Partizipativer Journalismus
»Wir sind doch nicht YouTube!«

Eine Studie zeigt die Partizipationsstrategien führender On-line-Medien im internationalen Vergleich: Leser liefern Informationen und Meinungen, aber die Verantwortung bleibt beim Journalismus.

von Thorsten Quandt und Ansgar Koch

Mancher entfesselte Nutzerkommentar in Onlinezeitungen trifft Journalisten hart und sorgte in der Vergangenheit auch schon für öffentliche Gegenreaktionen der Getroffenen. So identifizierte der SZ-Redakteur Bernd Graff in einem viel beachteten und viel diskutierten Beitrag auf sueddeutsche.de »die neuen Idiotae» im »Web 0.0«, einen »Debattierklub von Anonymen, Ahnungslosen und Denunzianten« (7.12.2007). Und Stern-Journalist Hans-Ulrich Jörges wetterte dereinst gegen die Partizipation der Leser noch drastischer: »Die guten Redaktionen sollten ihre Siele geschlossen halten, damit der ganze Dreck von unten nicht durch ihre Scheißhäuser nach oben kommt« (27.6.2007).

Doch selbst internetaffine Journalisten wie der Bildblog-Macher Stefan Niggemeier konstatieren, dass auch die Leser lernen müssten, nicht »einfach überall kleine Empörungsrülpser hinterlassen zu können«. Gleichsam mahnte Niggemeier an, dass auch die Medien lernen müssten, »massiv in die Betreuung ihrer Communities zu investieren« (17.3.2007).

Es geht bei diesen Auseinandersetzungen um mehr als nur um den Umgang mit pöbelndem Publikum oder den gekränkten Stolz einzelner Mitglieder der schreibenden Zunft. Die Diskussion um Nutzerkommentare und Foren ist nur Teil einer umfassenderen Debatte, bei der es um nicht mehr und nicht weniger als die Identität und die Zukunft des Journalismus geht. Denn die Frage in Zeiten des sozialen Netzes mit einer Vielzahl an partizipativen Angeboten ist: Braucht man noch den Journalisten als Gatekeeper, wenn die Schleusentore der Kommunikation für alle weit offen stehen? Oder bedarf es einer Neudefinition des professionellen Journalismus, seines Charakters und seiner Aufgaben – weg vom Generator hin zum Moderator für Inhalte, die dann nicht mehr von Profis, sondern vom Publikum geliefert werden?

Mitmach-Journalismus als Menschenrecht

Im internationalen Kontext werden solche Ideen schon seit geraumer Zeit diskutiert, zum Teil mit wesentlich positiveren Konnotationen als dies hierzulande der Fall ist.

In seinem vielbeachteten Buch »We the media« beschreibt der US-Amerikaner Dan Gillmor einen neuen »Graswurzel-Journalismus« von Bürgern für Bürger (2004). Der britische Forscher John Hartley fordert den Journalismus gar als »Menschenrecht« (2005) ein, von dem alle Gebrauch machen sollen. Und der New Yorker Journalismusprofessor Jay Rosen spricht von den »Leuten, die man früher als Publikum kannte« (27.6.2006) – und meint damit die aktiven Nutzer, die eben nicht mehr stumme Rezipienten der durch Journalisten generierten Inhalte seien.

Freilich gibt es auch kritische Stimmen: So warnt der holländische Medienexperte Mark Deuze davor, dass man vielleicht auch bald von den »Leuten, die man früher als Arbeitgeber kannte« (25.10.2008), sprechen müsste – weil durch die Einbeziehung des Publikums zunehmend professionelle Arbeitsverhältnisse unterminiert werden. Und auch die Diskussion über die Qualität der nutzergenerierten Inhalte im Netz wird zunehmend kritisch geführt – nicht nur in Deutschland.

Insofern lässt sich eine durchaus widersprüchliche Situation konstatieren: einerseits euphorische Visionen eines durch Leser verstärkten, mithin demokratischeren Journalismus, andererseits Untergangsszenarien einer in der Masse qualitätsloser Web-Dilettanten versinkenden Profession.

Diese Ausgangsbeobachtung bot den Anlass für ein internationales Forschungsprojekt zum Umgang mit nutzergenerierten Elementen in den journalistischen Mainstream-Medien des Internets. Rund 60 Experten-interviews mit den Chefredakteuren, Online-Redakteuren und Community-Managern der führenden Nachrichten-seiten in zehn Ländern wurden geführt, um die Partizipationsstrategien in unterschiedlichen Medien und Nationen umfassend beschreiben zu können. Zu den untersuchten Medien gehören u.a. die Online-Ableger von USA Today, Washington Post, The Times, The Guardian, El País, Le Figaro, Le Monde, Spiegel, Focus, Süddeutsche Zeitung und Frankfurter Allgemeine Zeitung.

Partizipationsstrategien im Vergleich

Die Ergebnisse der Interviews und Analysen zeigen, dass es auch international keine einheitliche Herangehensweise an das Thema gibt: Ambivalente Einstellungen zur Nutzerpartizipation finden sich in fast allen untersuchten Nationen. Die Begeisterung in manchem Medium und Land ist stärker ausgeprägt als andernorts.

So scheinen im amerikanischen und spanischen Raum positivere Sichtweisen zu dominieren. Denn die dortigen Online-Medien haben einen hohen Anteil an ausländischen Nutzern: bei den spanischen Medien aus Lateinamerika, bei den englischsprachigen aus der ganzen Welt. Die Journalisten erfahren aus Kommentaren und Forendiskussionen viel über ihr Publikum und dessen Interessen, können also ihre journalistische Arbeit zielgruppenspezifischer gestalten. Auch sieht man den User dort als Inspiration für Geschichten und als Informationslieferanten.

Selbst kleine Informationsschnipsel könnten zusammengenommen einen Wert haben, wie Arsenio Escolar, Chefredakteur der spanischen Boulevardzeitung 20 Minutos, im Interview betont: »Die Bürger sind wie kleine Quellen klaren Wassers, die zusammengenommen eine substanzielle Quelle ergeben.« Bei 20 Minutos werden die Leser in die Produktion der Inhalte mit einbezogen, so eine Redakteurin für Web-Management: »Unser Ziel ist es, dass 60 Prozent des Inhalts der Homepage von den Nutzern kommen. So werden die Nutzer feststellen, dass unsere Webseite alles ihnen verdankt, und sie werden dadurch weiter partizipieren.«

Das hat viel mit Publikumsbindung zu tun, aber auch mit der kostengünstigen – bestenfalls sogar kostenlosen – Produktion von Inhalten. Ein britischer Online-Redakteur räumt im Interview mit leicht ironischem Unterton ein: »Die Sachen haben im Allgemeinen den großen Vorteil, dass sie magisch sind. Du kannst 120.000 Worte an Kommentaren über das britische Reise- und Transport-system produzieren, ohne dass du sie selbst schreiben musst. (…) Alles in allem ist das eine ziemlich effiziente Art, Dinge zu erledigen.«

Nutzerinhalte sind nicht kostenfrei

Allerdings hat sich international die Erkenntnis durchgesetzt, dass nutzergenerierte Inhalte zwar nicht bezahlt werden, aber mitnichten kostenlos zu bekommen sind. Die anfängliche Euphorie der Verlagsmanager ob des vermuteten Sparpotenzials durch User Generated Content (UGC) und Bürgerjournalisten ist einer weitgehenden Ernüchterung gewichen: Denn die Kosten fallen bei der Beantwortung von Leserzuschriften und -kommentaren, der Betreuung von Foren und der Sichtung von Themenvorschlägen und eingereichten Informationen an. Dementsprechend hält sich die Begeisterung bei manchen Journalisten in Grenzen – nicht nur, dass die Nutzer Kritik an deren Arbeit üben, sondern sie erfordern auch noch einen hohen Betreuungsaufwand. Dem einen oder anderen wird das deutlich zu viel, wie ein finnischer Redakteur im Interview offen zugibt: »Sicherlich, wir haben diese althergebrachten Einstellungen im Sinne von ›Müssen wir wirklich den Lesern antworten?‹ Und das Gefühl ist doch: ›Auf keinen Fall werden wir unsere Tage mit so was zubringen!‹«

In der Studie wurden die von den Interview-partnern genannten Motivationen systematisiert. Diese konnten als journalistisch/publizistisch, ökonomisch, technologisch, politisch identifiziert – oder als das »Unausweichliche« kategorisiert werden: Man muss es eben machen, weil es alle machen. Diese unterschiedlichen Grundmotivationen führen zu verschiedenen Arten des Umgangs mit nutzergenerierten Inhalten, und auch zu differierenden Arbeitsmustern sowie Rollen im Produktionsprozess. Manche Medienhäuser lassen die Journalisten mit den Lesern zusammenarbeiten, andere engagieren Community-Manager, um die Foren zu moderieren, wieder andere haben die Kommentar-Betreuung ausgelagert. Zu unterscheiden ist dabei zwischen einer tatsächlichen Beteiligung der Nutzer an der Produktion journalistischer Inhalte (was von der Ideen-Generierung über die Zulieferung von Informationsschnipseln bis hin zu kompletten Beiträgen gehen kann) und der Einbeziehung über Kommentare oder Community-Funktionen. Beide Typen sind oftmals klar getrennt, und vielfach haben die Mitarbeiter der Community-Betreuung nur wenig mit der eigentlichen journalistischen Produktion zu tun.

Journalisten sind Wächter und Moderatoren

In den Leitfadeninterviews wurde deutlich, dass die Einbeziehung der Nutzer als demokratischer Fortschritt im Journalismus gelobt wird. Allerdings will man dem Leser vielfach nur einen Spielplatz zum Austoben, in Form von geschlossenen Foren, zugestehen, welcher von einem Community-Moderator als Platzwart überwacht wird. Der Journalismus findet dann woanders – nämlich in den durch professionelle Journalisten gestalteten Nachrichten – statt.

Es gibt aber auch Gegenbeispiele: Redakteure bekommen Ideen und Informationen von Nutzern, insbesondere wenn es um den direkten Nahbereich geht. Dies wird auch von einem deutschen Redakteur unterstützt: »Für Journalisten ist es sehr wichtig, dass sie nicht an den Leuten vorbeischreiben und vorbeipublizieren, sondern das aufnehmen, was publiziert wird unter den Bürgern. Partizipation ist ein Seismograph für vorhandene gesellschaftliche Trends.«

Vielfach wird daraus ein Prinzip gemacht: Beliebt sind Angebote, in denen die Nutzer ihre Erfahrungen – beispielsweise mit Hotlines, dem Internet-Versand oder ihrem eigenen Chef – schildern können. Aber auch Erfahrungsberichte aus erster Hand bei aktuellen Geschehnissen werden häufig genannt. Bei Naturkatastrophen, Unglücken oder politisch-gewaltsamen Ereignissen sind Nutzer oftmals schneller vor Ort als Korrespondenten – und manchmal sind sie sogar die einzigen Informationsquellen.

Langweiliges von Otto Normalverbraucher

Allerdings birgt diese enge Zusammenarbeit mit Lesern – bis hin zur Übernahme von Text-, Bild- und Videomaterial – auch Risiken. Um diese zu minimieren, bedarf es eines aufwendigen Sichtungsverfahrens. Müssen Redakteure traditionell aus Massen von Agenturmaterial Relevantes auswählen, werden nun Kapazitäten zur Selektion von nutzergeneriertem Material aufgewendet.

Im Gegensatz zum Agentur-material ist aber keine durchgängige Qualität garantiert, die ein Nachrichtenmedium bieten muss. Viele Nutzer kommentieren aus einem Impuls heraus oder liefern zweifelhaftes Material, um ein Geltungsbedürfnis zu befriedigen. Zudem berichten die befragten Redakteure vielfach vom Typus des »Serien-Kommentators«, welcher letztlich zu allem und jedem etwas beizutragen hat, meist mit großer Vehemenz. Ein Redakteur bei El País sieht deshalb eine klare Differenz zwischen Journalismus und Mitmach-Medien im Netz: »Wir sind doch nicht YouTube! Wir veröffentlichen nichts, das nicht unseren Filter der Faktenprüfung und der journalistischen Strenge passiert hat.«

Qualitätskontrolle umfasst daher bei den meisten Medien sowohl eine inhaltliche wie sprachliche Prüfung – die übrigens fast nirgendwo vollständig automatisierten Verfahren überlassen wird: Letztlich müssen Menschen entscheiden, was angemessen, richtig und relevant ist. Gerade bei der Relevanz hapert es aber bei einem Großteil der nutzergenerierten Inhalte, wie ein finnischer Redakteur im Interview erwähnt: »Ich möchte auch mal daran erinnern, dass die Geschichten von Otto Normalverbraucher letztlich überhaupt nicht so spannend sind. Es ist ja eine nette Idee, die Leser den Zeitungsinhalt beeinflussen zu lassen, aber wenn es keine Filterung gibt, fürchte ich, dass die Leser nicht an den Geistesprodukten der anderen Leser interessiert sind.«

Journalistische Verantwortung im Internet

Hier erbringt die Studie dann auch ein eindeutiges Ergebnis über alle Länder und fast alle Medien hinweg: Die Gestaltung der Nachrichtensites in Bezug auf Struktur und Inhalte obliegt weiterhin den Journalisten. Kommentieren, diskutieren, zuliefern – das dürfen die Nutzer. Die letztgültige Entscheidung über die publizierten Inhalte treffen aber immer noch die Profis. Insofern skizzieren die Interviews eine Transformation des professionellen Journalismus im Internet – nicht aber sein Verschwinden.

Es wandeln sich nach Auffassung der Befragten zwar bestimmte Aspekte des journalistischen Handelns, welches nun in vielerlei Hinsicht wieder stärker mit dem Publikum rückgekoppelt wird. Die Zuschreibung zu einem journalistischen Medium beziehungsweise zu den journalistischen Kommunikatoren als Garanten für eine bestimmte Nachrichtenqualität bleibt aber ihrer Meinung nach erhalten – ob das zugrundeliegende Material nun von In-House-Journalisten, Agenturen, Experten oder eben den Nutzern kommt. Ein finnischer Redakteur bringt dieses Credo auf den Punkt: »Die finale Verantwortung liegt beim Journalisten – und dort wird sie auch in Zukunft sein.«

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