Wenn der Leser mitreden will

Tageszeitungen suchen mit ihrem Online-Auftritt die Nähe zu ihrenLesern. Eine Befragung deutscher Chefredaktionen zeigt: Die meistenRedaktionen wollen nichts weiter als Leser-Feedback.

von Annika Sehl

Die Redaktionsassistentin bleibt am Telefon hart: Relevant sei das Themaschon, keine Frage. Aber die Recherche sei zeitaufwändig –und damit für die Redaktion nicht machbar. Wenn der Leserin einArtikel darüber so wichtig sei, müsse sie ihn eben selbstrecherchieren oder am besten gleich auch schreiben.

Die Leserin hatte in der Redaktion der Gießener Zeitung angerufen. Die Zeitungbezeichnet sich selbst im Titelkopf als »Deutschlands ersteMitmach-Zeitung«. Das Prinzip: Leser schreiben zunächst imOnline-Portal ihre Texte. Die besten davon werden in einer Druckausgabezusammen mit Artikeln von professionellen Journalistenveröffentlicht.

Die gedruckte Ausgabe wird mittwochs und samstagsmit einer Auflage von 127.200 Exemplaren kostenlos an alle Haushalte inGießen und Umgebung verteilt. Zu lesen sind darin die Themen, diedie beteiligten Bürger interessieren: lokale Sportereignisse,Vereinsfeste oder die typischen Aufreger wie dieSupermarkt-Schließung. Ein Chronistenanspruch wie bei einertraditionellen Tageszeitung bestehe nicht, sagt Verlagsleiter RogerSchneider.

3.500 Nutzer füllen die Gießener Zeitung

»Etwa 60 bis 70 Prozent der Zeitungsbeiträge kommen in derRegel von den Bürgerreportern und nur 30 bis 40 Prozent von derRedaktion«, sagt Sabine Glinke, eine der nur zwei festangestellten Redakteurinnen. Doch das Verhältnis kann auchvariieren: »Gerade der Januar ist meist eine Saure-Gurken-Zeit,was Termine im Lokalen anbelangt. Da wir in der Gießener Zeitungkeine aufwändigen Recherche-Geschichten fahren, müssen wir jairgendwie das Blatt füllen. Weil es genug Leserbeiträge gibt,drucken wir in solchen Zeiten eben mehr davon.«

Rund 3.500 Nutzer haben sich seit Start des Portals im September 2008registriert, obwohl man dafür seinen vollen Namen angeben muss.Anonyme Texte sind nicht erlaubt. Durchschnittlich 35.000 Unique Userpro Monat besuchten die Webseite nach Angaben des Verlages im Jahr2009, 550.000 Page Impressions monatlich wurden gezählt.»Die Themen im Portal sind sehr breit gestreut. Besonders beliebtbei den Bürgerreportern sind Sport, Natur und vor allemLokales« sagt Nicolas Fromm, der bis Februar Verlagsleiter warund das Portal mit aufbaute.

Zwischen Anzeigenblatt und Tageszeitung

Der Verlag sieht sich mit seinem Produkt oberhalb einesAnzeigenblattes, aber unterhalb einer traditionellen Tageszeitungpositioniert. Ziel sei zum einen, durch die Idee der Mitmach-Zeitungeinen neuen Markt zu erschließen und zum anderen, eine Lückeim Verbreitungsgebiet der beiden beteiligten Verlage zuschließen. Durch die Zeitungsneugründung sei es nunmöglich, Anzeigenkunden erstmals eine komplette Belegeinheit vonNord- bis Südhessen zu bieten.

Das Internetportal sowie die gedruckte Zeitung arbeiten komplett mit der webbasiertenPublishing-Lösung des Augsburger Unternehmens Gogol Medien, dasauch hinter dem Portal Myheimat.de steht. Diese Softwareermöglicht es mit sehr geringem Aufwand, aus der Webseite eineZeitung zu produzieren. Die ökonomische Rechnung derGießener Zeitung ist einfach: Geringer redaktioneller undtechnischer Aufwand plus attraktives Anzeigenumfeld durch hoheLeser-Blatt-Bindung ist gleich Gewinn. Bereits im nächsten Jahrsoll der Break-Even erreicht werden, also der Punkt, an dem Erlösund Kosten der Produktion gleich hoch sind, sagt VerlagsleiterSchneider.

Kritik an journalistischer Qualität

In der Branche hat der Vorstoß verhaltene Reaktionen ausgelöst. Vor allem, da derZeitungsmarkt in Gießen umkämpft ist. Neben derGießener Zeitung konkurrieren dort zwei traditionsreicheTageszeitungen sowie zwei Anzeigenblätter um Leser undAnzeigenkunden. »Hier wird auf der Billigschiene einAnzeigenblatt produziert. Und das wird dann als Mitmach-Zeitungglorifiziert«, kritisiert Christian Rempel, Herausgeber undChefredakteurder Gießener Allgemeinen. Ist die Gießener Zeitung einepublizistische Konkurrenz? »Nein, da fehlt jede journalistischeQualität und vor allem auch Kontinuität. Es ist dem Zufallüberlassen, ob die Leser über wichtige Themen schreiben odernicht.« Auch bei der Aktualität könne dieMitmach-Zeitung …

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