Usa
Die ausgelagerte Recherche

»Crowdsourcing« lautet derzeit ein Zauberwort im US-Journalismus: Leser beschaffen Informationen oder spenden Geld für investigative Geschichten. Ein neuer Typ des Bürgerjournalismus entsteht.

von Thomas Schuler

Als Mark Felt kurz vor Weihnachten 2008 im Alter von 95 Jahren starb, kam Leonard Downie Jr. ins Grübeln. Der Verstorbene war Amerikas berühmter Deep Throat. Dank seiner anonymen Hinweise hatten Downies Kollegen Bob Woodward und Carl Bernstein Anfang der 70er Jahre illegale Abhörpraktiken des damaligen Präsidenten Richard Nixon enthüllt. Nun fragte sich Downie, ehemals Chefredakteur der Washington Post: »Könnten wir Watergate heute aufdecken?«

Mit »wir« meinte er den amerikanischen Journalismus allgemein. Viel hat sich seit Watergate verändert. Vieles nicht zum Guten. Dass Downie diese Frage dennoch mit Ja beantwortete, begründete er mit der Existenz der Website TalkingPointsMemo.com, kurz: TPM.

Analysen fachkundiger Leser

Der New Yorker Journalist Joshua Micah Marshall hat den Blog im Jahr 2000 gegründet, inzwischen hat er sieben Mitarbeiter. Gelobt wurde TPM für seine Recherchen und Berichte zur fragwürdigen Politik der Bush-Regierung, die acht unliebsame Justizminister in Bundesstaaten feuerte. Ihr Vergehen war, dass sie unabhängig von der Parteilinie der Republikaner agierten.

Regionale Zeitungen berichteten über die einzelnen Vorfälle. Aber es war Marshall, der die Fäden zusammenknüpfte und recherchierte und nicht locker ließ, bis auch nationale Medien aufmerksam wurden und am Ende der Justizminister Alberto Gonzales zurücktreten musste. TPM erhielt dafür 2008 den bedeutenden George Polk Award, der noch nie davor an eine Internetpublikation vergeben worden war.

Die Website lebt davon, dass die Leser (darunter Anwälte, Aktivisten und Geheimdienst-Experten) Hinweise geben und Material beschaffen. Bei den Recherchen über den ehemaligen Justizminister bat Marshall seine Leser, ihm bei der Analyse von tausenden von Dokumenten zu helfen. Das Justizministerium hatte die Dokumente auf öffentlichen Druck hin veröffentlicht. Marshall erstellte online Pakete von je 50 Seiten, und bat seine juristisch fachkundigen Leser, diese Dokumente jeweils zu lesen und auf bestimmte Fragen hin zu analysieren.

Während Zeitungsreporter von der Fülle des Materials schlicht erschlagen wurden, konnte TPM bald neue Details berichten. So wie Bernstein und Woodward durch Deep Throat bei Watergate Zugang hatten zu den Ermittlungen des FBI – das die Einbrecher und ihre Hintermänner befragt hatte –, so hatte Marshall erst durch die Arbeit seiner Leser Zugang zu der Analyse, die er alleine nicht hätte bewältigen können.

Die »flipside« der Geschichte

Was Marshall tat, nennt sich Crowdsourcing. Die größte Zeitungskette der USA, Gannett, die USA Today und 90 weitere Tageszeitungen verlegt, hat ihre Redaktionen bereits 2006 angewiesen, diese Methode verstärkt anzuwenden. Crowdsourcing könne bei investigativen Recherchen wertvolle Hilfe leisten, glaubt Robert Niles, Chefredakteur der Online Journalism Review der Annenberg School of Journalism der University of Southern California. Er schreibt: »Crowdsourcing könnte den Journalismus stärker verändern als alle anderen Entwicklungen, die auf das Internet zurückgehen.«

Das gilt nicht nur für investigative Recherchen. Marc Fisher, ein Reporter der Washington Post, sagt, er versuche in seinem Blog regelmäßig seine Leser einzubinden. Einmal hatte er von einem Ereignis gehört und bat die Leser um mehr Informationen. Fisher betrachtet diese Vorgehensweise als »sehr sinnvoll«, auch wenn sie bei der Post eher unüblich sei.

Das Onlinemagazin Flyp (flypmedia.com), dessen Redaktion in New York sitzt, veröffentlicht regelmäßig Fragen zu laufenden Recherchen. Flyp versteht sich als multimediales Magazin, das die »flipside« – also die andere Seite – einer Geschichte zeigen wolle. Wie bei Wikipedia beruhen Recherchen auf dem Wissen von vielen; aber im Gegensatz zu Wikipedia prüfen Journalisten die Informationen vor der Veröffentlichung. »Wir arbeiten wie herkömmliche Journalisten«, sagt die ehemalige Chefredakteurin von Flyp, Juanita Leon.

Dem Leser glauben

Wer zum Thema Crowdsourcing recherchiert, landet schnell bei Jeff Howe, Jay Rosen und ihrem Projekt Assignment Zero, das sich 2007 in zweifacher Hinsicht mit Crowdsourcing beschäftigte. Ziel war es zum einen, das Phänomen zu ergründen; zum anderen sollte dabei die Methode des Phänomens angewandt werden: Führt ein Aufruf an Leser zu Ergebnissen, die es in ihrer Qualität mit der Arbeit von Journalisten aufnehmen können?

Das Projekt war die Idee von Jay Rosen, Professor für Journalismus an der New York University. Jeff Howe fungierte als Berater. Howe ist Redakteur der Zeitschrift Wired und hat den Begriff »Crowdsourcing« in einem Artikel im Juli 2006 erfunden und später ein Buch darüber geschrieben.

Howe definiert Crowdsourcing als Aufgabe oder Arbeit, die von wenigen bezahlten Mitarbeitern zu vielen unbezahlten Amateuren transferiert wird. Dieses Outsourcing geschehe mittels eines allgemeinen Aufrufs, der üblicherweise via Internet erfolge. Gerade im Journalismus gebe es viele Möglichkeiten dafür, zumindest theoretisch. Unter der Bezeichnung Bürgerjournalismus werden sie von Sendern und Publikationen umgesetzt. Aber bei vielen Anwendungen blieben Umsetzung und Erfolg sehr unterschiedlich, betont Howe. Das ist freundlich ausgedrückt für: Vieles ist ungeprüft und journalistisch fragwürdig.

Andererseits arbeiten gerade auch viele »professionelle« Journalisten handwerklich fragwürdig, geradezu amateurhaft. Sie recherchieren nicht und fragen zu wenig. Viele Journalisten haben ein Problem damit, Leser zu fragen, glaubt Jay Rosen.

Websites verwaist »wie Geisterstädte«

Als das Internet noch in seinen Anfängen steckte, entdeckte Rosen auf der Website der New York Times den Hinweis, der Reporter Matthew L. Wald sei gerade online und beantworte Leserfragen. Wald war auf Luftfahrt spezialisiert. Rosen wollte nun wissen, ob Wald denn irgendwelche Fragen an seine Leser habe? Nein, er frage nicht, er antworte nur, soll Wald geantwortet haben.
Rosen beschrieb die Szene später im Columbia Journalism Review. Journalisten würden meistens so reagieren, weil sie sich als Experten sähen, glaubt Rosen. Er sieht darin ein altes und durch das Internet überaltertes Verständnis von Journalismus. Denn unter den Lesern wären auch viele Experten für bestimmte Themen: Warum also nicht ihr Wissen für Recherchen nutzen?

Rosen und seine Mitarbeiter konzipierten rund 80 Projekte und riefen im Internet dazu auf, Artikel zum Thema Crowdsourcing zu verfassen. Sie hofften auf 250 Freiwillige – nach einer Woche hatten sich bereits 500 gemeldet.

Die Methode schien zu funktionieren. Doch die anfängliche Begeisterung sei schnell abgeklungen, schreibt Howe. Statt nach wenigen Wochen Ergebnisse zu liefern, seien die Websites bald verwaist »wie Geisterstädte«. Das Interesse sei so schnell abgeklungen, wie es geweckt worden war.
Zwar fertigten etliche Mitarbeiter Berichte, dennoch erklären Rosen und Howe das Projekt heute für gescheitert. Das liege daran, dass das Thema Crowdsourcing keine Leidenschaften wecken könne, glaubt Howe. Es sei deshalb das falsche Thema für eine richtige Methode gewesen.

Sechs Tipps

Trotz des Scheiterns habe man gelernt, sagte Jay Rosen und formulierte folgende sechs Punkte, auf die Journalisten beim Befragen von Lesern achten sollten.

  • Technik ist zweitrangig. Man kann eine Facebook-Gruppe gründen oder die Hinweise der Leser als Kommentare eines Blogs sammeln.
  • Wichtig ist, ein gutes Thema zu finden, das Leser beschäftigt.
  • Klare Anweisungen im Aufruf an die Öffentlichkeit geben; nach Fakten fragen; Meinungen sind optional.
  • n Beiträge anerkennen. Wer einen Text schickt, sollte durch eine Namenszeile oder ein Bild als dessen Urheber erkennbar sein.
  • Rückmeldung geben, mindestens schreiben: »Danke für den Beitrag über …«
  • Wer einen Beitrag schickt, sollte erfahren, wie dieser Beitrag in das Recherche-Projekt eingebaut wird beziehungsweise zu welchem Ergebnis er beiträgt.

Robert Niles, der Chef der Online Journalism Review, rät außerdem, nur Beiträge von Lesern ernst zu nehmen, die Namen und Anschrift mitteilen. Diese Daten sollte man verlangen, um ihre Angaben prüfen zu können. Zudem sollte man die Antworten öffentlich machen, damit andere Leser sie checken können. So ließen sich Fehler vermeiden.

Der erste unabhängige Internet-Reporter

Niemand wisse, wie man Journalismus in Zukunft finanzieren könne, sagt Jay Rosen. Man müsse vieles probieren. Das meiste werde vermutlich nicht funktionieren und scheitern, man müsse deshalb viele Boote ins Wasser lassen. Welche Finanzierungsmodelle erfolgversprechend sind, wird derzeit vor dem Hintergrund der US-Zeitungskrise intensiv diskutiert. Befürworter des Crowdsourcing bringen als Finanzierungsmöglichkeit das Crowdfunding in die Debatte ein – die breite Finanzierung durch viele Geldgeber.

Wie das funktioniert, zeigt das Beispiel Christopher Allbritton. Der Journalist hatte bei der Agentur Associated Press (AP) und den New York Daily News gearbeitet, als er 2002 nach Syrien flog und von dort in den Irak reiste. Niemand hatte damals Interesse an seinen Geschichten, also veröffentlichte er sie auf seinem Blog.

Bevor er im Jahr darauf erneut in den Irak reiste, bat er seine Leser um Geld für die Finanzierung seiner Arbeit und sammelte von 342 Lesern mehr als 14.000 US-Dollar. Als Gegenleistung versprach er unabhängigen Journalismus. Dann reiste er nach Kurdistan und schrieb abseits der vom Militär eingebundenen Korrespondenten über den Irakkrieg. Binnen kurzer Zeit verzeichnete er auf www.back-to-iraq.com an einem Tag mehr als 20.000 Zugriffe. Das Magazin Wired nannte ihn damals den »ersten unabhängigen Kriegskorrespondenten des Internet«.

Handwerkliche Standards setzen

Die Onlinezeitung Globalpost.com, die im Januar 2009 startete, setzt ebenfalls auf die Kombination von Crowdsourcing und Crowdfunding. Die Zeitung beschäftigt weltweit freie Korrespondenten, die unter anderem auch für namhafte Publikationen wie Newsweek arbeiten. Globalpost.com beteiligt ihre Leser allerdings nicht an der Recherche, jedoch bei der Themenfindung. Wer 199 US-Dollar für ein Jahres-Abonnement zahlt, darf mitbestimmen, welche Themen die Korrespondenten recherchieren. Die letzte Entscheidung liegt freilich bei der Redaktion.

Seit März experimentiert auch die New York Times mit Crowdsourcing-Elementen und versucht, handwerkliche Standards zu setzen. Das kann bedeuten, dass es nun allgemein akzeptiert ist, Leser einzubinden und zu befragen. Früher lehnte die Times diese Praxis als PR ab. Nun ruft sie Leser in zwei Blogs in Brooklyn und New Jersey auf, Fragen zu stellen, die dann alle Leser gemeinsam lösen sollen. Jeder Blog wird von einem Reporter und je drei Praktikanten betrieben. Die Redaktion schaltet sich dazwischen und fungiert als Moderator.

Allerdings will die Times vor allem Fragen von den Lesern, und deren Antworten nicht ungeprüft stehen lassen – ein wichtiger Unterschied. »Ich habe den ganzen Tag Zeit, um mit Hilfe meines Presseausweises Antworten auf eure Fragen zu finden«, versichert Reporterin Tina Kelley ihren Lesern. Mit den Bürgerwebsites wolle man Leser erreichen, ohne den journalistischen Anspruch aufzugeben. Im Erfolgsfall will die Times das Konzept auf andere Orte ausdehnen.

Versteckte Einflussnahme?

David Cohn, ein Mitarbeiter von Jay Rosen und Jeff Howe, bittet auf seiner Website Spot.us Leser um Spenden und um Hinweise in der Region San Francisco. Cohn und seine Mitstreiter wollen mit Hilfe vieler Kleinspenden Recherchen fördern. Ihre Geschichten bieten sie Zeitungen anschließend kostenlos an. Damit Cohn seine Idee umsetzen konnte, hatte ihm die Knight-Stiftung 340.000 Dollar zur Verfügung gestellt.

Sind solche Modelle anfällig für versteckte Einflussnahme und Manipulation? Verkaufen Publikationen wie Spot.us und Globalpost.com ihr wichtigstes Kapital: redaktionelle Kontrolle und Unabhängigkeit? Die Verantwortlichen sagen Nein und verweisen auf Mechanismen, die Lobbyeinfluss verhindern sollen: Sie behaupten, sie würden nur geringe Einzelbeträge akzeptieren, um den Einfluss des Einzelnen gering zu halten. So darf zum Beispiel bei Spot.us jeder Spender nur 20 Prozent einer Idee finanzieren. Trotzdem erhielt David Cohn 2.500 Dollar, um die Wahlkampfversprechungen von Kandidaten in San Francisco zu prüfen

Bei allen Modellen – ob öffentlicher Rundfunk, kommerzielle Presse oder private Stiftungen – hängt letztlich viel von der journalistischen Ausbildung, dem persönlichen Charakter und der Haltung des Einzelnen ab, ob und wie Interessenkonflikte vermieden werden können.

QuellenCohn, David: Creating a New Platform to Support Reporting. In: Nieman Reports, Winter 2008
Fisher, Marc: Zeitung in der Todesspirale, sueddeutsche.de, 12.2.2009
Garber, Megan: Johnny Jones 2.0. Columbia Journalism Review, 14.1.2009
Howe, Jeff: The Rise of Crowdsourcing. Wired, Juni 2006
Howe, Jeff: Gannett to Crowdsource News. www.wired.com, 11.3.2006
Howe, Jeff: Crowdsourcing. New York 2008.
Howe, Jeff: The Wisdom of the Crowd Resides in How the Crowd Is Used. In: Nieman Reports, Winter 2008
Niles, Robert: A journalist’s guide to crowdsourcing. In: Online Journalism Review, 31.7.2007

Rosen, Jay: Interview mit Cafebabel.com, 20.11.2007

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