehört es seit mehr als hundert Jahren zum Job des Journalismus, auf Abseitiges zu achten, kritisch nachzufragen und Missstände aufzudecken. Erinnern Sie sich?

Billig produzierter Journalismus folgt dem Mainstream, weil er keine Antennen besitzt für abseitige Vorgänge und Themen. Weil ihm das Knowhow fehlt, um Machenschaften auf die Spur zu kommen. Lowbudget-Journalismus agiert ziellos; er braucht den Mainstream als Navigationssystem. Wenn aber jeder guckt, was die anderen machen, um es selbst zu machen, wird der Mainstream zur Meinungsmacht, die das Abweichende unterdrückt. Selbstreferenz nennen dies die Medienwissenschaftler und meinen damit, dass der Journalismus in dieser Hinsicht nicht richtig funktioniert.

Mehrere unserer Autoren behandeln genau dies: wie der themenblinde Mainstream-Journalismus nur noch sieht, was alle sehen, und nur schreibt, was die anderen auch sagen. Zum Beispiel der erstaunliche Bericht des US-amerikanischen Rechercheurs Seth Shulman, der geradezu kriminelle Manipulationen der Bush-Administration enthüllte – im Auftrag einer Lobbyorganisation, denn keine Redaktion war auf die Idee gekommen, in dieses Wespennest zu pieksen. Zum Beispiel die bundeswehrfixierte Afghanistan-Berichterstattung: Auch wenn man manches anders sieht als unser Autor, so teilt man seine Kritik am flüchtig-oberflächlichen Berichterstattungsmuster. Oder der Bericht unseres Autors über eine (ansonsten exzellente) Zeitung, deren Redakteure eine als Information getarnte politische Propaganda eins zu eins übernahmen, nur, weil die Botschaft das eigene Vorurteil bestätigt und kritisches Nachhaken vergessen macht.

Wenigstens gelegentlich gegen den Strich bürsten: Dies ist doch eigentlich nicht zu viel verlangt, denkt sich

Michael Haller

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